Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Die amerikanische Landschaft

Seelenlosigkeit

Zunächst — was ist die amerikanische Landschaft? Es ist nicht die Landschaft im engeren Sinn. Es ist nicht, was Erziehungsfanatiker so leicht und schnellfertig Umgebung heißen. Die Landschaft eines bewohnten Kontinents ist das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Natur und Mensch.

Dieses Ergebnis trägt je nach den Umständen mehr das Gepräge des Menschen oder der Natur. In Japan und Holland ist der bestimmende Faktor der Mensch; ohne ihn existierte selbst die physische Landschaft, wie sie sich heute dem Auge darbietet, nicht. Demgegenüber dominiert in der Schweiz die leblose Natur. Gleiches gilt, mutatis mutandis, in bezug auf die Fischer- und Seefahrertypen der ganzen Welt; noch gab es, in der Tat, keinen Menschen und kein Volk genügend mächtigen Geists, um dem Meere sein Gepräge aufzudrücken. Gleiches gilt in allerhöchstem Maß von Afrika. Nicht weil Afrika, als Ganzes gesehen, ein Wüstenland ist, auch nicht, weil dort unsere Erde deutlicher als irgendwo sonst als Stern unter anderen wirkt, der in der Leere des kosmischen Raumes kreist, ohne dass das Leben eine bemerkenswerte Rolle auf ihm spielte, liegt in Afrika der Nachdruck auf der Natur und nicht auf dem Menschen — sondern gerade weil dort das Menschenleben seit Jahrtausenden auf der Ebene des Geistes und der Seele dominiert hat: es hat selber die herbe Größe des kosmischen Charakters der afrikanischen Landschaft angenommen, wie dies die hehren religiösen Gestalten, die Afrikas Boden gebar, bezeugen. Grundsätzlich gesprochen hängt der resultierende Gleichgewichtszustand zwischen Mensch und Natur vom Wechselverhältnis der wirkenden Kräfte ab. Der Mensch dominiert desto mehr, je begabter und entwickelter er ist. Hieraus sollte folgen, dass alle Länder, die lange genug vom modernen technisierten Menschen bewohnt wurden, wesentlich Menschenland seien; und das besagt, dass von allen Kontinenten der nordamerikanische am stärksten humanisiert sein sollte. Dies ist indessen nicht der Fall. Als ich 1912 das Yosemitetal durchreiste, schrieb ich:

Es wird mir außerordentlich schwer, ein geistiges Leben zu führen; nur mit ungeheurer Anstrengung gelingt es mir, meinen Geist auf Ewigkeitsprobleme zu konzentrieren, die Großartigkeit der mich umgebenden Natur findet in meiner Seele kaum einen Widerhall.

Genau das gleiche erlebte ich 1928 im ganzen Gebiet der Vereinigten Staaten, sobald ich die Tore meiner Seele und meines Geists den Einflüssen der Umwelt öffnete. Und als ich mir alsdann meine afrikanischen Erlebnisse ins Gedächtnis zurückrief, erkannte ich den Grund: Amerika wirkt als der denkbar größte Gegensatz zu Afrika, weil es noch keine Seele hat. Noch sind keine Götter aus seiner Vermählung mit dem Menschen entsprossen. Wohl lebte einmal Manitou, und er geistert auch noch hie und da über der Prärie. Aber die Indianer waren im Vergleich zu ihrem Land gar schwach; so gewann er nie die Kraft, zur Seele des Kontinentes zu erwachsen, wie es Osiris und Allah und Jahveh auf dem ihren wurden. Äußerlich herrscht der Mensch in Nordamerika freilich vor, was er in Afrika nicht tut. Aber er herrscht ausschließlich als physisches Wesen. Psychisch hat er die Natur nicht besiegt — sei es im Sinn der Inder, für welche Natur nur ein Schleier ist, der den Geist nicht viel anders verhüllt, wie Frauen Schleier tragen, um desto verführerischer zu wirken; oder im Sinn der Griechen, denen die Natur den entsprechenden Ausdruck bedeutete für ihre inneren Seelenbilder.

