Schule des Rades

Dago Vlasits

Zur Orientierung in der globalen Kultur

Radpraxis

Der hermetische Entwicklungsstrang der europäischen Geistesgeschichte bildete immer so etwas wie einen linken Weg, der zumeist im Untergrund verlief. Dieser Ansatz muss heute wieder ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit rücken, denn in ihm ist die ganzheitliche Intention der vorsokratischen Naturphilosophie bewahrt geblieben, was von der modernen Naturwissenschaft nicht gesagt werden kann. Letztere erfüllt zwar den Auftrag der Vorsokratiker, die Wahrheit in den beiden Dimensionen Empirie und Rationalität zu suchen, doch für die ersten Philosophen waren noch zwei weitere Dimensionen Realität. Aus genügend großer historischer Distanz lässt sich zusammenfassen, dass die vorsokratische Philosophie, bzw. die von ihr inspirierte Hermetik nicht nur vom Empfinden und vom Denken ausgingen — also von den beiden Bewusstseinsfunktionen, die der Empirie und der Rationalität zugrundeliegen — sondern auch das Wollen und das Fühlen berücksichtigten, also die Funktionen, die die Erfahrung des göttlichen Subjekts und der subjektiven Motive bedingen. Ohne der Integration dieser beiden unbewussten Funktionen gibt es keine Vollendung der Erkenntnis.

Durch die Beschränkung auf positive Daten und logische Verknüpfungen kann die moderne Naturwissenschaft nicht Träger der ganzheitlichen Intention sein, wie sie in der Hermetik immer lebendig blieb, nämlich dem Prozess der Menschwerdung und der Gotteserkenntnis zu dienen. Gott gerät im Kosmos der Naturwissenschafter in immer größere Wohnungsnot und das Subjektive wird als etwas Störendes und Uneigentliches verdrängt. Hingegen bekennt der Hermetiker, dass Gott die Natur ist, und das Werden der Natur wird einerseits als die Menschwerdung Gottes, andererseits als die Vergottung des Menschen verstanden. Diesem Prozess, und nicht der strategischen Beherrschung der Natur gilt das Interesse des Hermetikers.

Nur in den Naturwissenschaften gingen also innere Rationalität und äußere Empirie eine erfolgreiche Verbindung ein, für die europäische Philosophie blieb zumeist das Innere und das Äußere ein Gegensatz, welchen man durch die verschiedenen Spielarten des Idealismus zu überwinden suchte. Verwirft man den idealistischen Ausweg, hat man scheinbar nur die Wahl, rationalistisch zu sein bis zum äußersten Subjektivismus, oder empiristisch bis zur völligen Preisgabe des Subjekts. Wie wir gesehen haben, löst das auf dem Rad beruhende Denken und die Hermetik das Problem auf andere Weise, eben durch die Erkenntnis der Identitität in der Differenz, logisch ein scheinbar paradoxes Unterfangen, was aber auf Grundlage der Zahl möglich ist. Die hermetische Zahl ist nicht das wiederzuerinnernde Ideal, nicht die ideale Welt als eigentliche Realität, von welcher die sinnliche Wirklichkeit ein bloßer Abglanz ist, sondern der Zugang zur Seinsidentität. Innen und Außen sind nicht das gleiche, doch die möglichen Fältigkeiten im Innen und Außen sind identisch, die identische Fältigkeit in der objektiven Erscheinung wie im vorstellenden Subjekt bindet beide an den gleichen Sinnzusammenhang. Letztlich offenbart sich erst in der Vereinigung von objektiver Gestalt und subjektivem Auffassungsvermögen, von objektivem Ereignis und subjektiver Erwartung das vollständige Sein.

