Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Die Vorherrschaft der Frau

Sein und Können

Während meiner Vortragsreise drüben machte ich es mir zur Regel, immer genau das zu sagen, was ich dachte, und zwar in möglichst herausfordernder Form, weil ich durch die hervorgerufenen Reaktionen am schnellsten Amerikas Wahrheit auf den Grund kommen konnte. Und alle mir bekannt gewordenen Reaktionen auf das, was ich öffentlich über das Mann-Weib-Verhältnis sagte, bestätigte meine Intuitionen. Der größte Teil der denkenden Männer und Frauen gab mir recht. Keine Frau nahm meine Behauptungen ernstlich übel, aber sehr viele ärgerten sich über das, was sie als Verrat eines Berufsgeheimnisses empfanden: wie alle herrschenden Klassen wollten sie nicht, dass ihre Untertanen Bescheid wüßten. Das Interessanteste nun aber war, dass eine erstaunliche Anzahl Männer wütend wurde: das hätte nicht geschehen können, hätte ich unrecht gehabt; sie fühlten offenbar, dass ich recht hatte, und wünschten dabei, dass alles beim alten bliebe. Sehr verdächtigerweise insistierten die, welche mich schriftlich zu widerlegen unternahmen, allemal auf dem Wenigstentscheidenden. So erklärte John B. Watson, der Behaviorist, dass der Mann immer noch die Schnur am Geldbeutel halte, welcher Umstand allein beweise, dass er noch regiere. In Wahrheit beweist dieser Einwand gar nichts. Die über- oder unterlegene Stellung eines Menschen hängt in erster und letzter Instanz von dem von ihm ausgeübten psychologischen Einfluss ab. Bloß materielle Macht an sich nützt nichts (es entscheide denn rohe Gewalt, was in zivilisierten Gemeinwesen seltene Ausnahme ist): sie wird bedeutsam nur dann, wenn an sie als an den entscheidenden Faktor geglaubt wird. In Europa war dies niemals der Fall.

Wohl lagen die Dinge bei uns nie wie in Indien, wo ein der Brahmanenkaste angehörender Bettler jedermann als einem König niederer Herkunft überlegen gilt. Auch hat bei uns moralische Autorität niemals so viel bedeutet wie in Alt-China, wo das ganze Regierungssystem auf moralischem Wert beruhte, oder wie in Alt-Ägypten, wo die Pharaonen das Volk in Wahrheit unterdrückten und doch nie einer Armee bedurften, weil zur Durchsetzung ihres Willens ihre Autorität allein genügte. So oder anders hat Europa immer an materielle Macht geglaubt. Nie jedoch galt ihm finanzielle Macht als letzte Instanz. Diesem wunderlichen Glauben zu huldigen gehört zu den Originalitäten der Vereinigten Staaten. Seine Wurzel liegt natürlich im Privatismus. In Amerika glauben die Leute wirklich, dass der Reiche ebendarum ein überlegener Mensch ist; in Amerika schafft Geldgeben tatsächlich moralische Rechtsansprüche. Selbst im Nachkriegseuropa fiele es keinem Mäzen, der einem Institut eine Stiftung machte, zu glauben ein, dass er dadurch das Recht erworben habe, dessen Tätigkeit zu leiten (to control). Selbst im Nachkriegseuropa dächte nur die allerniedrigst gesinnte reiche Frau, die einen nicht begüterten Mann heiratete, sie habe ihn damit gekauft und insofern richtige Besitzeransprüche an ihn. Der Typus des marrying sort of girl, das sich aus Wortbruch- und Ehescheidungsprozessen ein Vermögen erwirbt, ist in der Alten Welt noch nicht geboren.

