Schule des Rades

Dago Vlasits

Zur Orientierung in der globalen Kultur

Objektive Naturwissenschaft…

Die Erforschung der materiellen Grundlagen unserer Existenz ist bekanntlich das Geschäft der Naturwissenschaften. In dieser modernen Wissenschaftstradition herrscht auf Grund des Objektivitätsideals eine weltweite Einigkeit, wie sie auf philosophisch-weltanschaulichem Gebiet noch nicht erreicht ist. Dass dies noch immer nicht der Fall ist, ja dass Bestrebungen dieser Art als naiv, wenn nicht gar als gefährlicher totalitärer Wahn erachtet werden, ist aber in erster Linie gerade den modernen Wissenschaften zu verdanken. Einerseits maßen sich diese eine Autorität an, die keine anderen Wege der Erkenntnis gelten lässt, und wo andererseits die rationale Wissenschaftskritik diese Hybris brandmarkt und den bloß relativen Wert der wissenschaftlichen Methode erkennt, bricht sie der Beliebigkeit der Meinungen Bahn, frei nach dem Motto anything goes. Doch sowohl der wissenschaftliche Dogmatismus, als auch die zynische Absage an eine umfassende Wahrheit seitens der Wissenschafts- und Ideologiekritik sind vermeidbare Sackgassen. Wenn man die grundlegende Entscheidung trifft, dass es eben einen Sinn gibt und man ihn suchen oder schaffen will — und dass es ihn gibt, davon überzeugt mich schon die Möglichkeit seines Fehlens — dann liefern die naturwissenschaftlichen Erkenntisse einen unverzichtbaren Beitrag für die Schaffung eines Weges der Sinnfindung, der allgemeine Gültigkeit hat und den gesuchten minimalen Grundkonsens auf philosophischem Gebiet gewährleistet.

Natürlich zwingen uns die Naturwissenschaften als solche nicht zu der Auffassung, dass dieser Kosmos einen Sinn für das persönliche Leben bereithält, doch genauso wenig dazu, alles als sinnlos zu sehen. Wenn etwa ein Physik-Nobelpreisträger wie Steven Weinberg meint, je mehr wir vom Universum wüßten, desto sinnloser erscheint es uns, so ist das seine private Meinung, zu der er sich entschieden hat. Denn tatsächlich ist kein zwingender logischer Schluss des Denkens, sondern eine Entscheidung des Wollens die notwendige Voraussetzung, um das All als sinnvoll oder sinnlos zu erleben. Ja, der Entscheidungsakt selbst ist das Entscheidende, mit ihm kommt das Subjekt ins Spiel, das Gewahrseinssubjekt, das in seiner Leere der freien Wahl fähig ist. Dieses Wollen und Intendieren des Sinnes ist nicht nur der Wechsel zu einer neuen, umfassenderen Prämisse und Voraussetzung, um ganzheitlich zu denken, sondern ist zuallererst der Wechsel vom Denken zum Wollen und somit bereits der Wechsel von der Gespaltenheit zur Teilhabe an der allbindenden, alldurchdringenden Kraft, dem einenden Sinn.

Die Wissenschaft hat sich aber entschieden, nicht nach dem Sinn zu fragen. Sie fragt bloß nach der objektiven Beschaffenheit der Dinge, und nicht danach, wie diese Kenntnisse zur persönlichen Sinnfindung beitragen können. Was aber die Untersuchung der objektiven Natur der Dinge betrifft, so gibt es kein besseres Verfahren und höhere Autorität, als eben die wissenschaftliche Methode. Indem sie sich auf das den (technisch verstärkten) Sinnen Gegebene beschränkt, und ihre Theorien an diese Sinnesdaten anpasst, artikuliert sie eine intersubjektive Wahrheit, die letztlich als eine von allen Menschen wahrnehmbare, gemeinsame Wirklichkeit anerkannt wird.

Eine solche Basis ist aber auch für die Schaffung eines minimalen, weltanschaulichen Grundkonsenses notwendig. So wie wir uns heute bewusst werden müssen, dass es nur eine einzige Atmosphäre gibt, in welcher die ganze Menschheit atmet, so müssen wir uns einer gemeinsamen rationalen Ebene bewusst werden, auf welcher sich der Dialog zwischen Menschen vollziehen kann. Alle Positionen, die diese Ebene nicht reflektieren, geraten entweder zur totalitären Ideologie, oder müssen sich zumindest bezüglich ihrer epistemologischen Grundlagen den Vorwurf des Solipsismus gefallen lassen. Auf einem solchen beruht schließlich auch das Bekenntnis zum Pluralismus, insofern er nicht explizit nach den gemeinsamen Nennern der Vielfalt fragt. Immerhin ist aber die pluralistische Position von immensem pragmatischen Wert, da dieses Dogma gegen jeglichen fundamentalistischen Fanatismus immunisiert.

