Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Spiritualität

Das Leben

Im Verlauf dieses ganzen Buches haben wir die Wirklichkeit des Geistes entweder behauptet oder vorausgesetzt — ohne indessen das Problem des Geistes als solches ins Auge zu fassen. Zum Schluss liegt uns nun ob, dieses Grundproblem so klar wie möglich zu behandeln und damit zugleich das Positiv zu den vielen geschilderten Negativen herauszustellen. Von den verschiedensten Seiten her beleuchteten wir, in welchen Hinsichten Amerika versagt hat oder versagt. Nun wollen wir zusehen, was es zu tun hat, um die große Verheißung, die das Schicksal ihm in die Wiege legte, zu erfüllen. Denn so und nicht anders ist die Frage zu stellen. Einer der schönsten Aussprüche Goethes lautet:

Was das Leben mir versprach, werde ich ihm halten.

Zu dem Ende legen wir uns zunächst Rechenschaft darüber ab, wie das Leben überhaupt — nicht nur das geistbestimmte Leben — mit der materiellen Welt zusammenhängt. Vorurteilslos und unbekümmert um alle Begriffsspalterei und Wortklauberei beurteilt, unterscheidet sich das Leben von dem, was wir das Leblose nennen, grundlegend dadurch, dass keine Tatsache losgelöst von ihrem Sinn verstanden werden kann. Diese Charakteristik ist die entscheidende, denn sie zeigt vor allem auch, inwiefern die unter den heutigen Gelehrten moderne Scheidung zwischen Leben und Geist verfehlt oder irrelevant ist. Sterne und Steine sind, soweit die Erfordernisse des Menschengeistes kompetieren, als die rein äußerlichen Phänomene ohne Innenseite beschrieben, als die sie uns erscheinen, auch verstanden. Das Verständnis der kleinsten Zelle eines lebenden Körpers jedoch setzt die Kenntnis dessen voraus, welche Rolle sie in jenem Körper spielt. Hier ist nicht die Erscheinung das Letzte, noch lässt sich ihr Seinsgrund im Bereich der Gesetze von Ursache und Wirkung oder der Funktion in beliebigem äußerlichen Verstande nachweisen: hier liegt die lebendige Wurzel der Erscheinung in Etwas, was selbst nicht Erscheinung ist, in einer nichtmateriellen, schöpferischen Wesenheit, die man beliebig nennen mag, die aber nur als Sinneszusammenhang zu verstehen ist. Andererseits lässt sich die nicht-materielle Quelle materieller Lebenserscheinungen so tatsächlich verstehen. Dies hat zwei sehr einfache Gründe. Zunächst ist der Mensch selbst lebendig und das Bewusstsein spiegelt die lebendige Wirklichkeit. Vor allem aber reicht das Verstehen als solches zum lebendigen Sinn hinab und ist zugleich dessen Ausdruck; hier erscheint das Grundprinzip des Lebens in einer spezifisch menschlichen Eigenschaft verkörpert und wie in einem Brennpunkt gesammelt. Jedermann weiß, dass der Sinn eines Satzes als Sinn in den ihm zum Ausdrucksmittel dienenden Buchstaben nicht enthalten ist. Desgleichen kann jeder mittels kurzer und klarer Überlegung feststellen, dass der Sinn allemal vor seinem Ausdruck da ist und diesen aus sich selbst heraus schafft. Bevor einem ein Gedanke einfiel, kann von einer Materialisierung und Artikulierung seiner nicht die Rede sein. Insofern ist im Bereich möglicher Geistesgestaltung das Ganze immer vor den Teilen da. Nun, genau das gleiche gilt von der Artikulation und dem Funktionieren organischer Körper. Auch hier besteht das Ganze vor den Teilen; auch hier lenkt das Ganze alle Sonderprozesse von innen her, und dieses schöpferische Ganze ist an sich nicht materiell — es ist eine Wesenheit grundsätzlich gleicher Art wie die, welche inspirierten Kunstwerken als Einheit zugrunde liegt. Betrachten wir nun, aus dem Gesichtswinkel dieser Einsicht, beliebige Lebenserscheinungen, so finden wir, dass das Verhältnis, dessen Urbild das des Sinnes eines Satzes zu den ihn ausdrückenden Worten und Buchstaben ist, auf schlechthin allen Ebenen gilt. Jeder einzelne Mensch muss sein Leben als sinnhaft sehen können, nicht allein damit es ihm lebenswert erscheine, sondern damit es überhaupt dauere; Menschen ohne Lebensziel oder Völker, die ihre Götter oder ihre Ideale verloren, neigen ausnahmslos, über kurz oder lang, zum Selbstmord. Gleichsinnig beruht die soziale Stellung eines bestimmten Menschen auf seiner Bedeutung innerhalb seines Kreises, nicht auf seiner Tatsächlichkeit. Nicht anders liegt in der Bedeutung, nicht der Tatsächlichkeit das Wesen historischer Größe: ein bestimmter Menschentypus gelangt nur dann zur Macht, wenn seine persönlichen Tendenzen für das Ganze repräsentativ sind. Hier rekapituliere ich nur kurz das in der Schöpferischen Erkenntnis ausführlich Dargelegte. Schon aus diesen skizzenhaften Sätzen aber sollte klar hervorgehen, inwiefern bei wesensgerechter Fragestellung die prinzipielle Scheidung zwischen Leben und Geist verfehlt ist. Nur die zwischen Lebendigem und Leblosem besteht vor tiefer eindringender Kritik.