Im Mai Heft 1928 von Harpers Magazine stand ein überaus witziger Artikel von Henry C. Beers Woman and the Marriage Market; er vertrat die Ansicht, die Frau betrachte sich selbst ursprünglich als Ware und der größte Teil ihrer Fortschrittlichkeit sei aus Schwankungen auf dem Heiratsmarkte zu erklären. Ich hin überzeugt, dass, obgleich Beers’ These von der Mehrzahl der amerikanischen Frauen nicht gilt, deren Gesinnung die gleiche ist wie die aller normalen Frauen auf der Welt, nur wenige Amerikaner männlichen wie weiblichen Geschlechts die Theorie ohne weiteres ablehnen würden; und dass ein hoher Prozentsatz der führenden Frauen sogar gefühlsmäßig mit ihr übereinstimmen, ob sie es eingestehen oder nicht. In Europa dagegen würde Beers’ Standpunkt auf ehrliche und allgemeine Entrüstung stoßen. Dieser Gesinnungsunterschied schiene demnach, soweit Amerika in Frage kommt, Watsons Einwand gegen meine Auffassung zu stützen. Nun ist aber die Stellung der Frauen in Amerika die eine allgemeine Ausnahme einer allgemeinen Regel. Gewiss verdient nicht sie den größten Teil des Geldes, das sie ausgibt, und ist sie reich, so dankt sie es gewöhnlich irgendeinem Mann. Ebenso leistet der Mann noch das meiste. Trotzdem ist die Stellung der Frau in den Vereinigten Staaten recht eigentlich die einer herrschenden Rasse, nicht anders wie die der Engländer in Indien.

Um einem Leserkreis, der nicht gewohnt ist, unter Macht anderes als Finanzmacht zu verstehen, ganz klarzumachen, was ich meine, will ich das Problem zunächst unter einem anderen Gesichtswinkel betrachten. Zu diesem Zweck will ich in vorläufiger und skizzenhafter Weise einige Gedankengänge niederschreiben, die eigentlich ins Kapitel Demokratie hineingehören, während andere erst im Kapitel Moral ausführlich entwickelt werden können. Dies bedeutet jedoch keine Abschweifung: der scheinbare Umweg wird uns vielmehr am schnellsten zum Ziele führen.

Zwei der wichtigsten Kennzeichen des Zeitalters der Demokratie sind die folgenden: dass es an Unterschiede auf dem Gebiet des Könnens, nicht aber an Unterschiede auf dem des Seins geglaubt hat und glaubt. Die historischen Ursachen des letztgenannten Unglaubens liegen auf der Hand. Die traditionelle Lebensordnung, welche die Demokratie zerstörte, bestand ganz und gar auf Grund der Voraussetzung, dass es ursprüngliche Seinsunterschiede zwischen den Menschen gibt, die kein Talent und kein Verdienst überbrücken könnten; diese Unterschiede sollten den einzig möglichen Rahmen einer sinngemäßen sozialen Struktur abgeben; sie sollten endlich ausschließlich durch natürliche Vererbung bedingt sein, es sei denn, dass das Gesetz der göttlichen Gnade das der Natur durchbrach, wie dies im Fall religiöser Berufung, ganz selten auch in dem exzeptioneller weltlicher Größe geschehen sollte. Dieser Gedanke war in vielen Hinsichten offenbar verfehlt. Die Vererbung wirkt nicht so sicher und exakt, als jener annahm. Auch ist es nicht geraten, sich darauf zu verlassen, dass die göttliche Gnade sich allemal unausbleiblich im richtigen Augenblick manifestiere. Vor allen Dingen aber sieht eine Ordnung, die ausschließlich auf Seinsunterschieden beruht, von der rationellen Seite des Lebens ab — und die ist die einzige, über welche Einsicht und Wille Macht haben. Deshalb kann eine Gesellschaft wie die mittelalterliche ihrem Wesen nach nicht fortschrittlich sein. Sie kann keine Tüchtigkeit in irgendeinem Sinn als herrschendes Prinzip züchten, sintemalen kein Einzelner sich, auf Grund ihrer Voraussetzung, außerhalb seiner angeborenen Lebensstellung oder über diese hinaus entwickeln kann. Im Falle jedes Einzelnen, dessen angeborene soziale Stellung seinem persönlichen Zustand nicht entspricht, wird sie der Wirklichkeit des Lebens nicht gerecht. Und sie erscheint ungerecht schlechthin, wo immer die als höhere geltenden Kasten nicht tatsächlich ein höheres Niveau verkörpern. Das demokratische Ideal konnte und musste die westliche Welt erobern, einfach weil die mittelalterliche Hierarchie zu der Zeit, da der Konflikt zwischen der alten und der neuen Ordnung akut ward, die Wahrheit der Wirklichkeit nicht mehr vertrat.

