Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Die amerikanische Landschaft
Erziehung und Psychologie
Wir haben nunmehr genug über die Einzelheiten der uns beschäftigenden Probleme gesagt, soweit sie ohne Vorurteil vorauszubestimmen sind, um zum Schluss den Versuch ihrer Zusammenfassung in eine Allgemeinsynthese zu wagen. Welcher Art dürfte der Stil der amerikanischen Kultur sein, nachdem diese zur Reife gelangt ist? Stil ist keine Abstraktion, sondern ein überaus Konkretes. Deshalb hat es keinen Zweck, will man die Tatsachen antizipieren, nach repräsentativen Ideen und Theorien auszuschauen. Nur um lebendige Typen handelt es sich. Und da jede vergangene Kultur einige Einzelmenschen zu Vorläufern gehabt hat, ist a priori gewiss, dass Amerikaner leben müssen, die den künftigen Stil der Nation schon heute verkörpern.
Lange schaute ich vergebens nach solchen aus. Gewiss erkannte ich bald, dass keiner der Amerikaner, die in der öffentlichen Meinung als repräsentativ gelten, es wirklich ist. Männer wie Rockefeller oder selbst Henry Ford könnten grundsätzlich jedem Volke angehören. Das, wozu sie sich entwickelten, ist den äußeren Möglichkeiten des neuen Kontinentes zuzuschreiben. Dies gilt wahrscheinlich sogar in der einen Beziehung, in der einige von ihnen nur-amerikanisch
zu sein scheinen; ich denke an die Neigung zum Social Service: gerade bei ihnen ist mir durchaus nicht sicher, dass diese ein Primäres ist. Die großen Neu-Englandtypen sind jedenfalls nicht mehr repräsentativ. Gleiches gilt selbstverständlich von Erscheinungen wie Franklin, Washington und selbst Thomas Jefferson; jeder europäische Aristokrat ist, diesen ähnlicher als der heutige Durchschnittsamerikaner. Gewiss gibt es Millionen von Bürgern, die durchaus repräsentativ sind für den Typus des amerikanischen Geschäftsmanns oder des Sozialtätigen oder der Klubdame oder des Flappers; doch in all diesen Fällen kann von Substanz keine Rede sein. Was eine Nation ausmacht ist ihre Seele, die obengenannten Typen sind aber nur solche des äußeren Ausdrucks. Eine Weile glaubte ich tatsächlich, Amerikas wahre Seele sei schwarz, da der Schwarze allein bis jetzt einen überzeugenden Eigenstil, der doch wesentlich amerikanisch ist, entwickelt hat. Aber dann fiel mir ein, dass gerade weil das amerikanische Leben äußerlich laut und publik und oberflächlich ist, seine Tiefen dem Gesetz des Ausgleichs entsprechend unauffällig und sogar verborgen sein müssen. Inzwischen hatte ich bereits entdeckt, dass der Amerikaner im Grunde ein höchst sensitiver, schüchterner, verschwiegener und bescheidener Mensch ist. So wandte ich denn meine Aufmerksamkeit den Erscheinungen zu, die den besten, strebsamsten und idealistischsten Schichten der Bevölkerung am meisten zu bedeuten schienen. Nach einiger Zeit entdeckte ich denn — was mir im Augenblick eine Überraschung war —, dass der repräsentativste und bedeutsamste lebende Amerikaner — John Dewey ist.