Dass alle Polarität eine geschlossene Ganzheit bildet, in welcher erst der Sinn aufgeht, ist also die Grundüberzeugung des Hermetiker. Bei dieser Einstellung kann es daher auch bezüglich der Lebensweise keine Wahl zwischen einer aktiven, weltzugewandten und eine kontemplativen, weltabgewandten Einstellung geben. Dies gilt natürlich nicht nur für den mittelalterlichen Hermetiker, sondern auch für den heutigen Menschen, den Menschen der Wassermannzeit — wie durch das Rad die gegenwärtige historische Epoche bezeichnet wird. Ein Leben der Übung, das auf eine letzte Befreiung oder Erleuchtung zielt, ist dem Menschen dieses Zeitalters kein gangbarer Weg in einer Welt, die charakterisiert ist durch vom Menschen verursachte Umweltprobleme und durch eine Informationstechnologie, die ihn einerseits von der Fron befreit, andererseits in einer neuen Weise zu versklaven droht. Der Mensch der Wassermannzeit begreift sich als Mitarbeiter der Evolution, der zwischen Chaos und Kosmos, von Augenblick zu Augenblick sein Leben und seinen Sinn erschafft. Er bedarf eines Werkzeugs, um seine Erfahrungen zu integrieren und seine Visionen zu gestalten.

Dieses Werkzeug ist das Rad, als Veranschaulichung der menschlichen Gewahrseinsstruktur und als das Bild der Anfangsgründe des erscheinenden Kosmos. Da es von mathematischer Natur ist, ist es jenseits der sprachlich fixierten Mythen und religiösen Bekenntnisse, jedoch keines davon ausschließend, sondern alle an ihren richtigen Platz verweisend. Das Rad kann nicht fanatisch verfochten, sondern nur vom Einzelnen eingesehen werden. Es befreit einen vom Absolutheitsanspruch der Traditionen, und zugleich klärt und zeigt es deren ewigen, menschheitsbedeutenden Sinn. Die Menschheitsgeschichte von der Klan-, Stammes-, Stadt-, Volks-, Reichskultur bis zur heutigen globalen Kultur als auch der Entwicklungsweg des Einzelnen zu Freiheit und Kreativität lassen sich durch die implizite Systemik bestimmter Radkomponenten verstehen.

Das Raddenken ist ein Denken, das der Mathematik folgt, doch gleicht diese Mathematik jener der Musik. Sich in diese Mathematik zu vertiefen, bedeutet ein Erwachen zur Freiheit. In keiner Weise geht es hier darum, ein besserer Rechner zu werden, sondern um den Einklang mit den Kraftlinien des Raumes und den Rhythmen der Zeit. Diese Raum- und Zeitgestalten aber, von denen hier die Rede ist, meinen in ihrer höchsten Bedeutung die 8 heiligen Richtungen des Raumes, wie sie die schamanische Auffassung kennt, und den 12-fältigen Tierkreis der Zeit mit seinen Stern- und Planetenrhythmen.

Der Zahlbegriff, der dem Raddenken zugrunde liegt, ist ein völlig anderer, als in der Mathematik als einer Formalwissenschaft. So werden etwa die vier Welten der ganzen, der rationalen, der reellen und der komplexen Zahlen als die vier Bewusstseinsstufen des Wachens, der Reflexion, des Traumes und des Schlafes betrachtet. Die Ziffern, die Ur-Intuitionen oder Ur-Chiffren des Sinnes, nehmen in den vier Dimensionen oder Bewusstseinsstufen unterschiedliche Bedeutungen an, zeigen vier unterschiedliche Gebiete der Arbeit an sich und an der Welt, was an dieser Stelle kurz umrissen sein soll.

Für das wache Verhalten und Handeln liefern die neun Zahlen den ganzheitlichen Raster der Handlungsmotive und Beweggründe. Es sind die neun Planeten der Astrologie als Motive, deren Meisterung dann beginnt, wenn sie überhaupt einmal bewusst, und nicht als das Böse verleugnet, abgespalten oder übertragen werden. Sodann muss jedes Motiv mit der entsprechenden Intention gepaart werden; also etwa das ängstlich nach Kontrolle strebende Machtmotiv mit der Intention der Verantwortung zusammengehen, oder etwa das vereinzelnde Motiv der Eifersucht mit der Intention des Integrierens und Heilens. Hier die Planeten und Motivationen/Intentionen in ihrer Reihung, wie sie sich durch das Eneagramm ergebe, einem integralen Bestandteil des Rades:

J U P I T E R Jupiter - Eifersucht / heilen
V E N U S Venus - Eitelkeit / gestalten
U R A N U S Uranus - Ehrgeiz (Neugier) / erkennen
M O N D Mond - Gier / wünschen
M E R K U R Merkur - Habsucht / unternehmen
N E P T U N Neptun - Neid / kommunizieren
M A R S Mars - Aggression / kämpfen
S A T U R N Saturn - Macht (Angst) / verantworten
P L U T O Pluto - Ruhmsucht / entwerfen (erfinden)

Für die Welt der sprachlichen Reflexion und kognitiven Entwicklung zeigen die bereits erwähnten grammatikalischen Kategorien den Raster für 9 Kategorien des Verstehens und Sprechens — anschauen, begreifen, lernen, vorstellen, urteilen, besprechen, fragen, erklären, planen.

Für das traumhafte Fühlen und dessen Entwicklung, die über Krisen verläuft, sind die neun Zahlen neun Stufen der Identitätsentfaltung — Grundvertrauen, Anpassung, Inbild, Ich-Strategien, Berufsnorm, wertender Einsatz, Individuation, Mantik, Mystik.

Und für das spirituelle und rituelle Leben eröffnet der Sacred Count der Zehn, wie er aus der nordamerikanischen Überlieferung bekannt ist, den Zugang zu den heiligen Mächten des Raumes, die uns tragen und inspirieren — Feuer, Pflanze, Tier, Mensch, Ahnen, Elementargeister, Engel, Musen, Mensch im All. Doch diese Dimension ist nur dem Wollen hinter dem Tiefschlaf zugänglich.

Schließlich ist im Rad eine Kosmogonie impliziert, deren zentrierendes Vermögen uns in Stand setzt, das naturwissenschaftliche Wissen über den Kosmos so zu assimilieren, dass unser Geist für die transzendente Realität offen wird und wir dabei gleichzeitig unseren Platz im Reigen des immanenten Kosmos begreifen können. Durch das Rad betrachtet, erscheint der materielle Kosmos unter dem Signum der Vier, genauso wie in der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und der Chaostheorie — vier Dimensionen, vier Kräfte, vier Attraktoren.

Hierbei werden

  • die 4 Entitäten des Makrokosmos —
    • Galaxie (F I S C H E Fisch),
    • Sonne (S C H Ü T Z E Schütze),
    • Erde (J U N G F R A U Jungfrau) und
    • Mond (Z W I L L I N G E Zwilling)
  • die vier Entitäten des Mikrokosmos —
    • Photon (W A S S E R M A N N Wassermann),
    • Elektron/Proton (S K O R P I O N Skorpion),
    • Atom (L Ö W E Löwe) und
    • Molekül (S T I E R Stier)
  • und die vier Entitäten des Mesokosmos —
    • Kristall/DNS (W I D D E R Widder),
    • Pflanze (K R E B S Krebs),
    • Tier (W A A G E Waage) und
    • Mensch (S T E I N B O C K Steinbock)

als der Rahmen der Entfaltung verstanden, für das All wie für den Einzelnen.

Der höchste kosmische Sinn des Lebens erschließt sich dem Menschen, wenn er sein Leben als Mitarbeit am Werk der Erde begreift. Es ist die Teilhabe an der Mehrung von Schönheit, Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit, also die Mitarbeit an der Gestaltung der Empfindungswelt, am Erkenntnisfortschritt, an der Befriedung der Emotionalität und an der Befreiung des Menschen. Um dieses — zu allen Zeiten — sinnvolle Leben unter den heutigen Bedingungen zu erreichen, scheint mir das Rad das philosophische Mittel zu sein.

