Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Primitivität

Publizität und Reklame

Hat man den psychologischen Hintergrund der oben betrachteten Manifestationen des Amerikanertums erfasst, dann kann man sie unmöglich unfreundlich beurteilen. Dies führt uns denn zu einer anderen Seite der Frage. Ist es nicht einfach herrlich, dass eine große, reiche, mächtige Nation, der alle neuesten Errungenschaften der Wissenschaft und Technik zu Gebote stehen, so jung ist? Diese Tatsache allein birgt das Versprechen einer großen Zukunft. Jedes neue Leben, gleichviel auf welcher Ebene, beginnt als kleines Kind; es gibt keine andere Verjüngung als die, welche vom Standpunkt kultureller Vollendung als Barbarisierung wirkt. Hier können wir denn ein weiteres landläufiges Vorurteil widerlegen: dass die Amerikaner die materialistischsten Menschen seien. Zu Beginn dieses Kapitels suchte ich zu zeigen, dass Mechanisch-werden typische Alterserscheinung ist. Ich hätte damals gleich hinzufügen können, weil es aufs gleiche herauskommt, dass auch Materialismus ein Altersmerkmal ist. Doch diese Sätze enthalten nicht die ganze Wahrheit. Das Leben ist ein polares Phänomen; wie Senilität und Infantilismus allemal zusammengehen, so gibt es immer einen Punkt, wo die Gegensätze sich berühren. In diesem Sinn nun ist nicht allein der Greis, sondern auch der Säugling materialistisch. Noch keiner verdiente je den Vorwurf, dass er auch nur das allergeringste Interesse für Geistiges bewiesen hätte; ein ordentliches Baby denkt an nichts anderes als an Milch. Hieraus folgt denn, dass der Materialismus als solcher überhaupt kein Problem darstellt. Er bedeutet entweder Verfall oder aber Urbeginn. In den Vereinigten Staaten sind beide Aspekte zu beobachten. Ein Teil des amerikanischen Materialismus ist Folge der Senilität des überlebten Typus des 18. Jahrhunderts; der andere Teil geht auf früheste Jugend zurück. Nun trägt aber die Jugend unvermeidlich den Sieg davon. Und diese bleibt nie materialistisch. In der Tat erscheint sie nur in der frühesten Kindheit so; später ist ein extremer und radikaler Idealismus das Normale. Ist nun solch radikaler Idealismus für den amerikanischen Geist nicht viel charakteristischer als sein Materialismus? Mir scheint es so. Die Alten, welche persönlich dem sterbenden 18. Jahrhundert angehören, würden nicht so oft aus idealistischen Motiven handeln (gleichviel, oh diese ihre wahren Motive sind oder ob sie sich nur der öffentlichen Meinung fügen), stellten solche im Leben der Nation nicht überaus mächtige Faktoren dar. Übrigens macht sich die Ambivalenz des Lebens im Fall des Idealismus genau so geltend wie in dem des Materialismus. Für seine Person war Woodrow Wilson ein Moralist des 18. Jahrhunderts, der von der neuentstehenden Welt keine Ahnung hatte. Aber seine Ideen erwiesen sich zufällig als Sprengstoffe, wie nichts anderes geeignet, die alte Ordnung zu zerstören (zweifelsohne muss in diesem Zusammenhang Wilson und kein anderer als Vater des Bolschewismus und Fascismus gelten, sowie der Revolution der gesamten nicht-westlichen Welt, deren Ausgangspunkt die Verkündung des Selbstbestimmungsrechtes aller Völker war). Aus diesem Grunde nahm Jung-Amerika sie für eine Zeitspanne an: ihm ahnte, dass der Idealismus von vor zweihundert Jahren für dieses eine Mal seine eigenen Ideale fördern könnte.

Woraus erklärt aber sich nun das charakteristisch kolossale und Übertriebene der meisten Erscheinungsformen amerikanischer Primitivität? — Es ist die logische Folge der Tatsachen, dass es sich um die technisch höchstentwickelte moderne Nation handelt, die ein besonderes Talent für Publizität und Reklame besitzt, und dass Ihre intuitive Veranlagung sie dazu verführt, in Schlagzeilen und -worten zu denken. Dies kann nicht umhin, jenes allen sehr jungen Völkern eigene Vorherrschen der Massenpsychologie gewaltig zu übersteigern. Eine überwältigende, ja geradezu beängstigende Menge von Massensuggestion ist Tag und Nacht in den Vereinigten Staaten am Werk; sie muss ihrerseits dazu beitragen, das Leben zu primitivieren und so die schon bestehende Primitivität zu steigern. Seinem primitiven Zustande gemäß sucht der amerikanische Reklamemacher beinahe niemals Nachfrage zu schaffen, indem er die Öffentlichkeit zu Höherem zu erziehen strebt, als sie gewohnt ist, sondern er passt sich dem automatischen Gang des Lebens an. Dies ist allerdings die sicherste Art, phantastische Umsätze zu erzielen. Da jedoch Suggestion immer schöpferisch wirkt, so hält Anpassung an den Mann auf der Straße diesen fest auf der Stufe, auf der er gerade steht, und verschlechtert zugleich die Qualität des Verkäufers, — was einen Fortschritt nahezu unmöglich macht. Ich habe hochintelligente Menschen gesehen, die nach wenigen Jahren der Reklametätigkeit den Gedanken einfach nicht mehr fassen konnten, dass es einen höheren Maßstab gibt als den der bestehenden Vorliebe des Publikums.

