Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Moralismus

Herrschaft der öffentlichen Meinung

Was ist also am Puritanismus verkehrt? Dass das Nein-Prinzip auf seinem Hoheitsgebiete vorherrscht. Von der anderen Seite her betrachtet bedeutet dies, dass der Puritanismus dem Menschen nicht erlaubt, seine ganze Natur zum Ausdruck zu bringen. Doch er bedeutet ein noch viel Gefährlicheres: da die puritanische Weltanschauung allen Nachdruck auf das Negative legt (wer immer Reinheit anders denn als Unbefangenheit versteht, muss den Nachdruck dorthin legen), trennt sie gewissermaßen einen kleinen Teil des Menschen vom übrigen ab und zwingt ihn dergestalt, seine sämtlichen Energien innerhalb dieses Bruchteils seines Wesens auszuleben. Solche Abtrennung ist nun ein überaus gefährlicher chirurgischer Eingriff, der nur in seltenen glücklichen Fällen nicht zu pathologischen Deformationen führt. Der ursprüngliche Puritaner war gewiss nicht pathologisch, so wenig wie der echte Islamit. Aber die Puritanerreligion war jenen harten, großen und einfachen Charakteren wirklich angemessen. Diese waren naturgewollte Puritaner, genau wie andere Menschenfresser sind. Dies führt uns denn zu des Puritanismus Hauptgefahr: unvermeidlich macht er die Seele leer. Soll das gestrenge Gesetz allein herrschen; liegt aller Akzent auf dem Verbot; soll abstrakt formulierte absolute Wahrheit mehr bedeuten als das Leben selbst — dann kann sich der fühlende Teil des Menschen nicht entfalten. Und nach dem Gesetz der kompensatorischen Rückentwicklung muss dieser dann in gleichem Maß rudimentärer oder primitiver werden, als die Differenzierung nach anderen Richtungen fortschreitet. Puritanischer Wurzel kann höchste Intellektualität entsprießen. Alle westliche Wissenschaft ist protestantischen Ursprungs, und die eigentümliche Schärfe des amerikanischen Intellekts ist höchstwahrscheinlich, zum Teil wenigstens, auf das Exzessive des amerikanischen Protestantismus zurückzuführen. Nirgends wird so viel gefragt, so viel erklärt, so viel geschlossen, wie in den Vereinigten Staaten. Gleicher Wurzel kann auch höchste Tüchtigkeit entsprießen. Gibt es nur einen Kanal, durch den alles Leben abzufließen hat, dann muss dessen ganze Energie diesen durchströmen. Ebendeshalb waren die Juden, die ersten Puritaner, die Erfinder der Religion der Arbeit. Der Puritanismus kann insbesondere Giganten der Willenskraft erzeugen. Doch bei puritanischer Einstellung müssen andererseits alle Kräfte des Erlebens atrophieren. Deshalb kennen die Amerikaner als Typen keine vitalen Geistesprobleme; deshalb ist ihre Tüchtigkeit fast niemals Wesensausdruck. Deshalb fehlt typischerweise die eigentliche Schöpferkraft. Der Amerikaner weiß von der Arbeit, nicht jedoch vom Werk.

Daher denn das letztlich Unlebendige alles dessen, was im puritanischen Amerika Tiefe zum Ausdruck bringen soll. Die Religion ist rein dogmatisch; sie bietet keinen Raum für schöpferische Freiheit, weit weniger als der Katholizismus. Der Idealismus puritanischen Geblüts ist rein abstrakt oder aber losgelöst von dieser Welt. Alles zur Lyrik Gehörende hat etwas Geisterhaftes, Transzendentales; es gibt in der Welt nichts so Ätherisches und insofern dermaßen Unwirkliches wie typisch neuenglische Romantik oder Lyrik. Gleiches gilt von allen amerikanischen Vorstellungen von Liebe bis vor ganz kurzer Zeit. Amerikanische Frauen ergingen sich gern in großen Worten über die Göttlichkeit des Geschlechtlichen; sie stellten sich selbst als Priesterinnen vor und dar und legten der natürlichen Hingabe des Weibes unermeßlichen Wert bei — was allein zur Erklärung dessen genügt, dass Heiraten oder Nichtheiraten jüngst zu einer so einträglichen Frauen-Industrie werden konnte. Die ganze Sentimentalität amerikanischer Liebe und all ihr Idealismus lässt sich aus dem, was wir bisher erkannten, restlos erklären: nämlich, dass der Puritanismus die Abtrennung oder Abbindung eines Teils des Menschen bedeutet. Drückt der Mensch das, was ihn von innen her treibt, auf einem Gebiet völliger Unwirklichkeit aus, so bedeutet das allemal — den wahren Dichter ausgenommen — dass er den Zusammenhang mit seinen lebendigen Wurzeln verloren hat. Darum scheinen amerikanische Frauen so oft zu Liebe im europäischen Sinne nahezu unfähig: was Ausdruck ihres ganzen Wesens sein sollte, wird in ihrem Fall nur durch einen kleinen Bruchteil desselben genährt. Verglichen mit der differenzierten Seele einer kultivierten Europäerin oder Orientalin, ist die Seele der Amerikanerin, die ich hier meine, nahezu vollkommen leer, so unglaublich einfach — wenn auch eben deshalb oft, über alle Begriffe rein —, dass die reichere Seele sich leicht getrieben fühlt, sie aus sich heraus zu füllen und so eine Göttin aus einem leeren Gefäß zu machen.