Wenn wir uns aber nun für Körper und Materie als den allen gemeinsamen Grund entscheiden, so müssen wir das Wissen der Naturwissenschaften als die Botschaft der Materie, als Weisheit der Erde deuten. Diese Weisheit ist es, die dem Menschen seine Rolle im Kosmos, seinen Sinn und seine Bedeutung erschließen kann. Um dies zu erreichen, sind die wissenschaftlichen Fakten in einen neuen Kontext zu stellen: das subjektive Sein, welches in die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge nicht eingeht, sondern explizite ausgeklammert wird, muss als Ursprung und integrierende Mitte des erscheinenden Kosmos realisiert werden. Es gipfelt in der Erkenntnis, dass das Subjekt des Einzelnen mit dem göttlichen Allsubjekt in Eines fällt. Der Weg der heute gebahnt werden muss, hat einen seiner historischen Vorläufer in der europäischen Hermetik, die jüngst etwa von Ralf Liedtke (Die Hermetik — Traditionelle Philosophie der Differenz 1996) wieder in Erinnerung gerufen wurde, als die andere Art des europäischen Philosophierens, nämlich jene, die nicht sosehr das monolithische, widerspruchslose Sein sucht, sondern die aus den allgegenwärtigen Differenzen resultierende Spannung und Dynamik des Werdens bejaht. Denn für den Hermetiker ist die Welt der werdende Gott, Gott ist das Allsubjekt der Natur, an welchem der Mensch teilhat.

Der Schritt, im Subjekt, im eigenen Inneren das Wesen und die Ursache der Realität zu finden, ist Kennzeichen jedes mystischen Weges. Auch die Hermetik geht von dieser Mitte aus, doch verliert sie dabei die äußere Welt nicht aus den Augen und entwertet sie nicht zur Illusion — jene Welt, die das Alltagsbewusstsein wie auch das wissenschaftliche Bewusstsein in Form der vielen, voneinander getrennten Objekte erfährt. Teilweise müssen wir dem Mystiker recht geben, wir leben tatsächlich in der Illusion von maya oder samsara, wenn wir das Eine zersplittert in eine Vielheit wahrnehmen. Doch in der Illusion leben wir nur dann, wenn wir ihren Zusammenhang nicht erkennen, wenn wir den Zusammenhang der Dinge untereinander und mit ihrem Ursprung nicht sehen. Dieser Zusammenhang geht über die Kausalitätsbeziehungen hinaus, sie sind nur ein unvollständiger Ausdruck der Einheit in der Vielheit. Selbst im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung wurde klar, dass durch lineare Kausalität allein sich die Dinge dieser Welt nicht zur Einheit fügen, was schließlich zur Anerkennung akausaler Zusammenhänge und holistischer Theorien geführt hat.

Heute schickt sich die Physik zudem an, eine allumfassende Theorie, eine Weltformel, die theory of everything zu formulieren. Doch was auf philosophischem Gebiet notwendig ist, ist nicht bloß ein Konzept, welches die formale Einung von Relativitätstheorie und Quantentheorie, bzw. die Vereinheitlichung der vier physikalischen Kräfte zur Ganzheit einer fundamentalen Urkraft gewährleistet, nicht bloß ein Konzept, das auf Basis von 10 Dimensionen die Teilchenvielfalt in unserer vierdimensionalen Welt als Schwingungen eines Superstrings erklärt. Was auf philosophischem Gebiet erreicht werden muss, ist eine Konzeption, welche Naturwissenschaft und Religion vereint, uns also letztlich vermittelt, dass es nur ein einziges Wissen gibt. Dieses Wissen ist das Wissen über den universellen Code. Mittels diesem kann ein qualitatives Verständnis der wissenschaftlichen Daten erleichtert, aber vor allem ihre Bedeutung für das subjektive Leben erfasst werden. Das auf diesen Code geeichte naturwissenschaftliche Wissen über Raum, Zeit und die Dinge darin kann dann als Mittel der Sinnfindung und Lebensgestaltung wirksam werden.

Bei einem solchen philosophischen Weg liegt nun der Akzent nicht sosehr auf dem Erreichen des einmaligen, großen Durchbruchs in der Erleuchtung, sondern in der Erfahrung der kosmischen Fügungen, aus denen der Mensch seinen Sinn und sein Leben erschafft. Der Mystiker ist ganz in die Schau und Erfahrung des einenden, alle Differenzen verschmelzenden Ur-Feuers vertieft. Doch dieses Feuer wirkt auch in der Vielfalt der Differenzen, als Kraft des synchronistischen Zusammenhangs. In der Teilhabe an dieser Kraft, die die alleinende, alldurchdringende Kraft des Sinnes ist, werden auch die singulären, einzigartigen Ereignisse und Erlebnisse eines Menschen als Teil einer dynamischen, werdenden Ganzheit und wunderbaren Ordnung erfahren.

Dago Vlasits
Zur Orientierung in der globalen Kultur · 2000
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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