Betrachten wir jetzt eine andere Seite des gleichen Problems. Wie verkörpert sich der Sinn in den Buchstaben? Von innen nach außen zu. Wir müssen den Buchstaben selbst von innen her einen Sinn geben, falls sie welchen zum Ausdruck bringen sollen. Und dies gilt genau so vom Leser oder Hörer wie vom Schöpfer: soll ersterer einen gemeinten Sinn erfassen, so muss er ihn in die Buchstaben selbst hineinlegen; denn was ihm von außen geboten wird, ist nur eine Verbindung von Druckerschwärze und Papier. So existiert Sinn nur als schöpferische Aktualität; hört deren Dynamik auf, dann ist es, als habe aller Sinn die Erde verlassen. Von hier aus wird besonders deutlich, wie vollkommen die Analogie zwischen dem Verhältnis von Gedanken und Alphabet einerseits und dem von Leben und Materie andererseits ist. Auch das physische Leben dauert nur solang, als die Prozesse der anorganischen Natur von innen her vitalisiert werden; sobald dies aufhört, wird der lebendige Körper zur Leiche; dann benutzt der sich selbst überlassene Naturprozess die gleichen Kräfte, die den Organismus aufbauten, zu seiner Zerstörung. Gleichsinnig ist der zum toten Buchstaben geronnene Gedanke tatsächlich tot — handele es sich um religiösen Glauben oder bestimmtes Gesetz als Ausdruck anerkannter Gerechtigkeit oder auch nur um dem Hörer unverständliche Ideen; allenfalls vermag das Geistige alsdann in der Richtung der Selbstvernichtung zu wirken. Dies führt uns denn zu einem weiteren Aspekt des Problems. Das Grundgesetz des Lebens ist das, dem ich die Bezeichnung des Gesetzes der Korrelation von Sinn und Ausdruck gab. Dieses Gesetz bedingt einerseits, dass jeder Sinn, soll er vollständig in die Erscheinung treten, den ihm gemäßen Ausdruck gefunden haben muss; und andererseits, dass jeder neue Sinn neue Tatsachen schafft. Genau wie sich jede neue Idee in einer neuen Anordnung der Buchstaben, Worte und Sätze manifestiert, genau so findet neuer historischer Geist seinen Ausdruck in neuen Institutionen. Machen wir von hier aus einen Gedankensprung zum Extremausdruck des fraglichen Sachverhalts: der Idee der Auferstehung des Fleisches. Nach Paulus selbst bedeutet diese, dass der Geist sich am Ende der Zeit einen neuen Körper bildet, der nicht umhin kann, der gleiche zu sein wie der alte, sofern die Seele sich nicht verändert hat. Grundsätzlich handelte es sich hier um nichts anderes, als was wir alle tun, so oft wir einen Gedanken neu aussprechen, der eine Weile im Reich der Worte nicht vorhanden war. Ist letztere Tatsache Wirklichkeit, dann ist gegen die Möglichkeit jener anderen grundsätzlich wenig einzuwenden. Ich denke natürlich nicht daran, an dieser Stelle auf das betreffende christliche Dogma näher einzugehen. Ich belichtete so unvorbereitet-plötzlich den denkbar seltsamsten Ausdruck möglichen schöpferischen Lebens nur, um meinen Lesern auf allerwirksamste Art, das ist durch den Schock der Überraschung, folgendes zum Bewusstsein zu bringen: ist das Verhältnis zwischen Leben und Materie überall grundsätzlich das gleiche, wie das eines Gedankens zu den ihn ausdrückenden Buchstaben; ist ferner der Sinn und nicht die Tatsache das Primäre, und wird ersterer durch von innen heraus wirkende Sinngebung in die Erscheinungswelt hineingeboren — dann bedeuten Tatsachen grundsätzlich nie letzte Instanzen. Dann müsste der geistige Mensch grundsätzlich imstande sein — entsprechend der spirituellen Kraft, die er verkörpert — beliebige Tatsachen zu schaffen. Dann kann die Gesamtheit der Naturprozesse vom Standpunkt des schöpferischen Geistes nicht anderes und nicht mehr bedeuten, als dem denkenden Menschen das Alphabet, mittels dessen er seine Gedanken zum Ausdruck bringt.

