Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Primitivität

Zeitalter des Fortschritts

Wer an ununterbrochenen und gewissermaßen unvermeidlichen Fortschritt glaubt, vergisst unter anderen wichtigen Tatsachen dies, dass jeder konkrete Lebensausdruck wesentlich endlich ist; er ist eine Melodie mit Anfang und Ende.1 Das beste Gleichnis seines Anfangsstadiums bietet der junge grüne Schößling, geschmeidig und biegsam und des Wachstums, des Wandels und der Regeneration in schier unbegrenztem Maße fähig; das beste Gleichnis seines Endzustandes ist der alte, hartborkige, keines weiteren Wachstums und Wandels mehr fähige Baum. Dies gilt von Ideen und Kulturen genau so wie von Einzelwesen. Im Fall der ersteren verführt der Wertgedanke leicht zu falschem Urteil: die einer Idee zugrunde liegende ewige Wahrheit und der in bestimmter Kultur verkörperte ewige Wert haben leider keinerlei Macht über die Gesetze von Leben und Tod, die ihre Erscheinung innerhalb von Raum und Zeit beherrschen. Jeder konkrete Lebensausdruck ohne Ausnahme ist in erster Linie ein Organismus, dessen Dasein dem typischen Rhythmus aller Organismen folgt; die ewige Seele, die er vielleicht verkörpert, kann nichts daran ändern, dass er als bestimmtes und begrenztes Wesen, als Träger eines bestimmten Erbes geboren ward und dass er sich über einen bestimmten Höhepunkt hinaus, der seine spezifische Vollendung darstellt, nicht entwickeln kann; hat er diesen einmal überschritten, so muss er vergehen und schließlich sterben. Seine ewige Seele kann sich jenseits der abgespielten Lebensmelodie nur in Form der Wiederverkörperung manifestieren, und solche impliziert immer einen Wechsel der Individualität. Nur ein Beispiel: innerhalb weniger Jahrhunderte erstaunlich schnellen Wachstums hatte die griechische Kultur ihre Vollendung erreicht. Danach erstarrte sie immer mehr; Routine trat an die Stelle echten Schöpfertums. Zuletzt verstarb sie als individuelle Lebensform. Allein nicht nur ihr ewiges Wesen blieb erhalten — auch ihr zeitgeborener Sprößling lebte fort: nämlich die christliche Kirche, deren Lehre zur guten Hälfte griechischen Ursprungs ist und zur antiken Kultur genau im gleichen Verhältnis steht wie der Sohn zum Vater.

Hier halten wir denn den Schlüssel zum Verständnis jenes Phänomens der Verjüngung, von dem die von Amerika nur ein Sonderbeispiel ist. Bedeutet jede konkrete Lebensform eine endliche Melodie, so fließt eine größere Melodie, in bezug auf welche jene nur einen Einzeltakt darstellt, allemal durch sie hindurch. Dies geschieht aber auf allen Ebenen so, dass das junge Leben das alte im gleichen Verstande fortführt wie ein Sohn das seines Vaters. Jener ist mit diesem nie identisch; nur dessen unverbrauchte Keime leben fort. Man kann auch nicht sagen, dass der Sohn dort anfange, wo der Vater aufhörte; er beginnt jedesmal genau, wie der erste Mensch begann, das heißt als hilfloses Kind. Aber mittels dieses Rückzugs auf den Urbeginn hebt das Leben bei jedem Neuanfang neu an. In Zeiten stetiger Entwicklung tritt dieses Naturgesetz nur so in die Erscheinung, dass neue Individuen die von ihren Vorfahren vorgezeichneten Wege mit geringer Richtungsänderung weiter verfolgen. Trifft jedoch die solution de continuité, die das Verhältnis zweier Generationen zueinander kennzeichnet, mit einer solution de continuité auf anderen Linien und Ebenen zusammen — ich meine, wenn gleichzeitig bestimmte religiöse oder philosophische oder politische Entwicklungslinien ihr natürliches Ende finden — , dann sind Väter und Söhne wie durch Jahrhunderte voneinander geschieden. Dann nimmt der normale Verjüngungsprozess die Gestalt dessen an, was de Vries Mutation heißt: eine nie dagewesene Lebensform tritt in die Erscheinung. Und da diese eben nie dagewesen ist, so muss auch ihre Jugendlichkeit auf übertriebene Art zur Geltung kommen, denn es fehlen dann ja alle traditionellen Verhaltungsformen, dank der Anpassung an welche die Jugend ihren tatsächlichen Barbarismus scheinbar verlieren könnte. So war es zu Anfang unserer Zeitrechnung. Die Gesinnung des Frühchristen war von der seiner heidnischen Eltern toto genere verschieden. Und da er ganz von vorne anfangen musste, so wurde er bald in allen entscheidenden Hinsichten primitiv, so überkultiviert seine Vorfahren auch waren — man gedenke nur des Archaischen der frühchristlichen Kunst. Die neue Generation begann eben nicht nur physisch, sondern auch kulturell als neugeborenes Kind. Freilich fällt es nicht leicht zu verstehen, wieso die Dinge auf kultureller Ebene ebenso liegen wie auf der physischen; doch auch die physischen Prozesse von Werden, Vergehen und Wiedergeburt sind wesentlich unerklärlich. Nur so viel lässt sich zur Minderung des besonderen Unverständlichkeitscharakters des Lebensrhythmus der Kulturen sagen: als psychisches Wesen ist der Mensch wesentlich gestalt- und wandelbar, fast so wandelbar wie die Gestalten des Traums, die ohne weiteres von einer Form in eine andere übergehen, sich wie durch Zauber verschmelzen und wieder lösen. Ferner wird auf psychischer Ebene das Kind niemals groß, noch stirbt es je. Es differenziert sich von innen heraus, doch das Urwesen bleibt in den Tiefen immer lebendig. Daher eine Rückkehr zur Kindheit nicht nur jederzeit möglich ist — sie stellt das Normale dar, wo immer eine differenzierte Gestalt ihr natürliches Ende erreicht hat, ehe denn die Lebenskraft an sich erschöpft war. Andererseits nun aber leitet jeder neue vitale Impuls, welcher tief genug ins Unbewusste eindrang, einen Regenerationsprozess ein. Die Psychoanalyse erweist, dass im Reich der Träume das schöpferische Wesen der geschauten Bilder ihr Sinn ist. Gleichsinnig schafft im ganzen Bereich des Lebens der Sinn den Tatbestand. Keimt eine neue Idee, so weckt sie alle Schöpfungskräfte des Kindesalters. Alle Uranfänge aber sind häßlich und barbarisch.