Inwieweit wappnet es uns für die Informationsgesellschaft? Der wachsenden Informationsflut, die auf uns einströmt, muss man mit Verstehen gegenübertreten, welches immer eine Exformation ist. Der Begriff wurde von T. Nørretranders geprägt und meint im wesentlichen Sinngewinnung durch Vernichtung von Information. Das Maßgebende bei diesem exformativen Prozess aber ist das Rad, welches die Information auf den wesentlichen Sinn reduziert.

Doch das Rad ist nicht nur ein Mittel, um mit dem wachsenden Informationsmüll in der elektronischen Landschaft fertig zu werden. Sein besonderes Verständnis des Raumes — ein Verständnis, das dem der schamanischen Kulturen gleicht — gibt uns spirituelle Orientierung, hilft uns unseren persönlichen Lebenssinn, unsere besondere Vision der Lebensaufgabe zu empfangen und immer wieder zu erneuern. Dies geschieht in der Öffnung gegenüber den Raummächten in den auf dem Rad basierenden Riten des Erdheiligtums.

Wie steht es mit dem drohenden Identitäts- und Beziehungsverlust, vor dem angesichts der neuen Entwicklungen vielfach gewarnt wird? Dem kann in der globalen Zivilisation nicht die Rückbesinnung auf die Zugehörigkeit zu einer Nation oder Glaubens­gemeinschaft abhelfen. Dieser Gefahr muss die Freundschaft entgegenstehen, die immer Bestätigung und Förderung des Anderen in seiner Besonderheit zum Ziel hat. Der Einzelne muss als Gleicher unter Gleichen gesehen werden, der eingebunden ist in die natürlichen und zivilisatorischen Netzwerke wie alle seine Mitmenschen, doch in seiner Kreativität wiederum muss er als der ganz Andere und Einzigartige anerkannt sein. Die Astrologie des Rades zeigt uns, wie jeder aus den gleichen Elementen gefügt ist, gleichzeitig zeigt es die einzigartige Anlage jedes Individuums im Horoskop. Astrologie hilft uns, die höchste Möglichkeit, die potentielle Meisterschaft im anderen zu sehen. Nicht zuletzt fördert die Kenntnis der astrologischen Komponenten die freundliche, freundschaftliche Einstellung, als wir durch diese Kenntnisse leichter auch die Schwächen der anderen akzeptieren können, in dem wir im anderen die gleichen Leidenschaften und Laster erkennen, die auch uns bewegen und hemmen.

Arbeit mit dem Rad bedeutet, Zeit und Raum zu heiligen. Der Mensch der Wassermannzeit heiligt die Zeit, indem er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als subjektive Zeit erlebt, und zwar im 12-fältigen Tierkreis als vier Weisen des Habens, vier Weisen des Sein und vier Weisen des Werdens. Besitz S T I E R, Potenz L Ö W E, Kraft S K O R P I O N und Struktur W A S S E R M A N N sind sein körperliches Haben. Als Einzelperson W I D D E R, in der Gemeinschaft W A A G E, in der Familie K R E B S und im Staat S T E I N B O C K lebt er sein seelisches Sein. Im Lernen Z W I L L I N G E, in der Arbeit J U N G F R A U, in der Inspiration S C H Ü T Z E und im Streben nach Vollendung F I S C H E vollzieht sich sein geistiges Werden. Die zwölf Monate des Jahres mit ihren Erfordernissen und Gelegenheiten sind das Feld der Integration dieser zwölf Gebiete.

Und der Mensch der Wassermannzeit heiligt den Raum, indem er sich in freier Natur in einen achtfältigen Steinkreis stellt, um den acht Richtungen des Raumes und dessen Mitte als Wesen zu begegnen. Er versteht diese Wesen als die Mächte die unsere Welt erschaffen und erhalten und öffnet sich ihnen, um von ihnen die Visionen zu empfangen, die er in der Zeit verwirklichen kann. Der Ritus im heiligen Steinkreis, im Erdheiligtum ist aber keine einsame Meditation. Es ist ein Fest, wo sich alle auf einer gemeinsamen Ebene begegnen, dem heiligen Grund der Erde.

Dago Vlasits
Zur Orientierung in der globalen Kultur · 2000
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD