Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Privatismus

Ökonomie

Den Griechen war der unmenschliche Verlauf des Naturgeschehens Moira oder Schicksal; sie hatten keine Gewalt über ihn, daher beherrschte er sie. Napoleon behauptete, die Politik sei das Schicksal, und zu seiner Zeit, war dem tatsächlich so, denn dieser gewaltige Mann meisterte jede politische Situation derart — ob er nun jeweils führte oder getrieben war —, dass sein politischer Wille für die Menschheit zum Schicksal wurde. Wie aber steht es in unserer Zeit? Heute bedeutet das Ökonomische zweifelsohne im gleichen Verstande Schicksal weil die ökonomischen Beziehungen der ganzen Welt sich zu so gewaltigen und völlig unabhängigen Kräften ausgewachsen haben, dass bislang kein Wille ihrer hat Herr werden können.

Es gab eine Zeit, da der Staat wenig bedeutete im Vergleich zur religiösen Gemeinschaft; im Mittelalter verkörperte die Christenheit in Europa ein sehr viel Wichtigeres als jedes politische Gebilde. Seither nahm der Staat im Vergleich zur religiösen Gemeinschaft unaufhaltsam zu an Macht, welcher Prozess in Frankreich seit Ludwig XI. am energischsten zur Durchführung gelangte, am auffallendsten jedoch bei den protestantischen Staaten Deutschlands in die Erscheinung trat, wo die Religion als Landeskirche ihre ursprüngliche Unabhängigkeit bald völlig einbüßte. Und proportional diesem Gefälle nahm bis vor jüngster Zeit die Bedeutung des Staates stetig zu.1 Jüngst nun ist eine Wasserscheide gleichsam in der historischen Entwicklung erreicht worden. Nunmehr nimmt die Bedeutung des Staates stetig zugunsten der Bedeutung wirtschaftlicher Verbände ab. Schon vor dem Weltkrieg hatte sich der Bedeutungsakzent in dieser Richtung verschoben. Einer der Hauptfaktoren der englischen Größe war seine Rückständigkeit in der politischen Entwicklung, insofern als neben dem Staat eine Reihe anderer freier Verbände die Idee des Imperiums verkörperten. Und die wahre Macht des kaiserlichen Deutschland — die unermeßlich viel größer war, als die meisten Deutschen ahnten — beruhte nicht auf seiner bloß kontinentalen Armee, sondern auf dem spinnwebfeinen Netz, mit dem seine Wirtschaft den ganzen Planeten übersponnen hatte. Diese Macht zu zerstören gelang deshalb allein, weil die Deutschen nicht eine den wahren Interessen der Wirtschaft gemäße Politik trieben. Seit dem Weltkriege nun ist dieses historische Gefälle, das zum Bedeutungsverlust des Staates führt, offensichtlich geworden. In erster Linie natürlich bei den besiegten Völkern. Solang der Staat verhältnismäßig wenig bedeutete, galt gleiches auch von einer Niederlage; der Menschenverlust überschritt die Grenze des national Ertragbaren nicht, der Privatbesitz blieb grundsätzlich unangetastet; auch war die Macht des Siegers über die Besiegten nicht schrankenlos. Heute nun verfügt jener über mehr Macht noch als zu assyrischen Zeiten, weil der Nachdruck in der öffentlichen Meinung auf dem Ökonomischen liegt. Denn die Folge dessen ist die seit Abschaffung der Sklaverei unerhörte Voraussetzung, dass aller Privatbesitz für den Staat haftet. Heute gilt im Fall von Nationen eine Art von Schuldknechtschaft als moralisch zulässig, deren bloße Idee, auf den Einzelmenschen angewandt, die Weltmeinung als verbrecherisch brandmarken würde. Heute werden sogar Kriegssubsidien wie geschäftliche Passiva behandelt. Heute sind die Großkapitalisten die Drahtzieher; zwar noch nicht oft als schöpferische Führer — meist sind sie dazu zu naiv, oder aber sie schätzen die politischen Notwendigkeiten noch nicht richtig ein —, wohl aber als Repräsentanten weltumspannender Wirtschaftsinteressen. Letztere haben so überragende Bedeutung erlangt, dass rein politische Erwägungen im traditionellen Verstand neben ihnen gar nicht mehr in Betracht kommen. Seit der industriellen Revolution hat die Menschheit zahlenmäßig derart zugenommen, dass Nichtachtung ökonomischer Notwendigkeiten leicht zu einer der Sintflut ähnlichen Katastrophe führen kann.

Hier handelt es sich um ein völliges novum in der Geschichte. Des Menschen vornehmstes Interesse war gewiss von je, zu leben, und materielles Leben hängt von materiellen Existenzmöglichkeiten ab. Doch solange die Erde dünn bevölkert war, stellte sich die Frage des Verhungerns nicht eigentlich als ökonomisches Problem; denn grundsätzlich war sie stets durch Auswanderung oder Eroberung zu lösen. Andererseits handelte es sich, wo letzteres nicht möglich war, allemal um unentrinnbares Schicksal; denn dann war es entweder überlegene Natur- oder überlegene Menschenmacht, welche Veränderung zum Besseren unmöglich machte. Ferner konnten, bevor die Wissenschaft zur anerkannten Führerin oder Beseelerin des Lebens ward, wirtschaftliche Werte nicht eigentlich geschaffen werden. Und in solchem Umfang konnten sie sogar bis vor ganz kurzem nicht geschaffen werden, dass sie den Allgemeinzustand der Menschheit verändert hätten. Ein Schatz konnte nur geraubt oder geerbt, oder durch einen Glücksfall entdeckt werden; Zinsen trug er keine. Ehe Reichtümer zum sogenannten Kapital wurden, bedeutete Zinsnehmen immer Wucher. Andererseits musste aber der Zins immer so hoch sein, dass er dem Raub gleichkam, weil dem Leben eine allgemeine Grundlage noch fehlte, die dem Umsatz rechtliche Anerkennung und Sicherheit gewährleistete. Noch vor zweihundert Jahren war der Kaufmann in keinem anderen Sinne ehrlich wie der Eroberer. So waren alle großen Handelsvölker der Vergangenheit in erster Linie Freibeuter und Eroberer. Kühnheit, Abenteuerlust und die Fähigkeit, Besiegte erbarmungslos auszubeuten, waren die Eigenschaften, von denen ihr Erfolg in Wahrheit abhing — nicht ökonomische Tüchtigkeit. Letztere bot für freie Existenz keine Gewähr. Der ökonomische Mensch der Vergangenheit war entweder Eroberer und Herrscher, der aus seiner Machtstellung materiellen Vorteil zog, oder aber Sklave, wenn nicht gar Schlimmeres als Sklave.

Alles dies begann anders zu werden, seitdem Reichtum immer allgemeiner als Kapital betrachtet ward, und seitdem wissenschaftliche Entdeckung dem Wirtschaftsleben wachsende Möglichkeit schuf, aus eigenem Recht zu leben. Doch seitdem die Massen zu wissenschaftlichem und ökonomischem Bewusstsein zu erwachen begonnen haben — eben jene Massen, deren Rassengedächtnis von Eroberung, Beherrschung und Ausbeutung anderer nichts weiß, sondern allein von Mühe und Arbeit — seitdem beginnt der Standpunkt des Menschen vorzuherrschen, welchem der Krieg nicht letzte Instanz bedeutet, und folglich auch nicht die Politik. Zahlenmäßig herrscht dieser schon heute auf dem ganzen Erdball vor. Allüberall ist der Mann auf der Straße innerlichst davon durchdrungen, dass die Wirtschaft als solcher tatsächlich in der Lage ist, allen und jedem ein gutes Leben zu gewährleisten; nicht minder ist er davon überzeugt, dass Krieg materielle Werte nur zerstören, nie jedoch schaffen kann, und dass Politik wirtschaftliche Möglichkeiten nur ausnutzt oder verspielt. Demzufolge gewinnt, wenn auch den meisten unbewusst, eine innere Entfremdung vom Staate immer mehr an Boden; eine Entfremdung, die vorläufig, solange die veränderte Sachlage noch nicht verstanden ist, ihren Ausdruck vorwiegend in Unehrlichkeit findet — Unehrlichkeit bei sonst ehrlichen Leuten bedeutet allemal Anpassungsmangel, und dieser liegt meist an den Umständen und nicht an jenen. Doch, von den vorhergehenden Erwägungen ganz abgesehen, hat jeder Organismus sein Schicksal: das allgemein-organische Schicksal von Jugend, Aufstieg, Leistung, Abstieg und Verfall. So kann der Staatsorganismus, nachdem er den Gipfel seines Lebens überschritten hat, freilich weiterleben; er kann aber nie wieder ebenso Positives bedeuten wie einst. Hier setzt denn eine weitere Ursachenreihe ein. Kein Apparat beherrscht und führt sich selbst; immer dient er einem Einzelnen oder einer Gruppe. So war der Staat zuerst der Vasall von Einzelnen und von Kasten. Dann ward er zum Organ größerer Verbände; auf seinem Zenit war er das normale Ausdrucksmittel einer wohlorganisierten Gemeinschaft. Seitdem aber die Massen die politische Macht de facto erobert haben, wird der Staat immer mehr zum Organ der Masse und ihrer Bedürfnisse. Hieraus folgt denn, dass dieser bald beinahe ausschließlich — Benthams Auffassung genau gemäß — dem größten Glück der größtem Zahl dienen wird. Insofern der Staat das leistet, hat er freilich Existenzberechtigung. Es soll den Massen immer besser gehen; ein anständiger Lebensstandard muss sobald als möglich jedem erreichbar werden. Und nur das Gesetz und ein Regierungsapparat, der stark genug ist, es unter allen Umständen durchzusetzen, bieten dafür Gewähr, dass es auf einem so ungeheuren und zugleich derart bis ins kleinste differenzierten Gebiet gerecht und billig zugehe. Wird aber nun der Staat so wesentlich zu einem Kontrollapparat für das Wohlergehen seiner Bürger, wie kann er eigene Ziele weiter verfolgen? Wie kann er fortfahren, das Prinzip der Initiative zu verkörpern? Er muss unabwendbar immer mehr und mehr statische Werte, im Gegensatz zu dynamischen, repräsentieren. Das Endergebnis dieser Entwicklung ist klar. Der Staat wird wahrscheinlich nützlicher werden, als er es jemals war; seine erhabene Stellung jedoch wird immer mehr zu einer der Post ähnlichen zusammenschrumpfen. Er wird ein ähnliches Schicksal erleben wie sein Haupt, welches erst als von Gott gesalbt galt und zuletzt zu einem auf Zeit oder Dauer von einem gewöhnlichen, als solchen erkannten Menschen besetzten Amt ward.