Dies scheint mir das primäre und entscheidende Charakteristikum der amerikanischen Landschaft zu sein. Nun mag man einwenden, dass die psychische Atmosphäre Indiens, Griechenlands und Japans, wie wir sie heute kennen, da sie gerade erst von ihren jetzigen Beherrschern in Besitz genommen worden waren, gewiss noch nicht vorhanden war; zur Bewältigung der Materie braucht die Seele Zeit. Der Einwand ist berechtigt. Aber wir haben es hier einzig mit dem heutigen Amerika zu tun. Und heute bietet Amerika ein Schauspiel, das in dieser Reifezeit unseres Planeten unmittelbar erstaunlich wirkt: der Mensch herrscht drüben nicht anders vor, wie zu seiner Zeit der Saurier. Hiermit gelangen wir denn mit einem Schlage dazu, die grundlegende Bedeutung jenes geheimnisvollen Etwas, welches psychische Atmosphäre genannt wird, zu erfassen — jenes Etwas, das im gleichen allgemeinen Verstand von allen erlebt wird, welche die zu seiner Wahrnehmung nötigen Organe besitzen. Ich will hier nur die Tausachen anführen, ohne weitere Erklärungen. Der Mensch ist in erster Linie ein psychisches Wesen; seine unmittelbaren Erfahrungen sind psychischer, nicht physischer Natur. Überdies ist das Unbewusste aller Menschen verbunden, so dass der Hintergrund der Gedanken und Empfindungen jedes einzelnen zugleich den Hintergrund für die ihn umgebenden Menschen bildet; dies erklärt mindestens vierzig vom Hundert der Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern, die sonst gewöhnlich der Vererbung zugeschrieben werden, so wie es sicher neunzig vom Hundert aller völkischen Geistes- und Seelengleichheit erklärt oder die Gleichartigkeit von Zeitgenossen, die dem gleichen Kulturkreis angehören, unabhängig von der Nationalität. Unter diesen Umständen muss der dem kollektiven Unbewussten zugehörige Hintergrund entsprechend der Quantität und Qualität der wirkenden psychischen Kräfte einerseits, und der Wirkungsdauer dieser Kräfte andererseits, als Naturkraft unter anderen an Bedeutung zunehmen. Dies erklärt, warum die europäische Atmosphäre wesentlich intellektuell und zum Denken anregend, während die nordafrikanische spirituell ist, trotz der Vorherrschaft der Natur.

Demgegenüber ähnelt die psychische Atmosphäre Nordamerikas der russischen und nord- und zentralasiatischen. Dies hat seinen Grund darin, dass in allen drei Fällen der Gedanken- und Gefühlshintergrund, von dem sich der einzelne Eingeborene des Landes abhebt, ein ganz geringfügiger Faktor ist, verglichen mit den wirksamen physischen Kräften. Hieraus erklärt sich, warum sowohl in Russland als auch in Amerika im Gegensatz zu Europa der Alkohol nicht als Reiz- sondern als Betäubungsmittel benutzt wird: nur wenige Menschen haben ursprüngliche Gedanken oder Gefühle, und bewusstlos zu werden ist freilich der einfachste Weg, um über das Gefühl innerer Leere hinwegzukommen. Dies erklärt auch, warum in Russland sowohl als in Amerika und Zentralasien jede ursprüngliche seelische Betätigung den Eindruck nicht nur zügelloser, sondern auch ungeheuerlicher und maßloser Energie macht: sie betätigt sich gewissermaßen in einem Vakuum, was notwendig das Gefühl des horror vacui verursacht. Die Psychologie eines Dschingis Khan, der wie ein Sturmwind die Welt durchbrauste, eines Peter des Großen oder eines Lenin, die ihren persönlichen Willen Millionen von Menschen aufzwangen, oder eines amerikanischen Trustmagnaten, der jede Nation für gottlos erklärt, die ihr Petroleum nicht von ihm bezieht, oder der es von jedem Standpunkt, zumal dem moralischen, für das einzig Mögliche hält, dass jedermann nur den von ihm fabrizierten Automobiltypus benutzt, ist in dieser Hinsicht wesensgleich. Aber dieselben Überlegungen erklären auch einen großen Teil jener Seelenlosigkeit, über die so gut wie alle Ausländer als für den Amerikaner bezeichnend klagen. Auf den ersten Blick erscheint dies sonderbar, denn die ersten Ansiedler waren wahrscheinlich nicht weniger gefühlsbegabt als irgendwelche andere Vertreter der europäischen Stämme, denen sie entsprossen; und Gleiches gilt von den meisten späteren Einwanderern. Doch sinnt man dem Probleme weiter nach, so versteht man bald, warum es nicht anders sein kann: die amerikanische Seelenlosigkeit ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Amerika noch eine Kolonie ist, und dass eine wirklich bodenständige Kultur bisher noch nicht erwuchs.