Aber aus den gleichen Erwägungen heraus erklärt sich, wie der Idealismus der amerikanischen Frau in Dingen der Liebe so unvermittelt in reinen Materialismus umschlagen konnte: führt das Seelenleben eine von der Lebensganzheit geschnittene Sonderexistenz, so muss Gleiches vom physischen Geschlechtsleben gelten. Der Übergang von reiner Spiritualität zu reinem Materialismus ist für die amerikanische Idealistin viel leichter als für irgendeine andere Frau der Welt. Überall liegt der Schlüssel zum Problem in der Unterentwicklung und dem Zustand einseitiger Differenzierung dessen, was wir Seele heißen. Wie sollten Liebe und Ehe unter solchen Umständen beglückend sein? Wie kann da — so wie die Menschennatur nun einmal ist — anderes und Besseres erfolgen als ein Jagen von einer Erfahrung zur anderen in der Hoffnung, das dem eigenen Inneren Fehlende von außen her zu gewinnen? Es ist nur natürlich, dass ein ungeheurer Prozentsatz amerikanischer Frauen aus den nichtarbeitenden Ständen neurotisch ist und die entsprechende Männerschicht erschöpft oder verbraucht. Wo er nicht allzusehr vorherrscht, treibt ja Instinkt den Mann, die geliebte Frau glücklich zu machen, und der seelisch Leere sucht diesen Mangel allemal durch intellektuelle oder physische Überanstrengung zu kompensieren. Das Ebengesagte erklärt zum Teil sogar die heutige Überschätzung von Athletik und Sport. Und damit habe ich noch nicht alle Mängel und Nachteile des gegenwärtigen Zustands aufgezählt. Sind die Gefühle nicht differenziert, so muss es der emotionalen Natur von Mann und Frau, die — wie Jung gezeigt hat — zur rationalen Seite der Psyche gehört, an Verstehen gebrechen. Ein paar bezeichnende Beispiele zur Illustration der Tatsache. Erstaunlich selten wissen Amerikaner zwischen Verliebtheit und wahrer Liebe — von zarteren Nuancen ganz abgesehen — zu unterscheiden. Verliebt sich ein Mann oder eine Frau überhaupt, dann muss sofort geheiratet werden. Andererseits macht sich eine Frau nicht das mindeste daraus, ihren Mann zu verlassen, sobald sie sich von einem anderen nur physisch angezogen fühlt. Dies ist natürlich ein Ausdruck puritanischer Gesinnung: das moralische Gesetz muss befolgt werden um jeden Preis. Aber wie ist es nur möglich, nicht einzusehen, dass es Dutzende verschiedener Arten Liebe gibt und dass es unsinnig ist, sie alle in die gleiche Bahn zwingen zu wollen? Wie ist es nur möglich, nicht einzusehen, dass der Mensch all den vielen Fragen und Problemen des Lebens unmöglich gewachsen sein kann, wenn er ausschließlich vom Standpunkt eines akzeptierten moralischen Kodex ausgeht? Nur eine Erklärung gibt es dafür: Unterentwicklung und Undifferenziertheit der Seele. Im letzteren Falle ist es, andererseits, nur natürlich, dass eine Frau es sich nicht zweimal überlegt, ehe sie einen Mann heiratet, nur weil er den Vorzug geschlechtlicher Anziehungskraft besitzt; dass sie ein auf vielfachen Banden beruhendes Eheleben um einer bloßen Augenblicksverliebtheit willen leichten Herzens zerstört; dass sie sich nichts daraus macht, die Seelen von Mann und Kindern tödlich zu verletzen — sie begreift einfach nicht, dass Seelenwunden das mindeste bedeuten; dass sie die Tortur eines Scheidungsprozesses mit der ganzen in den Vereinigten Staaten damit verbundenen Publizität durchhält, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Seele. Einen besonders interessanten Aspekt seelischer Unterentwicklung bietet der amerikanische Offenheitskult. Das jüngste Modemodell der amerikanischen Frau — ich schreibe im Jahr 1928 — meint, sie dürfe alles tun, wenn sie es nur ihrem Manne sagt. Sie sieht nicht ein was jeder differenzierten Seele selbstverständlich ist —, dass verletzende Offenheit immer Verbrechen ist, es sei denn, dass nur eine grausame Operation eine unmögliche Situation zu lösen vermag; dass wenn sie nicht begreift, dass Eifersucht eine Naturtatsache ist, auf die Rücksicht genommen werden muss, sie sich einfach seelischer Roheit schuldig macht; dass, endlich, Im Recht-sein-Wollen um jeden Preis moralische Feigheit bedeutet. Vom Standpunkt einer feinen Seele erscheint diese Art Offenheit fast schlimmer als Prostitution. Ich kenne kein instruktiveres Beispiel für die Tatsache, dass alles Gute, falsch verstanden und angewandt, böse werden kann. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit sind allerdings recht eigentlich die Grundpfeiler der westlichen Kultur, und ein ehrlicher Mensch ist allgemein gesprochen der bessere Mensch, weil er der mutigere ist. Hier aber bedeutet Ehrlichkeit nur moralische Feigheit. Hat ein Mensch, ob Mann oder Frau, das Gefühl, er müsse tun, was dem anderer wehtun muss, und kann die Schuld nicht allein tragen; stirbt er nicht lieber, ja fährt er nicht lieber zur Hölle, als dass der andere je etwas erfahre — so ist er verächtlich eben auf Grund der richtig verstandenen westlichen Ethik des Muts. Ich denke nicht daran, der Polygamie oder Polyandrie das Wort zu reden. Wohl aber glaube ich mit Christus, dass die Seele voran steht und dass ihr gegenüber alle anderen Erwägungen — physische, intellektuelle oder moralische — zurückzustehen haben. Was am amerikanischen Liebesleben wirklich verkehrt ist, ward mir zuerst ganz klar, als mir folgende Geschichte erzählt wurde. Einer der prominentesten Richter der Vereinigten Staaten soll von meinem ersten Aufsatz im Ehebuch gesagt haben:

Ich halte das, was Keyserling sagt, für richtig. Aber als Richter bin ich’s gewohnt, die Dinge zusammenzufassen. So würde ich seine ganze Lehre in folgenden Satz kleiden: Mehr und besseren Ehebruch.

Natürlich hat er es nicht genau so gemeint, wie er es sagte. Aber seine boutade war nicht allein geistreich, sondern auch tief. Nur ein Amerikaner hätte das sagen können. Was jener Richter meinte, war dies, dass der Hauptgrund alles Unbefriedigenden am amerikanischen Liebesleben Undifferenziertheit des Gefühlslebens ist. Hier können wir einige Gedankengänge des vorletzten Kapitels zu Ende führen. Ist die Amerikanerin als Typus hart und seelenlos und außerstande, inspiratorisch zu wirken, so ist das Folge ihres puritanischen Erbes oder des Einflusses der puritanischen Atmosphäre. Gleiches erklärt zum Teil, warum weder die amerikanische Frau noch der Mann wirklich vital ist, und warum beide mit jeder neuen Generation an Vitalität zu verlieren scheinen. Das Abbinden eines Gliedes verhindert seine Durchblutung. Das psychische Leben des Amerikaners ist blutlos in dem Sinn, dass es nicht von der Gesamtheit der Gefühle genährt wird. Und doch liegt alle lebendige Kraft in den Gefühlen. Von ihnen hängt alles Schöpfertum ab.

Doch ich kann diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne vorher auf die puritanische Wurzel zweier weiterer typisch-amerikanischer Erscheinungen hingewiesen zu haben. Die eine ist der Missionsgeist. Noch nie begegnete mir ein Amerikaner puritanischer Herkunft, der nicht recht eigentlich ein Missionar gewesen wäre; in der modernen Welt äußert sich dieser Geist am häufigsten in Verkäufertum und Reklamewesen. Welches ist nun das psychologische Grundmerkmal des Missionars? Mangel an innerem Gleichgewicht und Selbstsicherheit. Der mit sich selbst und der Welt in Einklang Stehende denkt gar nicht daran, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Sein Motto ist Leben und leben lassen; selbst wo er zweifellos besser Bescheid weiß, versucht er nie, seine Meinung aufzudrängen. Er tut es um so weniger, je klüger er ist, weil er dann weiß, dass gegen seinen Willen keiner zu bekehren ist. Freilich tritt er für die Wahrheit ein; freilich verkündet er sie. Nie jedoch treibt ihn der Grundtrieb des Missionars: der Wille zu überreden. Befindet sich nun ein Mensch im Zwiespalt mit sich selbst und der Welt, darin muss er sie erobern, um sich sicher zu fühlen. Und ist der größte Teil seines Wesens überdies von seinem Bewusstsein abgeschnürt, beherrscht ihn irgendein enges Prinzip und ist er hart von Natur, dann liegt sein einziges Heil in der Bekehrung des Weltalls zu seinen Ideen. Auch dies erklärt mit die amerikanische Standardisierungssucht. All diese so erfolgreichen Geschäftsleute und Verkäufer sind im Grunde ihres Herzens unglückliche Missionare. Und eben aus diesem Grund überzeugen sie keinen, der nicht zu ihrem Typus gehört, es sei denn, er sei so ausschließlich auf materiellen Gewinn erpicht, dass die bloße Möglichkeit von big money ihn zum ehrlichen Konvertiten macht.

Die zweite Erscheinung, deren puritanische Wurzeln ich hier bloßlegen möchte, ist die amerikanische Angst vor der öffentlichen Meinung und deren daraus folgende ungeheure Macht. Diese Angst bedeutet einfach, dass die Furcht des Menschen vor der in ihm abgeschnürten Größe, welche den übrigen Teil seiner Psyche beherrscht und in dauernder Unterwürfigkeit erhält, auf das Gemeinwesen projiziert erscheint, welches Projizieren im Fall einer wesentlich sozialistischen Nation unausbleiblich eintritt. In der Frühzeit des Puritanismus lag etwas Heroisches darin; so liegt echtes Pathos in Hawthorne’s Starlet Letter. Damals glaubten eben starke und strenge Seelen felsenfest an das geschriebene Gesetz, und die öffentliche Meinung war dessen selbstverständlicher Vollstrecker. Aber heute? Was einst der großartig stolzen Demut des Beduinen vor Allahs Antlitz nahe verwandt war, ist zur bloßen Feigheit angesichts möglichen materiellen Schadens entartet. Hier hat die früher behandelte Umkehrung aller Dinge zu richtiger moralischer Verderbnis geführt. Soll immer nur die Nachfrage befriedigt statt geschaffen werden; soll das Publikum oder die Mehrheit immer recht haben — wo bleibt da die Würde des einzelnen, die Würde des Menschen, der damit steht und fällt, dass er das sich nicht-anpassende Tier ist, dessen ideales Vorbild Prometheus darstellt, der sich nicht einmal um der ewigen Götter Willen scherte; oder Jesus, dem das Gesetz seines Volks ein Nichts war; oder Don Quixote, der seinem persönlichen Weg und sein persönliches Ideal verfolgte, aller Wirklichkeit zum Trotz? Wo bleibt da die Treue zum Geist jener vielgepriesenen nordischen Rasse, deren Haupteigenschaften tragisches Heldentum, radikaler Protestantismus und extrem aristokratische Gesinnung waren — eine Gesinnung, deren Vertreter viel lieber einem ganzen Volk ins Gesicht spie, als dass er sich selber untreu würde? Ich will mich nicht länger mit diesem dunklen Flecken beschäftigen — dem einzigen wirklich dunklen und ausgesprochen häßlichen Flecken des amerikanischen Lebens. Hier vermag nur eine völlige Umwertung der anerkannten Werte einem sonst unabwendbaren Sturze vorzubeugen. Dieser Ausdruck ist durchaus nicht zu scharf; die Herrschaft der öffentlichen Meinung als letzter Instanz schadet dem moralischen Rückgrat eines Volks millionenmal mehr als irgendein Rauschmittel. Man denke nur daran, was die amerikanische Presse an Verleumdung fertigbringen kann. Glücklicherweise macht sie von ihrer Macht sehr häufig keinen Gebrauch …

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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