Doch ehe wir nun unsere Aufmerksamkeit dem besonderen Problem der Vereinigten Staaten zuwenden, müssen wir noch eine andere Seite des allgemeinen Problems betrachten. Verjüngung bedeutet niemals Fortschritt im üblichen Sinn des Wortes — vom Standpunkt eines kultivierten Vaters stellt das neugeborene Kind alles andere als einen Fortschritt dar. Und weniger denn je kann die Verjüngung während der heutigen Wende Fortschritt bedeuten, denn gerade das Zeitalter des Fortschritts geht dahin. Lassen wir uns nicht durch abstrakte Worte irreführen: was jeder unter Fortschritt versteht, ist eine ganz bestimmte Idee, und diese wurde zum erstenmal in der Geschichte im 17. Jahrhundert zur Lebenskraft. Vorher war von Fortschritt in modernem Verstande nie die Rede. Warum nicht? Weil aller Nachdruck vorher auf der religiösen Entwicklung oder der philosophischen Einsicht oder der künstlerischen oder moralischen oder kulturellen Vollendung lag und auf diese Ziele bezogen entbehrt die Idee des Fortschritts jedes Sinns. Nur auf intellektuelle Entwicklung bezogen hat sie Sinn, also auf Wissenschaft im weitesten Sinn und deren Anwendungen. Denn nur auf diesem Gebiet kann von Allgemeinerrungenschaften die Rede sein, von unbegrenzten Verallgemeinerungen und von Werten, die insofern allübertragbar sind, dass jeder folgende Arbeiter dort anheben kann, wo sein Vorgänger aufhörte. Demgegenüber ist der Fall jedes Gott- oder Wahrheitsuchers, jedes Künstlers, jedes moralische oder kulturelle Vollendung erstrebenden Menschen wesentlich einzig. Betrachten wir allein das Beispiel der Kunst: es ist barer Unsinn, eine Fortschrittslinie von Bach zu Beethoven und weiter gar zu Strawinsky zu ziehen. Sieht ein Zeitalter im Fortschritt den höchsten Wert, so setzt dies voraus, dass aller Nachdruck innerhalb der Seele auf dem Intellekt ruht.

Heute nun wirkt diese Voraussetzung, die ich in der Neuentstehenden Welt ausführlich behandelt habe, nicht mehr als Lebenskraft. Dies beweist allein schon der übermechanisierte Charakter jenes Teils des westlichen Lebens, der noch die Traditionen des 17. Jahrhunderts fortsetzt. Wir sagten, dass eine altgewordene Zivilisation einem Baum mit harter Rinde im Gegensatz zu einem jungen biegsamen Schößling vergleichbar ist. Gleichsinnig ist Mechanismus, als reines Routineleben verstanden, generelles Altersymptom. Das Leben ist wesentlich schöpferisch und frei; solang es dominiert, spielen die Gesetze der Materie, welche allesamt Gesetze der Routine sind, keine größere Rolle in seinem Ausdruck als die der Harmonie und des Kontrapunkts beim Schaffen eines Bach. Werden indessen die vitalen Impulse schwach, dann gewinnen die Gesetze der Materie die Oberhand; das Leben wird mechanisch, welches immer im übrigen sein Sondercharakter sei — chinesisches Mandarinentum oder byzantinischer Bürokratismus oder katholische Scholastik oder preußischer Militarismus sind ein genau so Mechanisches wie das mechanisierteste moderne Leben. Heute beweist die Sonderart von Maschinenmäßigkeit, welche die Kinder der Maschine charakterisiert, hohes Alter; solange das Zeitalter des Fortschritts noch jung war, war von einer Übermechanisierung des Lebens keine Rede.

1 Vgl. die ausführliche Entwicklung dieses Gedankens im Kapitel Werden und Vergehen von Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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