Doch war der Ausdruck des mittelalterlichen Grundgedankens zu der Zeit, da die mittelalterliche Ordnung zusammenbrach, tatsächlich todesreif, und war der Grundgedanke selbst in manchen Hinsichten verfehlt, so war er doch nicht ganz falsch. Es gibt tatsächlich eine mögliche Überlegenheit des reinen Seins, unabhängig von allem nachweisbaren Können. Allgemein gesprochen, ist die innere Struktur des Menschen folgende: Er ist ein lebendiger, schöpferischer Geist, eine wahre spirituelle Substanz im Sinn der indischen Philosophen und unseres eigenen Mittelalters, welche sich mittels der vorhandenen psychologischen Funktionen ausdrückt, sich aber dem Wesen nach von diesen unterscheidet. Dieser Geist, eine rein subjektive und in jedem einzelnen Falle einzigartige Größe, verkörpert das im Menschen, was jeder als sein letztes und eigenstes Sein empfindet. Es strahlt seine Eigenart unmittelbar aus, von innen nach außen, ganz abgesehen von den sonstigen Fähigkeiten eines Menschen — wir wissen von vielen, die zu ihrer Zeit jeder für groß hielt, die ungeheuren Einfluss ausübten und dennoch nicht sonderlich begabt waren. Seine Wirksamkeit ist wesentlich unwillkürlich, sie entspricht dem, was die alten Chinesen Wu Wei nannten.1 Es lässt sich nicht objektivieren, nicht einmal beweisen, dennoch entscheidet es letztlich über alles, was ein Mensch leisten wird, selbst auf der Ebene des Könnens. Kein großer Industriekapitän im modernsten und mechanisiertesten Sinn hat je zum Durchschnitt gehört, soweit persönliches Gewicht und Autorität und Magnetismus in Frage kommen. Nun hängt der Seinszustand eines Menschen von der Lage des lebendigen Mittelpunktes ab, der von innen her alle Äußerungen des Lebens bestimmt. Dieses Zentrum kann in den Tiefen individueller Einzigkeit liegen, oder im kollektiven Unbewussten oder sogar in dem, was wir das Göttliche heißen. Es kann so völlig an der Oberfläche liegen, dass kaum eine Realität über die rein instrumentalen Funktionen hinaus bemerkbar wird; man denke an den oberflächlich-weltlichen Typus und an jenen anderen, in unserer Zeit so häufigen, der seine Seele restlos in dem ausdrückt, was eine Maschine ebensogut auszuführen vermöchte. Nun ist es offenbar möglich, eine soziale Ordnung auf die hier beschriebenen Unterschiede zu gründen und nicht auf die instrumentalen Könnens; obgleich jene sich nie so nachweisen lassen wie technische Tüchtigkeit, sind sie unmittelbar für jeden zu erkennen, der gelernt hat, sich auf Sein überhaupt einzustellen, überdies lässt sich ihr Vorhandensein durch den pragmatic test beweisen. Sein wirkt genau so auf Sein, wie jede Kraft auf andere, der gleichen Ebene angehörende Kräfte einwirkt.