Verweilen wir bei dieser Metapher, die in Wahrheit mehr als eine Metapher ist. Während der letzten hundert Jahre glaubten die Menschen an Tatsachen, denen sie sich nur anzupassen hätten, nicht anders, wie religiöse Zeitalter an das Imperative der Erfüllung von Gottes Gebot glaubten. In Wahrheit hat kein früheres Jahrhundert so viel neue Tatsachen geschaffen, was allein schon dem Menschen hätte beweisen sollen, dass sie ihm nicht die letzte Instanz sein können. Und zwar hat er diese Tatsachen, vom Standpunkt seiner eigenen Weltanschauung, aus dem Nichts geschaffen; denn materialisierter Sinn — das ist ein Nicht-Materielles, dessen Existenz er ja bestritt — war der Urquell jener ganzen gewaltigen materiellen Produktion; alle großen Erfindungen waren zunächst reine Ideen, die erst später zu Tatsachen gerannen. So war denn der Zauberer der Vorzeit, der im ganzen wohl weniger fertig brachte als der moderne Erfinder, in seiner Einstellung der Wahrheit näher als dieser. Unsere heutige Herrschaft über die Natur ist Magie; sie ist nichts anderes als zu Tatsachen gewordene Phantasie. Ist uns dieses nun klar, dann geht uns zugleich eine überaus wichtige weitere Wahrheit auf: nämlich dass der letzte Satz des letzten Abschnitts nicht etwa ein Bild darstellt, sondern die Wahrheit im Sinn wissenschaftlicher Exaktheit. Indem der Mensch lernte, sich der Naturgesetze zu bedienen, hat er gewissermaßen die Grammatik der Natur erlernt. Doch seine Erfindungen bedeuten ein von jeder Grammatik durchaus Wesensverschiedenes: sie sind das, was der Mensch in der von ihm erlernten Sprache selbst zu sagen hat. In welchem Sinn haben unter diesen Umständen die Philosophen recht, die unsere Moderne ein mechanistisches und materialistisches im Gegensatz zu einem geistigen Zeitalter heißen? In keinem anderen als dem, dass der moderne Mensch an die letztinstanzliche Wirklichkeit von Tatsachen und Materie glaubte: dieser Glaube hat ihnen eine Macht verliehen, die sie von sich aus nicht besitzen. Dank diesem Glauben wurde der Geist tatsächlich machtlos und die Materie allmächtig. Betrachten wir diesen Sachverhalt nunmehr unter dem Gesichtswinkel der Wechselbeziehung zwischen Alphabet und Sinn: alsdann erkennen wir, dass die wahre Bedeutung des modernen Materialismus die ist, dass das sogenannte wissenschaftliche Zeitalter in Wahrheit eins des Glaubens an die Grammatik war; viel mehr noch als das Zeitalter der Scholastik. Anstatt sich des Weltalphabetes einfach zu bedienen, um zu sagen, was er von sich aus sagen wollte, hielt der Mensch dieses Alphabet für seine letzte Instanz. Er glaubte, richtiges Buchstabieren sei schon Reden. Soviel über diesen Aspekt der Frage. Es ist aber noch ein weiterer zu bedenken. Verhalten sich die Dinge so, wie wir sie hier dargestellt haben, dann kann es grundsätzlich nicht schwer sein, über den Mechanismus und Materialismus hinauszugelangen. Da alle materiellen Erfindungen in Materie ausgedrückter Sinn sind, so kann grundsätzlich nichts uns daran hindern, die Welt der Tatsachen einen tieferen Sinn verkörpern zu lassen. Von uns allein hängt das ab.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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