Überall, wo es mir gelang, in das Schöpferische des amerikanischen Unbewussten einzudringen, entdeckte ich, dass John Dewey die Rolle eines Ursymboles spielt. Dies war eine der bedeutsamsten Erfahrungen meines Lebens. Mehrmals war ich Dewey begegnet: er hatte mir eigentlich gar keinen Eindruck gemacht. Auch seine Philosophie bedeutete mir nichts; für Europäer hat sie nie Bedeutung gehabt und wird sie schwerlich je gewinnen. Aber zur gleichen Zeit, da mir Deweys Bedeutung für Amerika klar ward, erfuhr ich dank glücklichem Zufall, dass er auch im modernen China, dessen Erziehungssystem er entwarf, wie vielleicht kein Weiser seit Mencius’ Zeiten verehrt wird; dass er im bolschewistischen Russland hohes Ansehen genießt und dass ausgerechnet er gebeten ward, das Erziehungssystem der Türkei und anschließend das von Mexiko zu reorganisieren. Dank diesen Beispielen weitreichenden Einflusses begann ich zu verstehen. Offenbar gehört Amerika auf allen Ebenen einer gleichen neuen Welt wie Russland, China und die Türkei und demzufolge einer vollkommen anderen Ordnung an als der europäischen. Zwar ist John Dewey nicht im gleichen Verstande repräsentativ wie Goethe für Deutschland oder Tolstoi für Russland. Aber bei im ersten Werden begriffenen Nationen kann auch von repräsentativen Persönlichkeiten im Sinne klassischer Beispiele noch keine Rede sein; am wenigsten bei einem Volk, das als Demokratie und daher nicht mit der Entwicklung eines von den anderen verschiedenen höheren Typs begann, welcher als Vorbild wirkte. Dewey spielt ganz entschieden nicht die Rolle des Kopfes der amerikanischen Nation, sonst würde er sichtbarer sein. Aber zweifelsohne ist er Amerikas wichtigstes Endokrin. Er repräsentiert das innere Streben und die besten Möglichkeiten der Nation. Daher darf man annehmen, dass wer John Dewey als Typus versteht, auch den
Amerikaner versteht, insofern er sich von anderen Völkern unterscheidet.
Man darf dies mit großer Sicherheit annehmen, weil Dewey im Grunde zur Gattung der Babbitts gehört. Er ist freilich der Anti-Babbitt — aber diese Varietät ist eben nur auf der Babbitt-Ebene möglich. Was ist nun das Charakteristische an Dewey? Mit vier Worten gesagt: auf Erziehung eingestellte Psychologie. Dewey glaubt nicht an Metaphysisches; in all seinen Strebungen ist er durchaus erdgebunden. Wohl aber glaubt er an die Möglichkeit unbegrenzten Fortschritts des einzelnen als Gruppenmitglied. Er ist wesentlich sozialgesinnt. Er glaubt an die Demokratie als an die Lebensform, die ursprüngliche Seinsunterschiede nicht anerkennt, sondern nur solche des Könnens; und sein Ideal ist eine Organisation, welche allen die gleichen Gelegenheiten böte. All dieses macht ihn den Chinesen sowohl als den Russen kongenial, denn auch sie sind Positivisten, demokratisch und sozialgesinnt; aber sie glauben nicht an Gleichheit in dem unsinnigen Verstand, dass Unfähigkeit und Schwäche gleich behandelt werden sollten wie Kompetenz und Können. John Dewey lässt ausschließlich praktische Problemstellungen und Proben gelten; er soll sogar der Erfinder des Wortes Pragmatismus sein. Auch dies macht ihn den Russen und Chinesen geistesverwandt. Die russische Intelligentsia hat nie an intellektuelle Werte, die von ihrem sozialen Nutzen unabhängig wären, geglaubt, und die Chinesen sind immer praktisch gesinnt gewesen; auch sie haben immer eine Art Gleichung aufgestellt zwischen Sinngemäßheit (so wie meine Philosophie sie definiert) und Erfolg. Endlich ist Dewey wesentlich Moralist. Er ist es nicht explizite, und er vertritt auch kein heute anerkanntes Moralsystem, doch Moralismus ist sein tiefstes Wesen. In dieser Hinsicht gleicht er nicht den Russen, wohl aber mehr denn je den Chinesen. — Als mir dies klar ward, verließ ich die Ebene der Abstraktionen und sah als konkretes Bild, was John Dewey in Amerika bedeutet. Er ist das Äquivalent der Zensoren Alt-Chinas. Dort musste sogar der Kaiser auf die Kritik eines geringen und armen Weisen, den die öffentliche Meinung als Hüter der Wahrheit anerkannte, hören und sich ihm fügen, wo er offenbar im Unrecht war; die Zensoren waren Chinas materialisiertes Gewissen. Ähnliches ist von John Dewey in bezug auf Amerika zu sagen. Aber das