Schule des Rades
Dago Vlasits
Zwischen gezweitem Bewusstsein und mystischer Einheit
Wissen und Nichtwissen
Philosophisches Fragen kann von verschiedenen Problemstellungen ausgehen — Was ist der Mensch, was ist die Welt, was ist Gott? Was ist der Sinn des Lebens und des Todes? Wie werde ich glücklich, wie erkenne ich die Wahrheit, wie soll ich leben?
Im Grunde gibt es so viele Fragestellungen wie es Menschen gibt, denn jeder fragt aus seinem je besonderen Dasein, seinem Glück oder Unglück heraus. Bei manchen bringt solches Fragen komplette Welterklärungsysteme hervor, bei anderen, da man die Antworten ja nicht gleich parat hat, mag solches Fragen schnell verstummen. Man begnügt sich dann mit kurzatmigen Antworten oder der Einsicht, dass solches Fragen hoffnungslos ist und nichts mit Gewissheit erkannt werden kann. Doch jedem wahrhaftigen philosophischen Fragen erschließt sich sehr wohl etwas Gewisses, nämlich in der schlichten Urunterscheidung von dem, was begriffen wird, und dem, was sich dem Begreifen entzieht, also Nichtwissen und Wissen. Mit singulär und allgemein, numinos und phänomenal haben wir schon ähnliche Begriffspaare gefunden, welche zwar begrifflich anders gestaltet sind, doch den gleichen Sinn tragen. Dabei erschließt sich diese erste wahre Unterscheidung weniger im Antworten als bereits im Fragen selbst. Jede philosophische Unterscheidung hat eine Frage als Grund, doch unabhängig davon, welche Antwort man zu fassen kriegt, die Frage geht eben immer schon vom Unbegriffenen aus, und hinter jeder begrifflich gefassten Antwort bleibt ein unfassbarer Hintergrund immer bestehen. Nicht im sprachlichen Vorpreschen, sondern im wortlosen Innehalten werde ich dieser ersten wahrhaftigen Unterscheidung fähig, und sehe die Inseln des Wissens im Meer des Nichtwissens.
Die Einsicht ins Nichtwissen kann allerdings zu verschiedenen Haltungen führen, die jedoch nicht einer objektiven Erkenntnis entspringen, sondern einer subjektiven Entscheidung. Da ist einmal die Einsicht in das momentane persönliche Nichtwissen, das Fehlen einer Antwort auf etwas, das prinzipiell gewusst werden kann, und von anderen Menschen auch tatsächlich gewusst wird. Dieses Nichtwissen kann zum Lernen anregen, oder sich mit Unkenntnis zufrieden geben. Es gibt aber auch eine Einsicht ins Nichtwissen, die durch ein tieferes und kraftvolleres Fragen gewonnen wird, die Einsicht in die prinzipiellen Erkenntnisgrenzen des Denkens, wie sie in einer überpersönlichen Weise etwa die Quantenphysik oder das Gödelsche Unvollständigkeits-Theorem zeigen. Durch die Einsicht in dieses Nichtwissen kann man in die Haltung des Ignorabimus einer grundsätzlichen Erkenntisskepsis geraten, die da meint, dass wir niemals wissen können. Und schließlich ist da die sokratische Haltung, in welcher das Nichtwissen als Voraussetzung der Offenbarung der Wahrheit verstanden wird. Nichtwissen in diesem höchsten Sinn ist dann das Gewahrseins des namenlosen Grundes. Diese Haltung charakterisiert den Menschen, der im Ich lebt, in der Helle des Bewusstseins, der sich jedoch auch in einem größeren Selbst verwurzelt weiß, gründend in einem Dunkel, welches das Ich mit seinem Wissen niemals ergründen kann, aus dem jedoch das Ich jeden Augenblick geboren und erschaffen wird.
Wenn wir noch einmal unsere Metapher von der Insel im Meer bemühen, so gleicht der Mensch der ersten Haltung jemandem, der noch nicht einmal bis zum Strand seiner Insel vorgedrungen ist. Der Mensch der zweiten Haltung steht am Strand seiner Insel und hat Angst, sich die Füße naß zu machen oder gar zu ertrinken. Er blickt in ein Bodenloses, Grenzen- und Namenloses, und meint, dass da nichts wäre, was für ihn Sinn ergibt. Der Mensch der dritten Haltung schließlich wird des innigen Zusammenhangs von Insel und Meer gewahr. Er weiß, dass es die Insel ohne Meer überhaupt nicht gäbe, dass das Meer die Insel formt und gestaltet, ihr Leben ernährt und voller Überraschungen steckt, die für ihn niemals voraussehbar sind. Keines seiner Gefäße kann dieses Meer fassen und enthalten, doch er weiß seine Insel von diesem Meer umfasst und erhalten.
Selbst wenn man nun zu dieser dritten, offenen Haltung gegenüber dem Nichtwissen gelangt ist, ist noch nicht alles gewonnen. Wie lässt sich aus einem solchen Anfangsgrund philosophieren, und zwar so, dass sich daraus Erkenntnisse für die Orientierung und Gestaltung des menschlichen Lebens ergeben? Zwei Fragen gilt es dabei zu klären: Was ist die Natur des Erkenntisaktes, der mir eben solche Unterscheidungen wie Wissen und Nichtwissen, singulär und allgemein liefert, und zweitens, ob denn solche Begriffe wie Nichtwissen/Wissen, oder singulär/allgemein philosophisch brauchbar sind, oder ob wir nicht andere finden müssen. Nämlich solche die sich besser dazu eignen, ein ganzheitliches Bild der Grundsituation des Menschen zu entwickeln, welches ihm Sinn und Orientierung liefern kann. Wir werden sehen, dass beide Fragen auf eine Antwort hinauslaufen, dass nämlich die Erkenntismethode als auch die begrifflichen Substanzen, mit denen wir zu operieren haben, von mathematischer Natur sein müssen. Und endlich gilt es zu realisieren, dass die auf diesem Weg gewonnen arithmetischen und geometrischen Größen nicht bloß letzte, denkerische Abstraktionen sind, sondern die eigentliche Substanz aller wirkenden Kraft und realen Form.