Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Das Tierideal

Lebensstandard

Nun ist es aber höchste Zeit, zu erläutern, warum ich das amerikanische Ideal als Tier-Ideal bezeichne. Ist es nicht ein wesentlich menschliches Ideal? Führt es nicht zu besserer Lebenshaltung, zu dem, was Amerikaner unter dem Wort Demokratie verstehen, zu höherer Zivilisation? Gewiss tut es das. Aber nur für den als Tier begriffenen Menschen, nicht für den Menschen als spirituelles Wesen.

Amerikas wesentlichstes und repräsentativstes Ideal ist das des hohen Lebensstandards. Es ist zwecklos, sich um Worte zu streiten oder neue und sogar scheinbar bessere Definitionen aufzustellen, wo es sich um Probleme nationaler Psychologie handelt; maßgebend ist hier allein der gewöhnliche Sprachgebrauch und der den Worten allgemein beigelegte Sinn. Und ohne jeden Zweifel ist das Ideal des höheren Lebensstandards augenblicklich geradezu die Seele des Amerikanertums. Nun ist gegen dieses Ideal als solches gar nichts einzuwenden. Ganz abgesehen davon, dass der sogenannte Materialismus überhaupt kein wirkliches Problem bedeutet, ist ein behagliches Leben selbstverständlich einem unbehaglichen vorzuziehen. Dies beweist endgültig und abschließend allein das allgemeine Wohlwollen, das Fehlen jeglicher Eifersucht, jedes Neides und Ressentiments in den Vereinigten Staaten gegenüber dem, was wir in allen verarmten Ländern sehen, wo Armut wirklich ein Entbehren alles dessen bedingt, was das Leben zur Freude macht. (In den Tropen z. B. tut es das nicht.) Aber andererseits — welches Tier würde, falls es denken könnte, sich nicht unter das Banner des Ideals des höchstmöglichen Lebensstandard stellen? Lebensstandard als Ideal verstanden, bedeutet grundsätzlich dieses und nur dies: dass einem Organismus die Umwelt und innerhalb dieser die Stellung gegeben sei, die seinen inneren Möglichkeiten volle Entfaltungsfreiheit bietet. Demgemäß kommt für jeden Organismus ein anderer Lebensstandard in Frage. Und solange er diesen Standard nicht erreicht hat, ist der natürliche Gleichgewichtszustand zwischen ihm und der Umwelt noch nicht hergestellt, da herrschen Unzufriedenheit, Unruhe und im Extremfall Krieg oder dessen Äquivalent. Nun hat der Mensch von jeher nach Behagen gestrebt wie jedes andere Wesen auch. Allein nur in sehr seltenen Fällen ist es ihm geglückt, den erstrebten Komfort zu erringen, und dann geschah dies gewöhnlich auf Kosten anderer, — was beweist, dass von einem wirklich gesunden Gleichgewichtszustand nie die Rede war. Für den ärmlich lebenden Menschen besteht in der Tat eine grundlegende Diskrepanz zwischen dem vorgestellten Ideal und der erreichbaren Wirklichkeit, eine Diskrepanz, wie sie bei den niedersten Tieren nicht vorkommt. Deren Mehrzahl könnte man wohl arm heißen, doch ihre Armut stellt sich nicht als Problem, weil in ihrem Fall eine endgültige Anpassung des Inneren an das Äußere unter allen Umständen im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt. Dem Menschen hingegen umschließt die Armut wirklich ein Problem. Und im vortechnischen Zeitalter war es nicht zu lösen. Warum nicht? Weil erst der technisierte Mensch als Tier die Ebene erstiegen hat, auf der sich jedes Tier von Anfang an bewegt; nur vom technisierten Menschen kann gesagt werden, dass er sich die Umgebung und innerhalb dieser die Stellung verschaffen kann, welche allen seinen inneren Kräften vollen Spielraum gewährt. Nun hat aber die geologische Epoche des Menschen gerade erst begonnen; der Mensch muss sich seine neue Stellung innerhalb der Gesamtheit der Natur noch erobern. Ist es da nicht natürlich, dass ein angemessener Lebensstandard sein Hauptideal ist? Dem muss so sein; dem soll auch vorläufig so sein. Die der strebenden Natur des Menschen inhärierende Schwierigkeit, die eine endgültige Anpassung unmöglich macht, geht uns hier nichts an.

Doch warum, noch einmal, betonte ich so stark, dass das Ideal des hohen Lebensstandard ein Tier-Ideal ist? Mein Grund dazu war der, dass fast alle typischen Erscheinungen des heutigen amerikanischen Lebens nicht nur Ausdrücke des Ideals eines höheren Lebensstandard sind — sie gehen tatsächlich von der Voraussetzung aus, dass der Mensch nur ein Tier unter anderen und dementsprechend zu behandeln sei.