gleiche galt auch von Dr. Eliot in Harvard und mehr oder weniger von allen Männern, die im Bewusstsein Amerikas die größte Bedeutung gehabt haben, wie George Washington und Abraham Lincoln. Dies führt uns denn über die Anti-Babbitt-Ebene hinaus und zeigt uns, in welchem Sinn John Dewey Amerikas idealste Strebungen verkörpert und in welchem Sinn diese einzig sind — nicht nur mit nichts Europäischen, sondern auch mit nichts Chinesischem oder Russischerer vergleichbar. Nie noch gab es eine so praktische Allgemeineinstellung, denn obgleich die Juden und die Chinesen und die Russen und selbst die Engländer ihrerseits in diesem Leben zentriert sind, so halten sie doch nicht den Erfolg für das Eine, das not tut, und dieses ist ihnen niemals Sinnbild geistigen Werts. Dann war in der Geschichte noch nie praktische Einstellung in Verbindung mit einem gleichen Maß und Grad von kinetischer Energie am Werk. Ferner hat noch nirgends jemals eine so große und allgemeine Erziehungspassion bestanden. Wir werden später sehen, dass dieses leidenschaftliche Interesse zumeist ein recht Oberflächliches darstellt. Meditiert man jedoch, was es im Fall John Deweys bedeutet, so wird einem klar, dass es sehr tief verwurzelt sein kann. Wir sagten, das Wesentliche dessen, was John Dewey vertritt, umfasse die Formel: auf Erziehung eingestellte Psychologie. Hier spielt die Psychologie die gleiche Rolle wie in Indien und Deutschland die Metaphysik; hier bedeutet Erziehung gleich Tiefes wie Samen
bei den Juden und bei den Chinesen Kultur. Dies ist etwas absolut Neues. In meinem Reisetagebuche habe ich gezeigt, dass, obgleich die Chinesen weniger tief denken als die Hindus, ihr wirkliches Leben Ausdruck gleicher Tiefe ist; auch Patriotismus im japanischen Verstand, der Europäern letzte Tiefe nicht bedeuten kann, drückt solche beim alten Japanertypus tatsächlich aus. Genau so ist John Deweys Philosophie als für Amerika repräsentativ nicht oberflächlich, trotzdem sie, nach europäischen Maßstäben gemessen, oberflächlich erscheint. Es ist möglich, dass wahre Tiefe sich in einer nicht-reflektierten, praktischen, schlichten und unmittelbaren Weise auf der Linie sozialer Organisation und Erziehung auf Grund psychologischer Einsicht ausdrücke.
Aber es sind auch schon weitere einzigartige Züge im amerikanischen Stil zu erkennen. Der amerikanische Moralismus ist vom chinesischen Moralismus grundverschieden. Er ist ein wesentlich protestantischer Moralismus, welches bedeutet, dass nicht das Gesamtleben nach moralischen Gesichtspunkten geordnet erscheint, sondern dass das Moralische eine unabhängige Wesenheit auf besonderer Ebene darstellt. Die Tatsachen des Ebengesagten als konkretes Bild zusammengeschaut ergeben die Gestalt eines ganz bestimmten Menschentyps. Seine Grundzüge sind die gleichen wie die von Babbitt; nur verkörpert Babbitt seinen niedrigsten Ausdruck und seinen negativen Aspekt. Um zu verstehen, dass die gleiche Grundeinstellung einen sehr hochwertigen Ausdruck finden kann, erinnere man sich, dass für Plato die Idee des Guten im praktischen Verstand über den Ideen des Schönen und des Wahren thronte. Gleichsinnig möge protestantischer Moralismus plus Pragmatismus noch einmal zu einem echten Kulturzustand führen; jedenfalls brauchen sie der Entstehung eines solchen nicht dauernd im Wege zu stehen. Was in der Frühzeit der Nation oberflächlich verstanden ward, kann tief verstanden werden, wenn sie zur Reife gelangt ist. Ist einmal die Einseitigkeit des Moralismus, vom Licht der Erkenntnis durchstrahlt, vergangen; hat einmal die Religion des bloßen Erfolgs sich selbst ad absurdum geführt, wie sie es in absehbarer Zeit unweigerlich tun wird, — dann ist es durchaus möglich, dass die gleiche Menschenart, deren echter Vertreter bis heute Babbitt war, eine soziale und moralische Kultur im wahrsten Wortsinne aufbauen wird. Vorerst begegnet man am häufigsten Babbitts und Anti-Babbitts, welch letzterer Typus dem positiven Aspekt der gleichen Gestalt entspricht. Dürfte man den Typus eines Menschen einem Atom vergleichen und jede Nation einer bestimmten chemischen Verbindung, dann wäre der John-Dewey-Typ als wichtigstes Atom der künftigen amerikanischen Volkheit anzusprechen.