Hiermit haben wir einen wichtigen Punkt erreicht. Was von den heutigen Amerikanern zu sagen ist, galt zweifellos von allen Kolonisten aller Gegenden und aller Zeiten, solange sie in ihrer psychischen Einstellung Kolonisten blieben. Die Erklärung dafür liegt in folgendem: was immer die genauen Ursachen sein möge — wir sind in der Psychologie noch nicht weit genug vorgedrungen, um sie mit hinreichender Sicherheit zu bestimmen, die Erfahrung beweist, dass ein Volk, wenn es seinen Wohnsitz ändert, allgemein gesprochen, seinen Körper, nicht jedoch seine Seele mitnimmt; die einzigen uns bekannten Ausnahme sind die altgriechischen Kolonien, die sich von ihren Mutterstädten auf ähnliche Weise loslösten wie schwärmende Bienen von ihrem Stamm; das heißt, sie ließen sich in fremden Landen als völlig organisierte Körper nieder und nahmen alles mit, ihre Götter obenan. Die Juden gehören gleichfalls zu diesem Typus. Bei allen anderen Auswanderern hört die Tradition im Sinn eines ununterbrochenen kollektiven Unbewussten als Lebenshintergrund nach wenigen Generationen zu bestehen auf; sie mag im Bewusstsein oder in einer abgelegenen Schicht des Unbewussten in Form von dem, was Psychoanalytiker als Komplexe oder Verdrängungen bezeichnen, fortleben — lebt sie nur dort fort und nur in dieser Form, so besitzt sie keine schöpferische Kraft im konstruktiven Sinn; alle wirklich lebendigen Seelenkräfte entstammen einem ununterbrochenen und durchorganisierten Unbewussten. Andererseits nun war jede neuentstehende vitale Tradition eine örtliche Tradition. Für diese Tatsachen nun gibt es, soweit ich urteilen kann, nur eine befriedigende Erklärung: dass die Welt der Empfindungen und Gefühle — ich spreche hier notabene von den Empfindungen, welche der empirischen im Unterschied von der metaphysischen Ebene geistiger Erfahrung angehören — eng mit der Erde verknüpft sind. Aus dieser Erkenntnis folgt a priori, dass jeder, der seine Heimat für immer verlässt, dadurch rassenmäßig, nicht persönlich gesprochen, seine Seele aufgibt. Und dies kann im Lauf der Zeit nur zu völliger Seelenlosigkeit führen, welche andauern muss, bis dass eine neue Seele aus der neuen Gemeinschaft mit Mutter Erde geboren ward. Eben dies beobachten wir heute in den Vereinigten Staaten. Aber Gleiches hätte zweifelsohne überall beobachtet werden können, wo eine Kolonialseele sich lange als solche erhielt. Die germanischen Eroberer Italiens und Galliens waren sicherlich lange Zeit hindurch ohne eigene Seele, nämlich in der Spanne zwischen der Zeit, da ihre ursprünglichen Stammeserinnerungen verblassten, und der späteren Zeit, da der Eigengeist Italiens und Galliens sie durchdrang; wenn die Antike in den nordischen Menschen jener Tage reine Barbaren sah — während andererseits Tacitus, dieser römischste aller römischen Schriftsteller, sein Loblied des eingeborenen Germanenlebens schrieb —, so lag das sicher daran, dass sie ebensoviel Grund hatte, diese seelenlos zu heißen, wie Europa, wenn sie das Wort auf die Amerikaner anwendet. Und hier möchte ich gleich auf eine Seite des Negerproblemes eingehen. Wie kommt es, dass der Schwarze in den Vereinigten Staaten einen so unverhältnismäßig gewaltigen Einfluss auf allen Gebieten des emotionalen Lebens ausübt? Es kommt daher, dass von allen Ansiedlern der Schwarze allein sich sofort dem Geist der neuen Erde hingab. Er war nicht in der äußeren Lage, sie einfach auszubeuten; er konnte auch kein von der Erde unabhängiges geistiges Leben führen, weil ihm die geistigen Gaben dazu fehlen; so wurde er unter den Siedlern der einzige Bauerntyp. Dank dem konnte der Neger eine echte Seele entwickeln, und da er emotional hoch begabt ist, so konnte er sogar eine überaus mächtige Seele entwickeln. In der gleichen Region des Unbewussten bestand und besteht beim weißen Amerikaner noch verhältnismäßige Leere. Infolgedessen drang die schwarze Seele in sie ein und tut es weiter, so wie ein Gas mit ungeheurer Gewalt in einen leeren Raum einströmt.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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