Auf diesen Seinsunterschieden beruhen alle aristokratischen Gesellschaftsordnungen. Ihre Ordnung muss notwendig eine hierarchische sein; denn da das Wesen des Seins in seiner Einzigkeit liegt, muss der Unterschied hier und nicht die Gleichheit herrschendes Prinzip sein. Nun hängt alle Führerschaft immerdar vom Seinszustand ab. Nur der vermag persönlich andere zu beherrschen — persönlich im Gegensatz zur rohen Gewalt oder unpersönlichem Mechanismus —, dem andere unwillkürlich folgen oder gehorchen; und dies tun sie, falls ihr Seinsniveau das niedrigere ist. Die Seelen sind nicht wie die Körper voneinander geschieden; wer daher seine eigene Natur beherrscht, erweist sich naturnotwendig als der geborene Führer derer, die keine Selbstbeherrschung haben. So hat denn die Aristokratie eine durchaus gesunde Grundlage. Demgemäß mündete in den meisten Ländern der Kampf zwischen demokratischer und aristokratischer Lebensauffassung in einen Kompromiss ein. Persönliches Können fand alle Möglichkeiten, sich durchzusetzen; andererseits wurden Seinsunterschiede in irgendeiner Form berücksichtigt. Nur in einem Lande ist die unbestreitbare Wahrheit, dass es Seinsunterschiede gibt, vollkommen außer acht gelassen worden. Dieses eine Land ist Amerika. Dort, und dort allein, ward die ganze soziale Ordnung auf der Voraussetzung aufgebaut, dass die Menschen unter allen Umständen als gleich geboren sind, und dass alle Qualitätsunterschiede vom Begriff des Könnens her vollkommen zu verstehen und zu würdigen seien. Doch die amerikanische Demokratie machte einen von ihrem Standpunkt aus verhängnisvollen Fehler: sie übersah in ihrem Bild vom Leben die Frau. So fand das instinktive Wissen um die Wahrheit, dass es eben doch Seinsunterschiede und nicht nur solche des Könnens gibt, in ihrem Fall eine Äußerungs­möglichkeit. Sollen in Amerika alle Männer gleich sein, so erkennt jeder Amerikaner instinktiv an — wenn nicht in seinen Worten und Gedanken, dann desto mehr in seiner Haltung und seinen Handlungen —, dass die Frau einen höheren Seinstypus verkörpert als er.