Aber noch einmal, welche Zukunftsmöglichkeiten! Müssten die Amerikaner bleiben, was sie heute sind, dann läge ihr Fall allerdings äußerst ernst. Doch von solchem Schicksal kann füglich keine Rede sein, schort deshalb nicht, weil weitaus die meisten einsichtigen Amerikaner den heutigen Zustand skeptisch beurteilen. Nehmen wir denn nunmehr den Faden der Anfangsbetrachtungen dieses Kapitels wieder auf; deren Grundgedanke war, dass das Sinnbild, in welchem ein Volk anderen erscheint, seine innerste Wirklichkeit wahrhaftiger zum Ausdruck bringt als jede nachweisbare Tatsache. Das Sinnbild des alten Amerikanertyps war Uncle Sam. Für den neuen Typus hat das Ausland noch kein Bild gefunden. Jung-Amerika jedoch hat bereits für sich entschieden, wer für sein innerstes Wesen und Streben repräsentativ ist: es ist Charles Lindbergh. Die grenzenlose Bewunderung, die dieser Mann erweckt, ist aus Tatsachen überhaupt nicht zu erklären. Er hat vorzügliche Eigenschaften; er ist ein glänzender Flieger; er ist ein Gentleman von Gnaden der Natur. Wenn aber neulich die Mehrheit der Studenten einer großen Universität entschied, dass Lindbergh größer sei als Mussolini, und wenn andere junge Leute in ihm eine Art Christus erblicken, so ist dies von Lindberghs Tatsächlichkeit her Schlechterdings nicht zu erklären. Lindbergh ist einfach das Symbol Jung-Amerikas; er vertritt, was die neue Generation sein möchte; er ist der Nationalheld. Betrachten wir Lindberghs Tatsächlichkeit, nun unter diesem Gesichtswinkel, so begreifen wir die ganze Bedeutung des Symbols. Auch Lindbergh ist ausgesprochen primitiv. Er hat große Ähnlichkeit mit dem Helden der germanischen Sage, Siegfried zum Beispiel. Modernen Europäern könnte er unmöglich Sinn- und Vorbild sein, denn er vertritt eine Wirklichkeit, die vor Beginn ihrer Geschichte zuletzt lebendig war. Er ist recht eigentlich eine vorgeschichtliche Gestalt. Aber gerade diese vorgeschichtliche Gestalt mag sehr wohl die Morgenröte einer neuen historischen Epoche repräsentieren. Ich wüßte mir für eine im Prozess der Geburt begriffene Nation ein besseres Sinn- und Vorbild kaum vorzustellen. Lindbergh ist ein sauberer, reiner Bube, sauber und rein an Körper, Seele und Geist.