Wir leben also ohne Zweifel in einer Zeit der abnehmenden Bedeutung des Staats. Damit behaupte ich gewiss nicht, dass irgendein Volk seinen Staat preisgeben wird oder gar sollte. Ebensowenig, dass der Staat alle Macht und Geltung in Bälde verlieren wird: im Gegenteil, alles weist darauf hin, dass er zunächst in vielen Ländern übermächtig werden und sich so ad absurdum führen wird; leider kommt das Vernünftige auf Erden nicht oft dank antizipiertem Sinn zustande, sondern nur als Folge durch die Tatsachen erwiesenen Unsinns. Eben dies gilt vom bolschewistischen und fascistischen Etatismus. Der Endzustand, dessen Embryonalphasen das russische und das italienische System von heute verkörpern, wird offenbar ein syndikalistischer sein; die Grundidee ist ja in beiden Fällen die, dass allein der Produzent politisch zählen soll. Aber Russland und Italien werden zur Zeit, da ich schreibe, durch revolutionäre Minderheiten regiert; und diese können nicht umhin — nicht nur um ihr Programm durchzuführen, sondern einfach, um sich zu behaupten —, Macht und Autorität des aus der Vergangenheit übernommenen Apparates überzubetonen. Nicht anders steht es grundsätzlich mit allen Diktaturen dieser Zeit, wie dies Don Francisco Cambó in seinem Buch Las dictaduras (Madrid 1929) mit abschließender Klarheit gezeigt hat. Die obige Feststellung, dass wir in einem Zeitalter abnehmender Staatsbedeutung leben, besagt nur eben, dass der Staat an Bedeutung verliert; und da auf der Ebene der Geschichte der Sinn die Tatsachen schafft, so muss sich dies immer mehr und mehr in der Beschaffenheit der letzteren zeigen. Genau wie die ehemals souveräne religiöse Gemeinschaft allgemach zum Bestandteil des wachsenden Staats wurde, wird dieser als Organ eines Zusammenhangs höherer Ordnung enden, auf den dann das bisher dem Staate eignende Prestige übergehen würde. Noch sind wir von einem Endzustand weit entfernt. Doch soviel ist gewiss: alle konstruktiven Ideen dieser Zeit betreffen nicht mehr Politisches, sondern Ökonomisches. Heute bestimmt das Petroleum die Mächtegruppierung beinahe ebenso, wie vormals die Religion. Wie groß die Zahl der nur-politisch eingestellten Völker immer sei — ein einziger Blick auf den Kurszettel, die Handelsbilanzen und Arbeitslosenstatistiken genügt, um zu erweisen, dass kein Staat mehr wirklich unabhängig ist und dass alles nationale Wohl und Wehe auf übernationalen Allgemeinbedingungen beruht, von denen die ökonomischen die entscheidend wichtigen sind. Und dies wird wohl auf lange hinaus so bleiben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Dinge wieder den Verlauf nehmen, der einst zur Bildung des mittelalterlichen Zustands führte. Fustel de Coulanges hat gezeigt, dass das französische Lehnswesen aus dem bürgerlichen Provinzialrecht des kaiserlichen Rom hervorgegangen ist. Als der römische Staatsapparat zerfiel, ward das alte ökonomische System zur Grundlage des neuen politischen. Gleichsinnig weist alles darauf hin, dass die künftige politische Ordnung der westlichen Welt von einer ökonomischen Neuordnung ausgehen wird. Man vergesse nicht, dass der Deutsche Zollverein seinerzeit die Keimzelle des neuen deutschen Kaiserreiches war.

