Schule des Rades
Dago Vlasits
Vom Sinn der Zahl - Teil II
Selbstähnlichkeit
Mit dem deterministischen Chaos wurde eine neue Art der Regularität und Dauer in Zeit und Raum erkannt, das Prinzip der Selbstähnlichkeit oder Skaleninvarianz. Die rekursive Dynamik eines chaotischen Systems reproduziert dessen Struktur nicht dauernd in gleicher Weise wie der Grenzzyklus, sondern nichts wird tatsächlich wiederholt, was erscheint, ist dem Vorhergehenden nur ähnlich. Diese besondere Art der Wiederholung findet noch eine andere Art von Ausdruck, was durch den Begriff der Skaleninvarianz charakterisiert wird und den räumlichen Aspekt der Symmetrieeigenschaft Selbstähnlichkeit
hervorhebt. Ein chaotischer Attraktor reproduziert in selbstähnlicher Weise seine Strukturen und Muster auf verschiedenen Größenskalen. Im Kleinen wie im Großen erzeugt ein Wesen, welches dem Chaos gegenüber offen ist, seine Muster und Signaturen. Als Beispiel sei noch einmal vom Wetter die Rede, einem typischen chaotischen System, dessen Dynamik durch den Lorenz-Attraktor abgebildet wird. Selbstähnlichkeit können wir im Lauf der Jahreszeiten beobachten, kein Winter gleicht einem anderen, wenngleich wir sie als Winter wiedererkennen. Und die skaleninvariante Wiederholung eines Musters können wir beispielsweise im Vergleich eines kleinen Luftwirbels der dürres Laub hochwirbelt, mit einem Tornado der ein Land verwüstet, entdecken.
Skaleninvarianz bedeutet für den Menschen Authentizität und Verwirklichung des eigenen Stils in den verschiedenen Lebensbereichen. Als dynamischer Prozess bedeutet es, nicht einer statischen Identität im Sinne eines Ich-Bildes verhaftet zu sein, (was einer Fixierung im Grenzzyklus entsprechen würde) sondern von Schritt zu Schritt Variationen des eigenen Wesens auf den verschiedenen Handlungs- und Gestaltungsebenen zu erschaffen. Es ist die Überwindung der Antinomie von gleichbleibender Identität und dauernder Wandlung und ist das Wesen schöpferischen Handelns. Diese vierte Art zu existieren — das Leben auf einem chaotischen Attraktor — ist dauernde Selbsterschaffung und Selbstorganisation, welche sich in der immer wieder vollzogenen Vereinigung von determinierter Wirklichkeit und ersehnter Möglichkeit ergibt.
Selbstähnlichkeit ist also eine Form von Stabilität und Dauer, die durch Destabilisierung und ähnlicher Wiedererschaffung entsteht. Ein determiniertes System läuft über einen Instabilitätspunkt, an dem es seine determinierte Identität verliert, um im nächsten Schritt eine neue, doch dem Alten ähnliche Identität anzunehmen…
Nach dem Schreiben der letzten Zeilen stocke ich, denn es graut mir wieder einmal selber vor der formalen Sprache der Physik. Ich bin an einen Totpunkt gelangt und eine leichte Verzweiflung überkommt mich. Ich halte inne und überlege, wie die formale Sprache der Chaosphysik zu einer lebendigen Botschaft für den Menschen werden kann. Ich stehe auf und schalte den Fernseher ein, um gerade rechtzeitig dem letzten Dialog zwischen Cindarella und der Feenmutter beizuwohnen, welchen ich hier so gut es mein Erinnerungsvermögen erlaubt, wiedergeben möchte: Cindarella ist wegen ihrer unglücklichen Liebe des Lebens müde, was sie auch der Feenmutter mitteilt. Du bist traurig. Ich glaube, du musst dir ein bisschen Philosophie anhören,
meint die gute Fee. Um das arme Mädchen aus ihrem Unglück zu reißen, eröffnet sie ihr, Das Leben ist wie die Pfeife, von der du nie weißt, wo du sie hingelegt hast.
Als das Mädchen kaum erleuchteter als vorher dreinschaut, sagt die weise Frau: Wie wäre es damit? Die Wolken ziehen über den Himmel, doch das Blau bleibt immer gleich.
Abermals ihren Misserfolg erkennend, äußert die Fee schließlich, Das Leben ist ein Geheimnis. Unerforschliche Ursachen zeigen manchmal überraschende Ergebnisse, was dazu führen kann, dass Staatsmänner oftmals Ähnlichkeiten mit Kartoffeln haben.
Das Mädchen liegt noch immer da in ihren Tränen und die Fee verschwindet im Nichts. Doch aus dem selben Nichts taucht plötzlich der Prinz auf, welcher seine Geliebte am passenden Fuß zum gläsernen Schuh wiedererkennt. Nichts steht mehr der Vereinigung der Liebenden im Wege. Nach dieser Minute drehte ich den Fernseher wieder ab.
Ist es ein unerklärliches Wunder und ein Zufall, wenn das Unwahrscheinliche geschieht, oder muss es einfach so kommen, weil alles in Ewigkeit festgelegt ist, und wir bloß den Verlauf der Kausalkette niemals erkennen können? Oder gibt es noch eine dritte Möglichkeit, nämlich die, dass die Liebe des Mädchens den Erwählten in ihr Leben zwingt? Das hat aber wohl nichts mehr mit Physik zu tun, oder doch? Der Weg eines klassischen Systems von der Vergangenheit in die Zukunft ist durch eine stetige lineare Kurve darstellbar. Ein chaotisches System aber erschafft seinen Weg durch eine Kaskade von Verzweigungen hindurch. Was geschieht nun an einem Bifurkationspunkt, wenn sich ein System zwischen linkem und rechten Zweig entscheidet, wenn 2, 4, 8 oder unendlich viele mögliche Zustände offenstehen, die ein System im nächsten Augenblick einnehmen kann, wie es das Feigenbaum-Diagramm zeigt?
Erreicht etwa eine Tierpopulation in ihrer Entwicklung das chaotische Band, kann niemand voraussagen, ob sie im nächsten Zeitabschnitt aussterben oder boomen wird. Am Bifurkationspunkt ist eine unerkennbare Ursache wirksam, wobei man genausogut sagen kann, es gibt keine Ursache. Solange sich ein System auf einem linearen Zweig befindet, ist jeder vorhergehende Punkt die jeweilige Ursache des folgenden. Am Bifurkationspunkt wird aber gleichsam die Vergangenheit undeutlich und unbestimmt, ein bodenloser Abgrund, der die Ursache für alles mögliche sein kann. Für die objektive Wissenschaft mag am Bifurkationspunkt der blinde Zufall oder eine niemals erkennbare Ursache wirken, für denjenigen aber, der meint, das Universum ist nicht von Systemen sondern von Subjekten bevölkert, ist es der Punkt der freien Wahl.