Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Vom Körper den ich habe zum Leib der Ich bin
Dies ist der Titel eines Symposions, und wir haben uns vorgenommen, dieses Thema von verschiedenen Körpertechniken und Sportarten aus zu betrachten. Ich habe einmal für eine Abhandlung über den Yoga eine ähnliche Überschrift gewählt: Über den Körper in die Erfahrung der Ganzheit. So will ich gleich mit dem Yoga beginnen.
Im Hatha-Yoga, der den eigenen Körper zum Instrument der Erfahrung macht, geschieht das Meiste in der Zeitlupe, um den Vorgang genau beobachten zu können.
Wer beobachtet?
Diesen Wer, der sich im Vorgang vollständig einsetzt, ohne sich mit ihm zu identifizieren — also mitgerissen zu werden — gilt es auf den Plan zu rufen. Dieser Wer, man kann ihn das eigentliche Ich oder das Selbst nennen, ist im täglichen Leben nur selten anwesend, obwohl er das wirkliche Subjekt ist. Er ist der Mittler zwischen dem tatsächlichen Wachbewusstsein, der Tiefe des Unbewussten, das immer wahrhaftig ist, und der traumhaften Schau. Er ist nicht nur Mittler, sondern Mitte, von der aus er das gesamte Leben, den ganzen Körper, Möglichkeit und Wirklichkeit erfasst. Selbst unfassbar, ist er wie ein Punkt der Ruhe im sich drehenden Rad. In dieser Ruhe aber sammelt er die höchste Intensität. Er ist Sammlung, Heiterkeit, Freiheit und Liebe — ohne Gegensatz. Er ist Einung und somit der einenden Kraft des Universums gleich.
Wie kann man an diesen Wer in sich herankommen? Das ist letztlich die Fragestellung, die sich die indischen Weisen seit Jahrtausenden gestellt haben, der auch die Methoden des Hatha-Yoga, der Atemtechniken und Meditationen entspringen.
Der Wer, bzw. das Selbst, entfaltet sich auf unserer Erde in unserem Körper über die Kraft der Aufmerksamkeit im Tun. Also gilt es ein Tun zu finden, das nicht bloß Zerstreuung oder Unterhaltung bringt, das aber frei von Besorgtheiten und Ambitionen des Überlebens ist, ein Tun, das die körperliche Wirklichkeit entdeckt und verwendet, um diesen Wer zum Subjekt zu erheben.
Jener Wer ist auch der Mittler zwischen der endlichen Welt und dem Unendlichen. Nachdem wir alle oft Mühe haben uns mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen, mag manchem der Bezug zum Unendlichen als Flucht vor den Schwierigkeiten des Lebens reizvoll erscheinen. Aber diese ruhende Mitte in uns zu finden ist nur sinnvoll — so lange wir leben — um aus ihr zu wirken. Wir wollen uns der Lösung der Probleme die uns betreffen zuwenden, und nicht auf Erlösung rechnen.
So ein Tun, das sich nicht mit einem endlichen Ziel begnügt, ist z. B. der Hatha-Yoga. Obwohl jede Bewegung, jede Position einen bestimmten Aspekt der körperlichen Wirklichkeit vermittelt, eine besondere Lektion erteilt, eine spezifische Wirkung hat, geschieht diese bestimmte Zuwendung immer am Hintergrund des Ganzen; die Konzentration auf das Einzelne am Hintergrund des Gesamten. Er dient der Menschwerdung.
Yoga kann natürlich auch bestimmte Hinderlichkeiten beheben. Der eine kommt auf die Idee mit Yoga zu beginnen, weil er merkt, dass ihm etwas fehlt
; er ist steif, hat Rückenschmerzen, verfällt in unnötige Besorgnis oder Depression. Das ist der Anlass. Es fehlt etwas, wie Meyrink sagte, um hüben und drüben ein ganzer Mensch
zu sein.
Wenn wir von ganz und Mitte reden, beziehen wir uns auf den räumlichen Aspekt des Körpers in der Bewegung, das Miteinander. So widmen wir uns, um ein vollständigeres Körpergewahrsein zu erreichen, der Beobachtung des Nacheinander (im zeitlichen Vorgang) in Beziehung zum Miteinander. Mal wenden wir uns mehr dem einen, dann dem anderen Aspekt zu, bis die beiden sich selbstverständlich vereinen, und der Wer sich als Einender und Wirkender erfährt.
Das Innewerden der Körperlichen Ganzheit ist ein geistiges Erleben, und die Bemühung darum ist eine geistige. Das Erfassen der Ganzheit geschieht auf der Vorstellungsebene, der Visionsebene, die allein ein Körperbild — oder auch ein Weltbild — entstehen lässt.
Der Geist ist es, der die körperliche Wirklichkeit erkennt, erfasst, durchdringt, mit ihr zusammenwirkt, ohne sie zu vergewaltigen. Auf die Übereinstimmung von Körperbild und Körper kommt es an. Unser Körper ist an sich darauf angelegt, ganzheitlich zu wirken. Der Geist kann die Weisheit des Körpers erfahren und mit ihm gemeinsam Bewegung und Leben gestalten; der Begriff des Beherrschens ist hier nicht sinnvoll. Auch das Studium der Naturwissenschaften ist letztlich nichts anderes als der Versuch, die Weisheit der Materie zu verstehen.