Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Die amerikanische Landschaft

Schmelztiegel

Das Oben gesagte dürfte genügen, um den relativen Mangel einer psychischen Atmosphäre in der nordamerikanischen Landschaft zu erklären. Und darin dürfte auch die Erklärung dafür liegen, dass der nordamerikanische Kontinent — von allen der am meisten vom Menschen unterworfene — doch nicht humanisiert erscheint. Die Humanisierung hängt eben ganz und gar von der Kraft der psychischen Atmosphäre ab, und diese wiederum nicht vom Intellekt, sondern von dem zugrunde liegenden undifferenzierten Unbewussten, das durch die Gefühle mit der Erde verknüpft ist. Dieses führt uns denn zu dem paradoxalen Ergebnis, dass, obgleich der amerikanische Mensch die Erde im materiellen Sinn in stärkerem Maß besiegt hat als jeder andere, die amerikanische Landschaft doch mehr durch die Erde als solche als durch ihn bestimmt ist. Daher denn deren urweltlicher Charakter. Aller äußeren Zivilisation zum Trotz macht Amerika auf den feinfühligen Beobachter den Eindruck eines vom Standpunkt menschlicher Entwicklung ganz jungen Landes, zugleich aber, vom Standpunkt der Natur, den eines außerordentlich alten. An dieser Stelle möchte ich meine Leser auf das verweisen, was ich im Reisetagebuch über die urweltlichen Kräfte ausführte, die auf dem amerikanischen Kontinent noch lebendig sind; es ist kein Zufall, dass es etwas wie den Mariposa-Hain nur an jener Stelle unseres Planeten gibt. Diese Urkräfte sind überaus mächtig. Dass die amerikanische Frau amerikanischer Abstammung, allgemein gesprochen, das langlebigste Menschenwesen der Welt ist, ist offenbar auf diese zurückzuführen. Die erstaunliche Zielsicherheit und Beharrlichkeit, welche die Amerikaner in der Verfolgung dessen, was ich in einem späteren Kapitel das Tierideal heißen werde, an den Tag legen, ist ein weiterer Beweis der gleichen Tatsache. Ebendies erklärt zum großen Teil auch jene Verjüngung, welche die europäische Rasse in der Neuen Welt erfährt. Endlich schaffen deren Urkräfte tatsächlich eine neue Menschenart. Da wir nur die ersten Anfänge eines zu seinem Ablauf viel Zeit erfordernden Prozesses übersehen, kann hier von einem Reifetypus keine Rede sein. Doch bedenkt man, dass die frühsten Siedler, die weißen sowohl wie die schwarzen, vor wenig mehr als dreihundert Jahren über das Meer kamen, und dass der Einwanderungsprozess noch andauert und daher nur wenig Gelegenheit zu völkischer Konsolidierung geboten ist, so kann man nur andächtig staunen vor der Gestaltungskraft von Mutter Erde. Der sogenannte Schmelztiegel bringt wirklich einen einheitlichen neuen Typus hervor, wenn ihm die Gelegenheit dazu geboten wird. Schon heute kann jeder, der Augen hat zu sehen, den typischen Nordamerikaner auf den ersten Blick von jedem anderen Menschentypus unterscheiden. Freilich gibt es viele Bürger der Vereinigten Staaten, die diesem Typus nicht angehören.

Sagte ich oben: wenn der Erde Gelegenheit geboten wird, so meinte ich damit, dass die Erdkräfte nicht auf zu großen Widerstand seitens anderen Ebenen angehöriger Kräfte stoßen dürfen. Je erdverbundener eine Generation von Menschen gelebt hat, desto weniger kann von einem solchen Widerstand die Rede gewesen sein. Daher ist der echte weiße Amerikanertypus am häufigsten unter den Abkömmlingen der alten Farmer- und Cowboygeschlechter zu finden und unter den Familien beliebiger Herkunft, welche die Leiter des materiellen Erfolges nicht zu schnell erklommen; am wenigsten ausgesprochen ist er in den reichen Städterfamilien. Oft ist behauptet worden, dass die Körperbeschaffenheit des weißen und roten Amerikaners konvergieren, welche Tatsache immer deutlicher in die Erscheinung trete, je länger jener im Lande gelebt habe. Ich bin indessen der Meinung, dass dieser Punkt nicht zu sehr betont werden sollte; wäre er so bedeutsam, wie viele annehmen, so müsste die Körperbeschaffenheit des amerikanischen Negers, als des am stärksten erdverbundenen Amerikaners, sich gleichfalls der des Indianers annähern — wovon wir, soweit mir bekannt ist, keine Spur finden. Andererseits haben die Untersuchungen Herman Wirths (vgl. sein epochemachendes Buch Der Aufgang der Menschheit) überaus wahrscheinlich gemacht, dass die reinsten Indianertypen den europäischen Norden nächst verwandt sind. Anscheinend stammen beider Voreltern aus der heutigen arktischen Zone, von wo aus Amerika zeitlich vor Europa besiedelt ward; dementsprechend mag die Konvergenz des weißen Amerikaners mit dem Indianer leicht auf jene Entzivilisierung des Europäers zurückzuführen sein, welche viele Schriftsteller als das Wesen der Amerikanisierung bezeichnet haben, das heißt, auf die Regression des Europäers auf einen älteren Typus. Für unsere Zwecke erübrigt es sich aber wirklich, die arisch-indianische Konvergenz zu betonen: es ist Tatsache, dass der neue Kontinent unaufhaltsam einen neuen Menschentypus schafft — ich sage unaufhaltsam, weil jener Typus trotz jahrhundertelanger Fortdauer der Einwanderung in den amerikanischen Kontinent erwächst, während sonst in allen uns bekannten Fällen der Zustrom aufhörte, nachdem eine einzige Welle oder höchstenfalls einige Wellen sich über das Land ergossen hatten. Dies nun kann seinerseits nicht umhin, zur Entstehung und Entwicklung einer neuen Art Seele zu führen.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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