Aber innerhalb dieser gibt es mehr als eine Art Atom; die vorhandenen Atome vereinigen sich zu Molekülen, und andere quantitative Verbindungen ergeben andere Qualitäten. So sind allerlei komplizierter Typen innerhalb des amerikanischen Kultursystemes denkbar; um so mehr, als der Grundtypus niemals der einzig charakteristische ist. In Russland bestimmen drei wesentliche Typen das nationale Bild. Von diesen ist der eine einem großen Stück Butter und der andere einem kleinen, jedoch sehr scharfen Messer zu vergleichen. Es gibt aber noch einen dritten Nationaltypus, den des Heiligen, des Menschen der reinen Spiritualität. In China gibt es gleichfalls mindestens drei wesentliche Typen: den Mann des praktischen Lebens, der alle Typen vom Bauern bis zum Kaufmann umfasst, den Künstler und den Weisen. Der amerikanische Typ erscheint einheitlicher als der jedes anderen Landes. Doch aus eben diesem Grund kann sein gerades Gegenteil auch repräsentativ sein. Dem reinen Praktiker steht der reine Idealist gegenüber; dem Demokraten, dessen Ideal der Mann auf der Straße ist, der exklusivste Aristokrat. Der Moralist findet sein kompensatorisches Gegenstück im fanatischsten Freiheitsgläubigen, welchen die Welt je sah. Und last not least, der Durchschnittstypus, der an Tatsachen und Dinge glaubt, wird kompensiert durch den eines Menschen, welcher nur an Geist glaubt und der Materie alle Wirklichkeit abspricht.
Dieses muss, wenn die Nation zur Reife gelangt, zu einer höchst interessanten Synthese führen. Der Bedeutungsakzent wird in den verschiedenen Landesteilen natürlich auf verschiedenen Typen liegen. Neu-England wird vermutlich moralistisch bleiben; der Mittelwesten sozialgesinnt; der Ferne Westen wird fernerhin die Weite der amerikanischen Seele und der Süden Amerikas Kultur repräsentieren. Je günstiger sich die Verkehrsmittel entwickeln, desto mehr Aussicht besteht, dass sich die Regionalismen erhalten werden, und desto größer wird deren Bedeutung sein. Denn bessere Verkehrsmittel wirken der gegenseitigen Beeinflussung entgegen. Je mehr ein Mensch mit andersartigen zusammenkommt, desto mehr wird er sich seiner Einzigkeit bewusst.