Doch zurück zum Grundthema. Was Amerika und nicht minder die sich im falschen Sinn amerikanisierende Welt begreifen sollte, ist, dass es sich bei alledem, was wir in diesem Kapitel betrachteten, um nichts Vorgeschrittenes, sondern um Primitives handelt; und primitive Zustände dürfen nicht verewigt werden. Beständen sie über ihre normale Lebensdauer hinaus weiter, so wäre das Ergebnis, ästhetisch betrachtet, eine Karikatur und moralisch und kulturell eine Katastrophe. Soweit die Ideale der jüngsten Amerikaner­generation wahre Exponenten vitaler Tendenzen sind, entsprechen sie einem bestimmten Jugendzustand. Hieraus folgt dann andererseits, dass es keineswegs geboten ist, die betreffenden Ideale abzutun: Amerika stellt ja etwas Neues und Originales dar; sie müssen von innen heraus überwachsen werden. Geht alles gut, so werden aus ihnen auf späterer Entwicklungsstufe reife und dauernde und möglicherweise vorbildliche Ideale hervorgehen. Im übrigen gibt es einen grundsätzlichen Grund, aus dem Ideale, welche Kinder und Jünglinge als allgemeingültig hinstellen, nie ernst genommen werden dürfen: der Idealismus der Jugend ist wesentlich ein Idealismus ohne Gegenstand. sintemalen der Mensch nur das, was er vor Augen hat, zu sehen imstande ist, versucht er notwendig den inneren Drang, den er in sich walten fühlt, in einem herausgestellten Bild zu materialisieren. Dies ist der Seinsgrund aller herausgestellten Ideale, denn sie alle sind entweder Exponenten innerer Kräfte oder aber bloße Abstraktionen ohne Eigenleben. Der reife Mensch erzeugt über kurz oder lang für seinen inneren Drang ein adäquates Bild. Einem sehr jungen hingegen kann dies nicht gelingen, weil er nach etwas strebt, was noch gar keine bestimmte Gestalt gewonnen hat. Deswegen identifiziert er seine persönlichsten Aspirationen mit dem, was er gerade aus irgendeinem Grunde bewundert, um es später wieder fallen zu lassen. So schaute Nietzsche das antizipierte Bild seines eigenen künftigen Seins zuerst in Schopenhauer und Wagner, was allein erklärt, warum er sich später von beiden abwenden musste; dass dies mit solcher Gewaltsamkeit geschah, liegt nur zum Teil an seinem krankhaften Zustand: der Hauptgrund war, dass er beide zu sehr geliebt hatte. So identifiziert sich jeder junge Mensch eine Weile mit einem verehrten und zum Ideal verklärten Lehrer. Dieser für alle Jugend charakteristische Idealismus ohne Gegenstand tritt manchmal in höchst ergötzlichen Formen in die Erscheinung. In den hektischen Tagen der unmittelbaren Nachkriegszeit galt einer Gruppe der deutschen Jugendbewegung das Alter von 17 Jahren als solches als das allmenschliche Ideal: selbstverständlich ward es aufgegeben, sobald die betreffenden Knaben und Mädchen ihr 18. Lebensjahr erreichten. Der jüngsten und wahrhaft bedeutsame Teil des modernen Amerika ist vom Standpunkt wesentlichen Alters noch lange nicht 17. Es ist daher nicht ratsam, irgend etwas von dem, was er vertritt, als endgültig anzusehen.

Nun aber schauen wir dir vorhergehenden Betrachtungen mit einigen aus dem ersten Teile dieses Buches zusammen. Dort versuchte ich zu zeigen, dass die wahre Geschichte Amerikas eben erst beginnt; dass es eben erst aus seinem goldenen Zeitalter heraustritt. Die seither betrachteten besonderen Tatsachen dürften zur Erklärung dessen genügen, warum Europa seinen Unterschied und Abstand von Amerika immer deutlicher empfindet, und warum eine Amerikanisierung der ganzen Welt immer unwahrscheinlicher wird. Jedes folgende Jahr, in dem wir mit Amerikanern zusammentreffen, empfinden wir Europäer unser höheres Alter stärker. Was heute in den Vereinigten Staaten vor sich geht, ist das genaue Äquivalent dessen, was in Indien geschah, als sich die arischen Eroberer indianisierten. Aber gerade deshalb glaube ich an eine große amerikanische Zukunft. Indiens große Kultur war die Folge der Verschmelzung von nordischem Idealismus, nordischer Energie und Tapferkeit mit Indiens mystischem Geist. Sicher wird sich die Kultur der Vereinigten Staaten von denen Europas erheblich unterscheiden. Sie wird wohl deren Kind, jedoch ein sehr originales und ein für uns recht schwer zu verstehendes und zu behandelndes Kind sein. Amerikas bisherige Geschichte war in Wahrheit nichts anderes als europäische Kolonialgeschichte. Was ich die Chauffeurwelt geheißen, konnte in Amerika eher als in Europa historisch bestimmend werden, weil jeder Einwanderer trotz aller unbewussten traditionellen Bindungen ein neues Leben anfing, und der Geist dieses dem des Landes, das er in seinem Freiheitsdrang verließ, entgegengesetzt war. Die amerikanische Nation hat in der Tat ihre Eigengestalt noch nicht gefunden. Es kommt wohl noch eine Zeit, da sie auf die Tage von Neu-Englands Vorherrschaft nicht anders zurückblicken wird wie Russland auf seine Zarenzeit. Dann mag selbst ein Emerson europäischer Kolonialer erscheinen, so wie die in Sizilien lebenden griechischen Philosophen als griechische Koloniale galten. Und Walt Whitman mag dann vielleicht als Johannes der Täufer einer neuen Verkündigung beurteilt werden, die, wie die meisten Verkündigungen, zu keiner historischen Wirklichkeit ward.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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