Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Das Einzelne am Hintergrund des Ganzen
Auch das Auge hat die Fähigkeit in einem kleinsten Punkt zu beruhen — dann gibt es wiederum den peripheren Blick, der einen weitesten Bereich erfasst, ohne hinzusehen. Das Seltsame ist, dass diese zwei Möglichkeiten einander hervorrufen können: wenn ich mein ganzes Sinnen auf einen einzigen Punkt richte, kann sich das Rundherum auftun.
Ist es nicht auch so in der Liebe. Wer einem einzigen Wesen gegenüber jene Liebe erreicht, die nicht haben und halten will, sondern einfach ist, der mag plötzlich die ganze Welt liebend einschließen. Konzentration im höchsten Grade ist nicht Isolation. Konzentration ist totale Hingabe, jetzt und hier an ein Bestimmtes, über die Kraft der Aufmerksamkeit. Und wieder ist hier ein seltsames Gesetz
im Spiel. Die Aufmerksamkeit die ich einsetze, zuwende, einem Blatt, einem Punkt, einem Menschen gegenüber, kommt vielfach potenziert auf mich zurück. Die Kommunion mit dem Anderen wirkt multiplikativ: ich gebe so viel Aufmerksamkeit und sie kommt doppelt zurück; jetzt bin ich ein Doppelter der gibt, und sie kommt vierfach zurück; und so wandelt sich meine Aufmerksamkeitsebene und mündet in… etwas Unbekanntem, das vielleicht der Mitte, der Seligkeit und Freude näher kommt; der Eingebundenheit im Ganzen näher kommt. Und es gibt nur eines das wirklich ganz ist: Das Ganze.
Das sind Erfahrungen der Meditation, die entweder passieren, oder über eine Art des Yoga angestrebt werden. Sie geschehen in Augenblicken der totalen Zuwendung. Was soll das heißen? In Augenblicken, da wir körperlich, geistig und seelisch mit unserer Wahrnehmung, dem Denken und Wünschen und dem Wollen ganz dabei sind. Es passiert in Augenblicken der Lebensgefahr, dass wir wissen wer wir sind, dass wir sind. In solchen Augenblicken haben wir alle Nebengedanken und -wünsche gelassen, und sind doch ganz da, in der spezifischen Art des Erlebens und Denkens, des Fühlens und des Wollens. Es ist unsere persönlichste und eigenste Sekunde — oder Stunde. Wer ich bin und was ich bin sind vereint. Diesen Zusammenhang kann man den Leib nennen.
Dies ist mein Leib
sagt der katholische Priester, wenn er die Kommunion austeilt. Der Gläubige vereint sich mit dein körperlichen, geistigen und seelischen Aspekt Christi, der dieses Wer des Christus ausmacht.
Unser Titel, vom Körper den ich habe, zum Leib der ich bin
, besagt auch, auch dass der Wer einen Körper, eine seelische Struktur, eine geistige Vorstellungsebene hat, aber mit diesen nicht identisch ist; der Leib jedoch ist der Zusammenhang von wer ich bin und was ich bin. Wenn ich also sagen kann, ich bin eine Ehefrau, eine Yogalehrerin, eine Dichterin, manchmal eine schwesterliche Kameradin… so würde das heißen, dass ich diese Aspekte nicht nur habe, sondern sie in meinem Leib integriert sind.
Der unmittelbare Weg zu dieser Integration geht vom Körper aus, der mit der Erde über die vier Funktionen in Wechselbeziehung ist, eingreift, erlebt, erfährt. Auf den Körper gründen sich Seele und Geist. Der Körper ist der beste Lehrmeister. Wenn wir im Körper erfahren haben, dass jede Position, jede Bewegung den Ausgleich von Lassen und Halten verlangt, dann können wir vielleicht auch in Entsprechung im seelischen und geistigen Bereich das notwendige Loslassen und Halten im Spiel des Werdens und Vergehens einbringen.
Auf den Körper gründen sich Seele und Geist. Aber leider ist uns die Weisheit des Körpers nicht immer zugänglich, denn ungelöste seelische Probleme und ein verstümmeltes Vorstellungsbild des Ganzen finden ihren negativen Niederschlag im Körper. So mögen wir der heilenden Hilfe anderer bedürfen, um die uns unbewussten Energieströme im Körper freizulegen.
Die Kenntnis der Energieströme im Körper in Beziehung zu äußerer Bewegung ist zum Beispiel in der Methode des Chi-Gung in China entwickelt worden. Verschiedene Methoden der Massage bauen auf diesen Kenntnissen auf, und lösen Verspannungen, die wir nicht selbst beseitigen können.
Wenn ich versuche, über den Yoga zu schreiben, mag es scheinen, als müsse jeder solche Erwägungen anstellen, wenn er Yoga macht, während eine Hatha-Yoga-Stunde ohne Erklärungen oder derartige Betrachtungen verläuft. Die nötigen praktischen Weisungen beschränken sich auf das Tun, um das körperliche Geschehen erfahrbar zu machen. Hatha-Yoga ist eine averbale Kunst. Kunst der Venus, des körperlichen Empfindens, und damit der naheliegendsten Selbsterfahrung. Wir lernen zu bemerken, was wir spüren. Anfangs spüren wir den Körper als Gestalt, in seiner Bewegung; dann mögen uns Energiezentren (Chakras) und Kraftströme bewusst werden, und vieles mehr. Die Yogastunde ist auf das Jetzt und Hier begrenzt. Auch die Meditation, die sich vielleicht auf den unendlichen Raum richtet, kann zur Erfahrung werden; sie ist keine Theorie.
Die meisten körperlichen Vorgänge sind unbewusst — Verdauung, Blutkreislauf etc. — und doch wirkt eine kleine Veränderung auf den ganzen Organismus und darüber hinaus auf die Psyche und den Geist. So haben die Körpererfahrungen, die Zustände der Gelassenheit, der Intensität in der Ruhe auf jeden Fall eine Wirkung — zumal die Vision des Körpers bereits den Geist beansprucht.
Mir als Lehrer begegnet das Augenblickliche immer am Hintergrund des Ganzen
, auch wenn sich dieses nicht artikuliert; es ist mein Gegenüber im Jetzt und Hier. Und ich meine, dass die Teilnehmer dies als eine Art der Geborgenheit unbewusst mitbekommen.
Dann wieder versuche ich, ganz abgesehen vom Hatha-Yoga, meine Weltschau zu artikulieren, zu klären und gestalten — aus der Vision und Erfahrung und allen Aussagen meiner Lehrer die mir eingeleuchtet haben, aus wesentlichen Sätzen der indischen Schriften oder des I Ging und besonders aus der Zusammenarbeit mit meinem Mann am Rad. Auch die Beziehung zu den indianischen Freunden, das Verständnis der Zahlen als Schöpfungsprinzipien und so manches, dessen Ursprung ich nicht mehr weiß, hat zu meinem Weltbild beigetragen. Es ist in dauerndem Entstehen begriffen, und mir liegt daran, mehr als an irgendetwas anderem. Das entspricht eben meiner persönlichen Anlage, und jeder hat seinen eigenen Weg.
Worin liegen die Verschiedenheiten, und was kann als allgemeingültig gelten? Was kann man als grundlegende Erkenntnis und als Weisung auf dem Entfaltungsweg annehmen?