Welcher Kulturtypus, welcher Kulturstil mag sich dereinst auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten entwickeln? Keinesfalls kann er die geringste Ähnlichkeit mit dem des modernen Europa haben. Einerseits kann er dem russischen ähnlich werden; nur dass die gewaltige Spannung zwischen dem Tier und dem Kinde Gottes im Menschen — dieses Hauptcharakteristikum des Russen — drüben fehlt. Es kann sich auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kultur Alt-Chinas herausbilden. Aber auch diese Ähnlichkeit, kann nicht sehr erheblich werden, weil in Amerika wenig Aussicht auf künstlerische Kultur besteht und weil Moral für dessen Bewohner ein völlig anderes bedeutet als für die von China. Auch fehlt den Amerikanern das ursprüngliche Gefühl für den allgemeinen Zusammenhang der Dinge. Trotzdem sie von den Europäern so sehr verschieden sind, sind sie die typischsten Okzidentalen im allgemein-dynamischen Sinn und im besonderen in ihrem instinktiven Verlangen nach weltlicher Macht. Sie sind tatsächlich, dank der durch den Einfluss einer neuen Welt bewirkten Verjüngung und dem besonders energischen Menschenschlag, der sich zuerst dort niederließ, den nordischen Vorfahren der Europäer ähnlicher, als letztere es heute sind. Wir stellten oben fest, dass die amerikanische Zivilisation aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer statischen gerinnen wird. Aber ihre Statik kann doch niemals die Statik Chinas werden. Nun, dieses alles beweist nur das eine, dass die amerikanische Kultur etwas vollkommen Originales darstellen wird. Und das ist das Beste, was von ihr gesagt werden kann. Was die Welt braucht, ist die Schaffung neuer Werte. Wiederholung, und sei es auch die des Besten, widerstreitet dem Gesetz des Lebens, dessen Wesen Einzigkeit ist, sowohl im Sinn des Einzigartigen als auch des Einmal und nicht wieder
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Und doch wird auch das Neue einige Ähnlichkeit mit Gewesenem zeigen. Daher will ich zum Schluss, pour fixer les idées, zwei sehr verschiedene Koordinaten hinzeichnen, die den phantasiebegabten unter meinen Lesern behilflich sein werden, zu antizipieren was tatsächlich nicht vorauszusehen ist. Da die Amerikaner europäischer Abstammung sind, so werden sie selbstverständlich einige europäische Eigentümlichkeiten behalten, genau wie die Hindus einige Züge ihrer nordischen Voreltern behalten haben. Und hier sind es die den Grundeigentümlichkeiten der — alten Römer ähnlichsten Züge, die sich erhalten dürften — der Römer, abgesehen von deren politischem Instinkt und kriegerischer Gesinnung. Die Amerikaner werden wahrscheinlich für alle Zeit ein irdischen Dingen zugewandtes und praktisches Volk bleiben; und von keinem früheren Volk galt dies in gleichem Maß wie von den Römern. — Die andere Koordinate, die ich meine — und sie ist wahrscheinlich die wichtigere und letztendlich entscheidende —, hat ihr einziges Vorbild auf amerikanischem Boden. Dies ist die Kultur der Inka. Auch diese war wesentlich sozial. Auch dort waren die Bürger wesentlich fleißige und in ihrer Arbeit aufgehende Leute. Auch die Inka waren einerseits praktisch, andererseits religiös. Auch sie machten sich nicht viel aus Freiheit. Denn auf Freiheit im wahren individuellen Verstand legt der Amerikaner weniger Wert als irgendein anderer Mensch.
So viel lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen. Aber viele Entwicklungen liegen im Bereich des Möglichen, die, vom Standpunkt des Wesens der Nation beurteilt, zufällig erscheinen könnten und doch das sich ergebende Bild erheblich verändern würden. Gewinnt der Süden wirklich die Vorherrschaft, so wird Amerika eine wahre Kultur entwickeln trotz seiner römischen — im Gegensatz zu den griechischen — Tendenzen. Gewinnt er diese nicht oder nur in geringem Maß, und wird Kultur weiterhin so gering gewertet, wie es heute geschieht, dann wird der Nachdruck nie auf dem Kulturellen liegen. Kommt das Irrationale der amerikanischen Seele, von dem wir sprachen, zum Durchbruch, so kann dies zu schöpferischen Spannungen führen, welche die allgemeine Gleichförmigkeit durch größere Vielfältigkeit im besonderen mäßigen und mildern würden. Sollte es zu vielen