Die Frauen stellen im heutigen Amerika tatsächlich eine höhere Kaste dar. Dass sie es so weit bringen konnten, ist gewiss nicht ausschließlich dem zu danken, dass der amerikanische Mann sein instinktives Wissen um Seinsunterschiede durch dies Ventil allein abzureagieren vermochte, und dass die Frau außerhalb des demokratischen Lebensbildes verblieben war. Der Hauptgrund ist der, dass vom männlichen Standpunkt gesehen das unterscheidende Merkmal der Frau in jedem Fall die unmittelbare Ausstrahlung ihres Seins ist, so dass es sich beim amerikanischen Mann nicht um die Übertragung (im psychoanalytischen Sinn) eines Urbildes aus dem Unbewussten auf irgendein Objekt handelt, sondern um Erkenntnis der Wirklichkeit. Ein amerikanischer Mann, der in seiner eigenen Vorstellung ausschließlich das Können vertritt, muss desto stärker die andersartige Einstellung der ursprünglichen Natur der Frau empfinden — was die sonst paradoxale Tatsache erklärt, dass weibliches Sein just in dem Lande am meisten bedeutet, in dem die Frau am aktivsten ist und sich selbst in erster Linie vom Begriff des Könnens her beurteilt. Doch die entscheidende historische Ursache der Vorherrschaft der Frau in den Vereinigten Staaten ist tatsächlich im Oben gesagten zu finden. Sonst hätte die Frau nicht ein von dem des Mannes so grundverschiedenes Selbstbewusstsein entwickeln können. Es war die Ehrfurcht des Mannes vor der Frau, die dieses Selbstbewusstsein herangezüchtet hat, genau wie es in aristokratischen Gemeinwesen die Ehrfurcht der niederen vor den höheren Ständen war, welche in den Kindern dieser immer erneut Überlegenheitsgefühl ins Leben rief. Die amerikanische Frau fühlt sich ursprünglich überlegen; dieses Gefühl ist der tiefste Grund ihrer tatsächlichen Überlegenheit und Herrschaft. Denn Gefühl ist unmittelbarer Seinsausdruck auf der subjektiven Ebene; es ist tatsächlich unmöglich zu empfinden, was nicht wirklich ist. So hat sie eben die für jede Herrscherrasse charakteristischen Eigenschaften entwickelt. Sie besitzt unmittelbare Autorität; sie braucht ihre überlegene Stellung nicht zu beweisen, diese wird als selbstverständlich anerkannt. Daher geben diejenigen, welche die Schnur des Geldbeutels festhalten, alles Geld, das sie aufbringen können, ihren Frauen und Töchtern, und diese geben es oft genau so aus, wie aristokratische Lebemänner das von ihren Lehnsleuten aufgebrachte Einkommen vertaten. So entscheiden die Geschworenen ganz selbstverständlich in den meisten Ehescheidungsprozessen zugunsten der Frau. Gleiches erklärt, warum die Höflichkeit des Amerikaners gegenüber der Frau eine ganz andere ist als europäische Ritterlichkeit: deren Seele war und ist noch die Achtung des Starken vor dem Schwachen, während jene offensichtlich alle Zeichen der Ehrfurcht des niederen für den höheren Stand trägt. Gleiches erklärt schließlich, warum the marrying sort of girl drüben nicht einfach als ein Greuel gilt; so wie die Dinge liegen, wird sie mit der gleichen Nachsicht beurteilt, wie in Europa die gelegentliche Verderbtheit des Grandseigneurs.

Hier finden wir denn den wahren Seinsgrund der furchtbaren Macht der amerikanischen Frauenklubs und anderer Frauenorganisationen. Rein finanziell beurteilt sind die Männerorganisationen viel mächtiger; da aber die Frau die der anerkannt höheren Kaste zustehende Autorität ausübt, ist ihr Einfluss, außer allem Verhältnis zu den Tatsachen. Wenden wir uns hier noch einmal Watsons Einwand, dass die Männer noch die Schnur zum Geldbeutel halten, zu. Die Geschichte beweist, dass die herrschenden Stände in den meisten Fällen nicht die reichen waren; oft legten sie sogar Wert darauf, nicht reich zu sein, um den Massen desto eindringlicher zu zeigen, dass ihr Supremat ein Unerreichbares war; denn durch Arbeit kann jedermann reich werden, aber niemand vermag einen Seinszustand zu erreichen, der nicht potentiell wenigstens von Haus aus der seine war. Dies führt uns derer zur endgültigen Erledigung des modernen Vorurteils, dass Arbeitstüchtigkeit als solche zu überlegener Stellung führt. Gerade die amerikanische Religion der Arbeit ist es gewesen, die die Frau am meisten zur Erringung der psychologischen Vorherrschaft verholfen hat. Die Urwahrheiten des Lebens bewähren sich eben überall trotz aller Theorie. Eine dieser Wahrheiten besagt, dass der Arbeiter dem Herrn immer unterlegen ist — dem Herrn als dem Typ, der auf Grund von Fähigkeiten, die dem anderen fehlen, dessen Arbeit von oben her regieren kann. Im alten Rom kam es gelegentlich vor, dass ein verhältnismäßig armer Mann einen Sklaven besaß, der über ungeheure Reichtümer verfügte, welche jener ihm nicht fortnehmen durfte — und doch blieb der Sklave Sklave, von seinem Herrn vollkommen abhängig bis auf den einen Punkt persönlichen Besitzes. Herrschernaturen sind wesentlich nicht emsig und geschäftig im Sinn des geborenen Arbeiters, weil das, was sie allein leisten können, nicht von Leistung im üblichen Sinne abhängt, sondern von der unwillkürlichen Ausstrahlung ihres Seins. Die Engländer sind wesentlich faul, aber andere arbeiten unwillkürlich für sie. Nun ist das Verhältnis der amerikanischen Frau zum amerikanischen Mann dem der Engländer zu ihren fremdstämmigen Untertanen nahe verwandt. Nur dass es in ihrem Fall so extrem ist, dass ich auf meiner Reise in den Vereinigten Staaten immer wieder an zwei Vergleiche denken musste, die den meisten Amerikanern ungeheuerlich erscheinen werden. Der erste ist das Verhältnis des ägyptischen Sklaven oder Pächters zur ägyptischen Königin. Der Fellah konnte sich nichts Besseres träumen, als Tag und Nacht für sie zu fronen; sie jedoch gab seinen Verdienst selbstverständlich nach Gutdünken aus. Der andere Vergleich ist der des orientalischen Harems. Die Frauen werden in Amerika allerdings nicht eingesperrt. Wohl aber die Männer. Sie sind im Büro eingesperrt, was psychologisch genau das gleiche bedeutet.

