Schule des Rades

Wilhelmine Keyserling

Leben im Rad

Methodik des Weges

Der Yoga als Methodik des Lebensweges hat sich schon als Vorläufer unseres Zeitalters, in dem der Schwerpunkt am Körper und am Denken liegt, in Europa eingeführt. Wie sehr man über Körperarbeit, wie sie im Hatha-Yoga praktiziert wird, auf die Seele und den Geist einwirken kann, wurde allmählich bewusst. In der Erforschung der Vorgänge im menschlichen Gemüt waren die Inder seit Jahrtausenden von größter Genauigkeit, die in ihrer Literatur klare Darstellung findet. Die philosophischen Werke, die methodischen Aufzeichnungen wurden, besonders in den letzten Jahrhunderten von Deutschen, Engländern, Franzosen übersetzt. Außerdem haben die Inder — manche von ihnen, und das genügt — die Begabung, das was sie erkannt haben zu leben. Das Beispiel der kompromisslosen eindeutigen Verwirklichung der Einstellung eines Mahatma Gandhi oder des, Shri Ramana Maharshi, Krishnamurti und anderer, hat einen tiefen Eindruck auf die westliche Welt hinterlassen.

Nachdem die indische Sicht der Verschiedenheit der Menschentypen Rechnung trug, entwickelten sich viele Disziplinen, die an den möglichen Schwerpunkten der Anlage ansetzten.

  • So der Hatha-Yoga, der am Körpergewahrsein ansetzt;
  • der Karma-Yoga, der jegliches Tun im Alltag in Beziehung zum Ewigen sieht;
  • der Raja-Yoga, der den König in uns erweckt, das Wollen, das in Güte das Heer der Impulse zügelt, um ihnen die entsprechende Auswirkung zu verleihen;
  • oder der Bhakti-Yoga, Weg der liebenden Devotion, wie er auch in der Nachfolge Christi seinen Ausdruck findet;
  • der Japa-Yoga, der besonders über das Mantra negative Schwingungen auflöst, um sich mit der Urschwingung zu vereinen;
  • der Tantra-Yoga, der das Göttliche im Körper und im Geschlecht erfährt,
  • Nada-Yoga, Meditation des Tons, der in die Urschwingung mündet;
  • Gnana-Yoga, der Weg der Erkenntnis, dem die heiligen Schriften entspringen — und viele mehr.

Die meisten Lehrer vermitteln eine Kombination dieser Einstellungen, eben jene, die ihnen zum Durchbruch verholfen hat.

Das Anerkennen der Verschiedenheit der Bemühungen, die zum selben Ziel führen: zur Lösung aus der Bedingtheit und zum Entdecken der existentiellen Identität im Selbst, im Atman, das Teil des Ganzen, des Brahman ist — bringt auch die Anerkennung aller Religionen als Wege der Erleuchtung mit sich. Obwohl die gegenseitige Rache und das blinde Morden im Bereich der Ärmsten zwischen Hindus und Moslems immer wieder aufflackert, hat der ökumenische Gedanke der indischen Philosophie die Tore zur westlichen Welt geöffnet.

Der Bereitschaft sich dem Yoga, sich Atem- und Meditationstechniken zuzuwenden, folgte dann im Westen das Interesse für alle Körperdisziplinen, die einen geistigen Hintergrund und ein Ziel der Selbstverwirklichung haben.

Für mich war es der Yoga, der mir eines Tages zukam, mit dem ich mich seither intensiv befasse.

Unter Yoga verstehe ich alle Bemühungen, körperlich, seelisch, geistiger Art, die methodisch beschreibbar, wiederholbar, anwendbar — von anderen übermittelt oder selbst gefunden — aus Bedingtheit und Identifikation (mit Vorgängen des Gemüts) lösen, und den Menschen in seiner Wesensmitte verankern. Ziel ist, das Bewusstsein in der ruhenden Mitte des Rades zu gründen, um sich von diesem Punkt aus allem rundum gleichermaßen zuzuwenden. Ich kann nicht umhin, hier ein Bild zu verwenden, um dieses Ziel zu beschreiben. Es ist das ursprünglichste Bild: der Kreis, die Scheibe, das Rad; und Ziel ist seine Mitte.

Du bist die Mitte deiner Welt
und alles rundherum ist dein Geschehen.

Auch im Horoskop sind Anlage, Lebensweg und Beziehung zur Welt im Kreis dargestellt, in dessen Peripherie die Wirkkräfte als Planeten Schwerpunkte bilden, die diese Identifikation mit einzelnen Geschehnissen und Gemütsbewegungen hervorrufen. Diese Wechselwirkungen spielen sich auch ohne mein Zutun ab — nur aus der Mitte kann ich das Leben ergreifen, nur dort bin ich Spieler meines Spiels.

Wenn wir unser sich drehendes Lebensrad waagrecht als Wirkebene veranschaulichen und in deren Zentrum stehen, sind wir in der ruhenden Achse mit Erde und Himmel verbunden. Das ist das große Geheimnis der Mitte: der Winkel von 90° setzt uns mit der nächsten Dimension in Beziehung.

Der Hatha-Yoga versucht die körperliche Ganzheit erfahrbar zu machen, indem man zuerst im Nacheinander im Gewahrwerden der Zehen, Füße, Fußgelenke, Unterschenkel etc., den ganzen Körper empfindend und mit dem inneren Auge sehend versammelt, bis das Bewusstsein im Überall des Körperraumes west. Im Laufe einer Yogastunde gelingt es immer besser, den ganzen Körperraum unmittelbar zu erfassen, und man erlebt ihn dann nicht mehr als Zusammenhang von Fleisch, Knochen, Muskeln, sondern als ein einziges Schwingungsfeld. Zuerst wird man des Körpers gewahr, dann erlebt man Gewahrsein im Körperraum; man erlebt sich als den Wahrnehmenden.