Kriegen mit anderen Kontinenten kommen, darin werden die Amerikaner sich vielleicht trotz ihrer angeborenen Friedfertigkeit zu einem Krieger- und Eroberervolk entwickeln, was ihren Nationaltypus wiederum verändern würde. Denn die Völker sind viel mehr die Kinder ihrer Siege und Niederlagen als deren Eltern. Viel hängt auch von Endgleichgewichtszustand zwischen den verschiedenen Erbmassen ab. Ein vornehmlich irisches und deutsches Amerika mit einiger slawischer und jüdischer Beimischung wäre wahrscheinlich weniger sozialgesinnt als das von heute, dafür aber reicher an individuellem Talent auf anderem als rein geschäftlichem Gebiet. Sehr viel hängt ferner davon ab, wie die amerikanische Seele auf die Einwirkungen der Konflikte mit der nicht-amerikanischen Welt reagieren wird. Da Amerika ein wesentlich geschlossenes System ist, muss sein Leben innerhalb einer Welt unerhörter innerer und äußerer Weite unvermeidlich zu mehr Spannungen führen, als je ein geschlossenes System der Geschichte zu ertragen hatte. Dies wird zweierlei zur Folge haben. Zunächst ein Zurückziehen in immer abgeschlosseneres Amerikanertum, das zu einer Vereinheitlichung der Nation im gleichen Verstande führen würde, wie es die Shogun-Zeit in der Geschichte Japans bewirkte. Aber andererseits wird sich diese Abgeschlossenheit nicht nach Belieben erhalten lassen in unserer modernen, so großzügigen und allgemein und allseitig verknüpften Welt. Deshalb muss als Reaktion eine Vertiefung und Entfaltung der amerikanischen Seele erfolgen. Dies aber müsste wiederum einer möglichen Kultur zugute kommen. In der Tat, nur falls die amerikanische Nation, die bisher wie keine andere auf äußere Expansion allein bedacht war, gezwungen wird, den Nachdruck auf ihre Tiefe zu legen, besteht Aussicht auf das Erwachsen einer inneren Organisation, welche ihr wahrhaft Bestes in den Vordergrund schübe. Andererseits: nur wenn eine solche innere Organisation tatsächlich erwächst, wird sich Amerika seiner möglichen großen Sendung in der Welt gewachsen erweisen. Aufgaben weltumfassender Bedeutung mit Verstand zu erfüllen, ist der Provinzlertyp nicht fähig. Als arbiter mundi ist Babbitt schlechterdings nicht annehmbar. Ebensowenig aber ist es ein enger kultureller Typ; hierfür bietet Präsident Wilson für alle Zeiten das Sinnbild. Auch heute gibt es in den Vereinigten Staaten große Herren. Sie sollten hervortreten und höher gewertet werden, wenn auch nur um des amerikanischen Tüchtigkeitsglaubens willen; denn nur deren Typus vermag es mit weltumspannenden Aufgaben aufzunehmen. In der Tat, die internationalen Schwierigkeiten und Enttäuschungen, welche notwendig folgen müssen — selbst im Falle materiellen Sieges werden alle Lieblingsillusionen der amerikanischen Provinzler beim ersten Zusammenprall mit einer weiteren Welt zerstieben —, werden wahrscheinlich Babbitt am schnellsten an den ihm gebührenden Platz verweisen und der Nation die Augen öffnen für Werte menschlicher Überlegenheit. Ich glaube nicht, dass die allgemeinen Faktoren des amerikanischen Zukunftsstils, wie ich sie hier skizziert habe, je eine Widerlegung durch die Tatsachen erleben werden. Nationen sind die Kinder von Kontinenten und kollektiv-psychologischen Kräften. Daher bedeuten Zufälle und individuelle Abweichungen wenig. Keine Niederlage hat je das Schicksal eines innerlich starken Volkes verwandelt, falls es nicht unmittelbar vernichtet wurde. Kein Sieg, der nicht auf geistiger und moralischer Überlegenheit beruhte, war je von Dauer. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass die amerikanische Nation im Grunde keine starke sei. Viele intelligente Beobachter bezweifeln die Vitalität des amerikanischen Kontinents — und zweifelsohne ist der heutige Amerikaner weniger vital als der Europäer. Doch meiner persönlichen Überzeugung nach beruht dies nur auf falscher Einstellung. Soweit ich urteilen kann, sind, im Gegenteil, gerade auf dem amerikanischen Kontinent mehr ursprüngliche und daher vitalisierende Kräfte wirksam als auf jedem anderen. Von der Initiative des Menschen hängt es ab, den rechten Gebrauch von ihnen zu machen — nicht nur im Sinne materieller Ausbeutung, sondern zum Besten des Wachstums seiner Seele.