Rufen wir uns nun aber den einleitenden Teil des Tier-Ideals ins Gedächtnis zurück und verknüpfen ihn im Geist mit unseren letzten Überlegungen, so finden wir, dass die hier in großen Zügen skizzierte historische Entwicklung einen Sonderaspekt des dadurch erfolgten allgemeinen Wandels bedeutet, dass der Mensch jetzt endlich, als Leitfossil des geologischen Zeitalters des Menschen, zum Herrn der Schöpfung erwachsen ist. Wenn nur der wissenschaftlich und technisch souverän gewordene Mensch wirklich der Mensch ist, wie ihn der biblische Gott von Anfang an geplant hat, dann muss Ökonomie, als Beherrschung der Natur verstanden, offenbar mehr bedeuten als Politik. Dies muss solange dauern, bis dass die ganze Menschheit sich die Stellung erobert hat, der ihr innerhalb der Weltordnung zukommt. Dies führt uns denn zu einer Einsicht, die auf den ersten Blick paradoxal scheint, obgleich sie die modernsten Menschheitsüberzeugungen bestätigt: eine Ordnung, in der die Politik mit ihrer unvermeidlichen Folge, dem Krieg, an erster Stelle steht, ist der niedrigere Zustand, verglichen mit einer Ordnung, welche ihr Zentrum in der Ökonomie hat. Alle Tiere leben in Wahrheit dank Krieg und Politik; wo eine Gattung stärker ist als die andere, erscheint sie vollkommen erbarmungslos; wo Symbiose nicht prästabilierte Harmonie bedeutet, ist sie allemal Ergebnis eines widerwillig geschlossenen Kompromisses. Erreicht das Menschengeschlecht nun einen Allgemeinzustand, der jedem Einzelnen ein zufriedenes Dasein gewährleistet, so wird dies freilich auf Kosten der anderen Organismen geschehen; insofern wird sich der Mensch nicht besser erweisen als irgendein Leitfossil. Er wird aber eine menschliche Grundlage — im Gegensatz zur bisherigen animalischen — für sein Leben schaffen, und dies würde bedeuten, dass die Vernunft über die rohe Gewalt die Oberhand gewänne und Solidaritätsgefühl den Kampfinstinkt innerhalb gebührender Schranken hielte. Letzteres würde keinesfalls zu wirken aufhören. Die Natur des Menschen ändert sich nie, und jeder Verlust an elementarer Kraft bedingt allgemeinen Vitalitätsverlust. Aber es ist ein großer Unterschied ob die Elementarkräfte herrschen oder dienen. Aristoteles hatte recht, als er den Menschen das politische Tier hieß: die Politik gehört wirklich noch zur animalischen Sphäre. Gleiches gilt natürlich auch vom Ökonomischen, wenn es nur als die Betätigung bestimmt wird, die für die Ernährung sorgt. Aber gerade das ist die wissenschaftlich betriebene Wirtschaft nicht, weil hier aller Nachdruck auf Vernunft und geistiger Initiative ruht und der Wohlfahrt der Gesamtmenschheit als Endziel.

1 Dieser Abschnitt stellt die endgültige Fassung der Gedankengänge dar, die ich zuerst 1922 in Politik, Wirtschaft, Weisheit veröffentlichte.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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