Freilich braucht der Mensch eine Motivation — des Fühlens — um sich zu entschließen, seine ganze Aufmerksamkeit — seine Kraft des Wollens — dem eigenen Körper zuzuwenden. Die Motivation entspringt meistens dem Unbehagen, dass man die Aktivität des täglichen Lebens nicht aus der inneren Ruhe entfaltet; dass man unfruchtbare Gedanken nicht loslassen kann; dass Gedankenverknüpfungen in einem, mechanisch ablaufen und kein Subjekt da ist welches sagen könnte: das bin ich. So ein Unbehagen kann die Frage erwecken: was kann ich dagegen tun und was kann ich für mich tun um mehr da zu sein?

Das Empfinden des Körpers ist der erste Schritt im Hatha-Yoga. Das Gewahrwerden des Atems folgt ihm, ist mit den Haltungen und Bewegungen eng verbunden.

Den natürlichen Atem zu spüren, zu riechen, zu hören, sich einem großen Seufzer hinzugeben — das Erfahren des Atemstroms ist Erfahrung der eigenen Zeit, die nach jedem Ein und Aus in die Atemruhe, die Nichtzeit mündet — Anteil an der Ewigkeit.

Das Empfinden von Körper und Atem verlangsamt die mechanisch assoziative Gedankentätigkeit, führt in die innere Leere.

Das eigentliche Ich hält die Mitte von Ruhe und Bewegung, von Leere und Fülle, ist die Beziehung zwischen Nichts und Etwas — der Dritte im Bunde. Was die Körpererfahrungen bringen, ist so selbstverständlich: zum Beispiel, dass man sich in einer Haltung nach oben zu aufrichtet und nach unten der Erde zu entspannt, dass es keinen Yoga braucht um diese Binsenwahrheiten zu entdecken, aber der Hatha-Yoga kann sie bewusst und damit auf andere Situationen übertragbar machen; und jede Methodik des Yoga ist letztlich auf die Freilegung des Bewusstseins das in die Einung mit der Allbewusstheit mündet, ausgerichtet: Atman, die Seinssubstanz des Menschen ist Teil des Brahman. Die ganzheitliche Einstellung ist aus indischer Sicht so selbstverständlich, dass sie in der Bemühung um die Hatha-Yoga-Techniken keiner Erwähnung bedarf.

Neuzeitliche Methoden der Körperarbeit, wie die von Feldenkrais, gründen auch auf der Tatsache, dass alle seelischen und geistigen Spannungen, Probleme und Komplexe im Körper ihren Niederschlag finden. Wenn wir den Körper — der Bewegung gewahrwerdend — in seine natürliche Bewegungsfreiheit zurückführen, können Seele und Geist ihre individuelle Entfaltung finden. Bewusstheit durch Bewegung nennt Feldenkrais seine Körperarbeit. Bewusstheit durch bewusste Bewegung, das heißt Gewahrwerden der Bewegung, spüren, und mit dem geistigen Auge sehen was man tut — jeder Yogi würde dieser Vorgangsweise volle Anerkennung zollen. Die neuzeitlichen Lehrer enthalten sich jeder Art der geistigen Vorstellung, um ja keine Weltbilder aufzudrängen, die dem Menschen in seiner Wirklichkeit nicht entsprechen. Das ist bestimmt eine nicht abzulehnende Einstellung in einer Periode des Umbruchs aller Weltbilder.

Nach unten ist unsere Mitte immer auf das Zentrum der Erde als körperlicher Pol des Endlichen bezogen. Oben ist der Himmel. Wenn wir uns im Geist nach oben wenden nach oben denken und spüren, weiten wir uns ganz selbstverständlich ins unendliche Überall, das letztlich auch die Erde und uns selbst umfängt, durchdringt; unser Bewusstsein hat Teil am Ganzen, west im Ganzen. Dies kann eine geistige Vorstellung bleiben; die Vorstellung kann aber auch zum Gefährt der Erfahrung werden; denn wenn wir uns wirklich dem Himmel zuwenden, macht jede Zelle des Körpers mit; wir werden tatsächlich leichter.

Wir können unsere Besorgtheiten, die durch Identifikation mit einer Sorge hervorgerufen sind, nach unten abgeben — der Erdgöttin anvertrauen. Sorge als Mangel ist etwas Wunderbares; sie ist der Antrieb zum Tun. Wenn wir das Tunliche verrichtet haben, müssen wir jedoch loslassen und alles weitere dem Schicksal anvertrauen. Schicksal ist aber ein sehr vager Begriff, mit dem man nicht in Kommunikation treten kann. Wenn wir die Erde als Born des Lebens, Mutter des Endlichen verstehen, haben wir eine seelische Hilfe im Lassen: Sie kann sich dessen annehmen, was wir an sie delegieren. Diese Vorstellung kommt der indianischen Welterfahrung nahe. Sie ist eine beseelte. Die ganze Schöpfung ist eine große Familie; die Pflanzen, Tiere, Gesteine sind Brüder und Schwestern des Menschen. Alle Ausprägungen der Schöpfung in ihrer besonderen Wesensart stehen einander als unterscheidbare Qualitäten gegenüber, haben sozusagen eine Geist-Seele, mit denen der Mensch im Austausch steht.

Wilhelmine Keyserling
Leben im Rad · 1989
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD