Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Was ich von den Zahlen verstehe
Die Zahlen hatten für mich immer etwas geheimnisvoll Beglückendes. Sie haben mich persönlich berührt. Was war das für eine Seligkeit, als mir auffiel, dass der Schritt von der 1 in die 0, die für mich den Ursprung darstellte, nicht schwieriger ist als der von 4 zu 3, von 3 zu 2 und von 2 zu 1. Novotny, der Bewegungspädagoge und Kartenspieler, beschrieb die 1, 2, 3, 4 etc. wie Persönlichkeiten, denen er begegnet war. Das Studium der Mathematik blieb mir versagt; ich machte mich im Leben vielmehr als Dolmetscherin, Schneiderin, Yogalehrerin und Hausfrau nützlich. Im Studium des Rades mit Arnold hatten die Zahlen freilich eine unverkennbare Aussage.
Das Zahlenhafte ist das der Welt zugrundeliegende potentielle Ordnungsprinzip. Es entsteht aus der Null, dem Nichts, dem alles entspringt.
Die Null ist somit das Schöpferische, die als Zahl für das Göttliche steht. In ihr sind die neun Schöpfungsprinzipien geborgen, neun mögliche Ganzheiten, der Null verwandt, weil auch sie keine Ausdehnung haben. Sie sind Schöpfungsideen: der Einfältigkeit, Zwei-, Drei- bis Neunfältigkeit; das heißt, sie einen eine, zwei, drei etc. bis neun gleichwertige Komponenten.
Wenn wir die neun Schöpfungsprinzipien als Bild der Zahl darstellen, schlagen wir eine Brücke zwischen Potentialität und Aktualität: zwischen schöpferischer Idee und Schöpfung der Welt.
Wir können die Gegebenheiten unserer Welt jeweils auf das eine und andere dieser Prinzipien zurückführen und damit die Beziehung zwischen Aktualität und Potentialität erkennen.
In diesem Sinne nannten die Indianer die Zahlenfolge von 1 bis 20 Sacred Count
— heilige Zahlenfolge. Auch bei ihnen stellten die Zahlen von 1 bis 9 verschiedene Wirkformen der Schöpfung dar, und die 10 als Erfüllung deutete eine andere Ebene an. Die Zahlen 11, 12 bis 20 wiederholen die 9, bzw. 10 Prinzipien auf der All-Ebene. So steht 1 für die Kraft der Sonne, des Lichts, des Feuers, die Zahl 11 für alle Sonnen des Universums.
Im Rad im pythagoräischen Zahlenkreuz ist die 20 als zwei Achsen der 10 im rechten Winkel und in der Geraden zueinander vertreten.
Im Bild der Zahl sehen wir die mögliche Auswirkung dieses Prinzips, wodurch unsere Erfahrung in Verständnis vertieft werden kann. So sehen wir im Bild der 3 einerseits die Einung dreier gleichwertiger Komponenten, in ihrer Wechselwirkung zeitlich die primäre Bewegung, die im dritten Schritt wieder zu sich selbst zurückführt. Das ist, was wir aus dem Bild, das keine Mitte hat, ersehen; und wenn wir versuchen, in ihr zwei Richtungen zu erleben, mag uns noch manches auffallen.
Nachdem ich die Drei am Hintergrund eines umfassenden Ganzen, dem Rad, sehe, ist sie für mich auch ein Hinweis auf die Gefahr der ewigen Wiederholung — aber, nachdem sich alles verändert, im Fließen ist, ich kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, so Heraklit, zeigt mir die dreifältige Bewegung auch den möglichen Werdegang und Fortschritt an. Das Betrachten der Sonderheit des Einzelnen am Hintergrund eines umfassenden Ganzen vermittelt erst Sinn und Bedeutung.
Das Enneagramm, Bild der Neunfältigkeit, hat G. I. Gurdjieff in einer Bruderschaft in Turkestan kennengelernt und zum Schwerpunkt seiner Untersuchungen und seiner Arbeit mit den Schülern gemacht. Wer das Enneagramm versteht, kann tun
. Er verstand es als das neunfältige Wirken des Menschen und die neunfältige Wechselwirkung im Kosmos. Es sei Teil eines größeren Zusammenhangs, wusste er, konnte diesen aber nicht bestimmen. Das Enneagramm im Tanz und in Übungen zu erleben, war für alle eine dynamische Erfahrung. Das Bild der Neun hat auch keine Mitte, und Gurdjieff war ein dynamischer Krieger, der nicht von der Sicherheit des Kreises umfangen war und in dessen ruhender Mitte wurzeln konnte.
Wenn wir das Bild der Neun als Werkzeug betrachten wollen, kommt die erste Dimension, die der ganzen Zahlen und damit der Ordnungszahlen zum Tragen. Wir wollen die Punkte mit Zahlen bestücken und in ihrer verschiedenen Bedeutung erkennen. Aber wo fangen wir damit an, und gehen wir rechtsrum oder linksrum? Hier haben die Gurdjieffschüler verschiedene Theorien, psychologischer und phantasievoll seltsamer Art entwickelt. Die Bedeutung der neun Punkte des Enneagramm ergeben sich erst aus dem nächstumfassenden Zusammenhang, den schon Pythagoras über die Zehn konstelliert hat.
Das Lebenswerk von Pythagoras ist das Zahlenkreuz, das CHI, das innerhalb der 10 Ziffern ein Koordinatenfeld der Produkte, Gamma
, und ein gegenüberliegendes der Brüche, Lambdoma
, bildet. Das der Produkte zeigt das Multiplikationsfeld, das der Brüche ist das Divisionsfeld, dessen mittlere Diagonale ¹/₁, ²/₂ ³/₃ etc. die Ganzheit hervorbringt, also die Realität des Bestehenden, die Kontinuität gebiert.
Während die Diagonalen im Multiplikationsfeld diskontinuierliche Zahlenwerte aufweisen, das heißt Abstände, in denen Ereignisse auftreten können, wie z. B. 1
· 4
· 9
· 16
· 25
· 36
· 49
, die Beschleunigung der Fallgeschwindigkeit oder die Abstände der Schalenbildung im Atom, konstelliert die mittlere Achse des Divisionsfeldes, ¹/₁, ²/₂ bis ¹⁰/₁₀ die Eins: den Schritt vom Nichts ins Etwas.
Für Pythagoras war die Tonwelt sinnliche Erfahrbarkeit des Zahlenhaften. Vedische Schriften besagen, die Welt sei aus dem Ton entstanden.
Pythagoras entdeckte, dass das Verhältnis von Zeit und Raum als Schwingungsfrequenz zu Abstand der Schwingungsknoten auf einer Saitenlänge zutage tritt.
Das Monochord, eine einzige gespannte Saite, war das Instrument seiner Entdeckungen. Wenn wir diese gespannte Saite mit Grundton c als Waagrechte unter dem Divisionsfeld annehmen, können wir über die Diagonalen den Ort der Entstehung der Obertonschwingungen ablesen. Auf der Saite entstehen Obertöne; die weiteren, Summationstöne und Differenztöne, die die Oktave zu 12 Tonwerten ergänzen, entstehen durch die Bewegung von Luftschwingungen im Raum. Die Schwingung einer einzigen Saite birgt in sich die ganze zwölffältige Tonwelt. Die Zwölferteilung des Kreises ist eine naturgegebene Größe, die über die Tonwelt einsichtig wird.
Die Zwölfteilung der Oktave war Pythagoras selbstverständlich, und es bedurfte wohl keiner denkerischen Genialität, die Tonwelt als Kreis der Quinten zu sehen. Die Quinte mit ihren 7 Halbtonschritten bringt nach 12×7, also 84 Schritten alle Tonwerte der Oktave hervor.
Musiziert wurde damals mit begrenzten Tonleitern; erst um den Beginn der Wassermannzeit und der Welteinheit entstand das Anliegen der Zwölftonmusik, die bei J. M. Hauers das Augenmerk auf den temperierten Quintenzirkel warf.
Durch das Koordinatenkreuz der 10 in Beziehung zur Tonwelt wird die Zwölffältigkeit als Kreis, als umfassendes Bild der Ganzheit, und dann auch als Wirkfeld evident. Und dieser Kreis hat einen Anfang! Er hat auch ein Links und Rechts — ein Oben und Unten. Er vereint die Übersicht räumlicher Verhältnisse und zeitlicher Abläufe. Und es galt nun, alle Zwölffältigkeiten: Tierkreis, Lebenskreis, Farbkreis aufeinander abzustimmen und mit dem Raumquadrat der Himmelsrichtungen und der Neunfältigkeit in Makrokosmos, Mikrokosmos und der Menschenwelt in Bezug zu setzen, um eine Karte der Orientierung zu schaffen, die die Gesamtheit des Bestehenden vermittelt und auf ihrem Hintergrund die Betrachtung des Einzelnen ermöglicht.