Um von vornherein ganz deutlich zu machen, was ich meine und worauf ich hinaus will, muss ich einige allgemeine Bemerkungen über den Unterschied zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren einschalten. Hier kann ich mich allerdings nicht ausführlich über dieses Thema äußern. Wem das Vorliegende nicht genügen sollte (und ich hoffe, das wird von vielen gelten), der lese meine Hauptwerke Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt. Jeder Organismus ist einerseits ein wesentlich antwortendes Wesen; sein Leben entfaltet sich in der Reaktion auf Reize und ist insofern durch die Außenwelt bedingt. Andererseits aber lebt jeder Organismus aus eigenem Rechte aus sich selbst heraus. Es ist unmöglich, Lebenserscheinung zu verstehen, ohne gleichzeitig auf beide dieser Faktoren zurückzugehen, die voneinander wesentlich unabhängig sind.1 Aber die autonome Lebenskraft aller Pflanzen und Tiere ist im großen und ganzen ein konstanter Faktor; sie beweist nicht mehr Initiative als beim Menschen etwa die Vererbung. Das Problem des letzteren liegt anders. Im Menschen wird die überall autonome Lebenskraft vom mit freier Phantasie begabten Bewusstsein gleichsam in einem Brennpunkt gesammelt. Und obgleich das, was ich vom tierischen Organismus sagte, auch vom Menschen gilt, nämlich dass die Richtung seines Lebens durch die Reize, auf welche es antwortet, bestimmt wird, so spielt doch persönliche Initiative die entscheidende Rolle. Gewiss nicht auf dem Gebiet seines tierischen Lebens — wohl aber überall dort, wo sich spezifisch menschliche Probleme stellen; wo der Sinn der Tatsachen wichtiger erscheint als die Tatsachen selbst (wie dies bei allen eigentlich menschlichen Fragen der Fall ist), entscheidet letztendlich die Initiative des Geistes und nicht der Druck der Außenwelt. Und je höher sich der Mensch als Mensch erhebt, desto ausschlaggebender wird seine Fähigkeit der Sinngebung. Der Weise ist beinahe unabhängig von äußeren Ereignissen; ihm bedeuten sie genau das, was er aus ihnen macht. Nicht nur im subjektiven, sondern auch im objektiven Verstand, wie dies das Leben aller wahrhaft großen Menschen beweist, welche Widerwärtigkeit erlitten und überwanden.

Für die amerikanische Weltanschauung ist charakteristisch, dass sie die ausschließlich-menschliche Seite des Menschen fast völlig übersieht. Natürlich gibt es Ausnahmen dieser Regel; ja mehr als das: es gibt sehr mächtige Gegenerscheinungen. Aber gerade die Übertreibung, mit der die Autonomie des Geistes dann betont wird — ich denke natürlich an die Christian Science, New Thought und diesen Verwandtes —, beweist die Macht des vorherrschenden Standpunkts. Selbstverständlich dauert es lange, bis eine originale Einstellung sich ihres eigenen wahren Sinns bewusst wird; lange Zeit sucht sie ihren Ausdruck in irgendeiner intellektuellen, auf einen Kompromiss mit traditionellen Vorstellungen gegründeten Konstruktion. Hier liegen die Wurzeln des Pragmatismus, dessen Vätern und Förderern es nie gelungen ist, sich von der sie unbewusst beeinflussenden europäischen Philosophie ganz freizumachen. Heute aber können wir sagen, dass die typisch amerikanische Weltanschauung ihren angemessenen Ausdruck auf der Ebene der Theorie gefunden hat. Es ist die als Behaviorism bezeichnete Weltanschauung. Jeder heutige repräsentative Amerikaner (abgesehen natürlich von der schon erwähnten Opposition) ist innerlich ein Behaviorist, gleichviel, ob er es weiß und zugibt oder nicht. Auch John Dewey ist wesentlich Behaviorist, nur dass er zuviel von der Seele weiß, um dies in Reinkultur zu sein. In John B. Watson ist nun die typische amerikanische Einstellung ihrer selbst vollkommen bewusst geworden; in ihm drückt sie sich mit der ganzen Ausschließlichkeit und Einseitigkeit aus, welche Stil und Erfolgbereitschaft fordern. Ich zweifle nicht, dass John B. Watson einmal als einer der Hauptrepräsentanten dessen betrachtet werden wird, was die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert geistig darstellten.

1 Am Anfang des zweiten Kapitels der Neuentstehenden Welt habe ich ausgeführt, dass das Leben niemals durch weniger als zwei Koordinaten zu definieren ist, und dass beim Menschen eine dritte hereinspielt.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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