Die Inferiorität des Mannes im Vergleich zur Frau ist in der Tat, das Hauptkennzeichen der amerikanischen Gesellschaftsordnung. Zu den schon gegebenen Illustrationen, Beweisen und Erklärungen sei hier noch die folgende hinzugefügt: nämlich dass der auf den Puritanismus zurückzuführende Inferioritätskomplex des Amerikaners, insbesondere seine Seelenangst, im Mann viel stärker ist als in der Frau, weil der Puritanismus patriarchalisch gesinnt war. Die Frau galt nicht als initiativefähig, daher empfand sie die Last der Erbsünde weniger schwer als er; primär konnte sie nicht schuldig sein. Es ist daher nur logisch, dass die Wiederherstellung der Rechte des Fleisches in den Vereinigten Staaten von der Frau ausging und nicht vom Mann. Gewiss gibt es Millionen von Hausständen, wo die Stellung der Frau nicht viel anders ist als normalerweise in Europa; überall, wo Mann und Frau aktive Geschäftsteilhaber innerhalb eines engen Lebensrahmens sind und ihre Existenz von ihrer Zusammenarbeit abhängt, setzt sich die naturgeforderte Gleichheit von selber durch. Dies gilt ja auch vom Orient. Doch alle Geschichte beweist, dass ein Volkstypus seinen Ursprung nie den in der Dunkelheit Schaffenden dankt, sondern denen, die zu prominenter Stellung aufstiegen. Einflüsse wirken immer von oben nach unten. Manchmal brauchen sie lange, um sich durchzusetzen. So habe ich mir sagen lassen, dass die Sitten des untersten deutschen Mittelstandes von heute ungefähr der Hofetikette des 11. Jahrhunderts entsprechen. Gleichsinnig wird das, was heute in den ersten Kreisen Amerikas von der Vorherrschaft der Frau gilt, unausbleiblich über kurz oder lang in noch so abgeschwächter Form von der breiten Masse gelten, es sei denn, eine große Wandlung verändere die Entwicklungsrichtung. Gerade in den Vereinigten Staaten kann dies nicht anders kommen: da Demokratie drüben gleiche Gelegenheit für alle bedeutet und Reichtum als Beweis von Überlegenheit gilt, müssen die wohlhabenden Volksschichten gerade drüben auf die Dauer die wahren Vertreter des Landes werden.

1 Ich habe den Ausdruck und das, was er vertritt, im Kapitel Weltüberlegenheit der Schöpferischen Erkenntnis ausgeführt erklärt.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME