Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Das Tierideal
Reklame und Suggestion
Betrachten wir nunmehr die wunderbare Organisation des amerikanischen Lebens unter einem anderen Gesichtswinkel. Einer der schlimmsten Irrtümer der Fortschrittsidee in ihrer Anwendung auf das Biologische war der Glaube, dass ein Organismus seiner Umwelt desto besser angepasst sei, je mehr er in der Richtung, die der Mensch instinktiv als fortschrittlich beurteilt, vorankommt. Spiritueller und geistiger Fortschritt hat keinerlei Exponenten auf der Ebene materiellen Erfolgs. Das Gesetz der materiellen Welt ist das der Routine. Vom ersten Schöpfungstage an haben sich die Atome wie die Gestirne in gleicher Ordnung und ihre jeweiligen Gravitationszentren bewegt, und bis zum letzten Tage wird es so bleiben. Je mehr daher das Leben eines Organismus routiniert ist, der Wiederholungsseite des Weltprozesses ein für allemal angepasst, desto besser fährt es. Insofern stellen unsere körperlichen Prozesse, von denen das Vorhersagte gilt, zweifelsohne ein Erfolgreicheres dar als alle Errungenschaften des Geistes und der Seele; denn der Tod gehört zum normalen Rhythmus der Natur, Krankheit ist dessen normale Schwelle, und innerhalb dieser Grenzen hat sich der Körper allen Fährnissen gegenüber erstaunlich gut behauptet, nicht nur seitdem Wissenschaft ihm zu Hilfe kam, sondern selbst unter den ungünstigsten Bedingungen. Seine Prozesse folgen einem ein für allemaligen Rhythmus, der dem Allgemeinrhythmus der Natur ein für allemal angepasst ist. Eben deshalb nun sind alle Tiere dem Universum besser angepasst als der Mensch: diesen stürzen, von der Natur her gesehen, die Launen und Einfälle seiner freien Phantasie immer wieder ins Verderben. Bei ihm ist eben die Routine nicht letzte Instanz. Je höher er sich als Mensch erhebt, desto mehr exklusiver und außerordentlicher Bedingungen bedarf er, um zu leben — wer aber solcher bedarf, statt unter allen Umständen leben zu können, ist dem Kosmos offenbar schlechter angepasst als dieser. Ebendeshalb war alle bisherige Kultur eine solche privilegierter Stände. Nun hat der technische Fortschritt die materiellen Vorteile, welche vormals das Privileg weniger waren, grundsätzlich allen zugänglich gemacht. Aber eben deshalb sind jene nunmehr dem Geist der Routine untertan geworden; der höhere Lebensstandard dient nicht mehr, wie bei den privilegierten Ständen der Vergangenheit, als Basis höherer geistiger Kultur, deren Exponent ein höherer Grad schöpferischer Freiheit ist: das Tier-Ideal herrscht souverän. Dies beweist endgültig die eigentümliche Konvergenz mit den Ameisen und Bienen und Termiten, die ja, genau genommen, einen noch höheren Grad technischer Zivilisation erreicht haben als wir. Insbesondere die Termiten haben jedenfalls mehr erreicht: was sie tatsächlich geleistet haben, entspricht unserer möglichen Fähigkeit, auf Erden weiterzuleben, nachdem die Sonne ihre Wärme eingebüßt, oder durch entsprechende Drüsenbehandlung jeden gewünschten Menschentypus zugleich mit der erforderlichen technischen Ausrüstung zu züchten. Das Gesamtleben dieser Insekten folgt einem ein für allemal vorgezeichneten Plan. Der Schlüssel zum Problem des erstaunlichen Erfolgs des Amerikanertums ist genau der gleiche. Die amerikanische Zivilisation ist die einförmigste, die es je gab; alle Überraschungen, die sie bieten kann (von bloßen Sensationen abgesehen, die nach wenigen Stunden vorbei sind und einem eben doch mit freier Phantasie begabten Organismus als Sicherheitsventil dienen), liegen in der Richtung weiterer animalischer Entwicklung und lassen sich daher ohne Schwierigkeit dem bestehenden Routinesystem einordnen.
Doch der Mensch ist eben doch letztlich schöpferischer Geist, wie sehr er sich vertiere. Deshalb führt der Wahn, dass die neue Stufe tierischer Entwicklung eine höhere Kulturstufe bedeute, zu verheerenden Resultaten. Das Rationale dieser Wahrheit ist von der Christian Science am besten verstanden und ausgebeutet worden. Doch ihr Faktisches illustriert am besten und mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übriglässt, die amerikanische Reklametechnik. Der Reklamechef selbst glaubt öfters, dass er seinen Käufern nur anbietet, was sie wollen: tatsächlich schafft er die Nachfrage selbst da, wo sie vorher bestand; wäre dem anders, so bedürfte es ja der teuren Reklame nicht. Kann der Direktor einer Automobilfabrik seinem Verkaufsleiter erklären (wie dies so oft geschieht): Nächstes Jahr verkaufen Sie zweihunderttausend Autos mehr, sonst entlasse ich Sie;
— und werden infolgedessen im nächsten Jahr tatsächlich zweihunderttausend Wagen mehr verkauft, so beweist das, welch ungeheure Schöpferkraft der Suggestion eignet. Ist dem nun aber so, dann muss auch der Glaube, dass der Mensch vollständig von außen her geleitet und geformt werden könne, schöpferische Macht besitzen. Die Masse der Menschen muss immer passiver, der Suggestion immer zugänglicher werden; andererseits müssen die Urheber der Suggestionen, da sie glauben, dass sie keine Nachfrage schaffen, sondern solcher nur entgegenkommen, immer mehr allen Glauben an mögliche Initiative verlieren. Und was ein Mensch glaubt, wird unaufhaltsam Wirklichkeit. Schon heute leistet Initiative in den Vereinigten Staaten selten mehr, als dass sie erfindet, was bestehender Nachfrage am besten entspricht. Es ist keine Rede mehr davon, den Menschen zu etwas Höherem, als er war, heranzubilden. Dies führt denn zu einem rein statischen Allgemeinzustand, soweit es sich um den spirituellen Teil des Menschen handelt. Der Erfolg ist die unaufhaltsam fortschreitende Animalisierung des Amerikaners.
Wie ist es möglich, dass diese Eigentümlichkeiten in Ausländern nicht allgemeine Unzufriedenheit oder dass auslösen? Zuweilen ist dies der Fall; weit häufiger jedoch erwecken sie Verlangen nach Amerikanisierung. Die Ursache liegt auf der Hand: das Problem des animalischen Lebens auf der neuen Ebene des geologischen Zeitalters des Menschen erscheint in Amerika besser gelöst als irgendwo sonst. Dort kann ja, grundsätzlich gesprochen, buchstäblich jeder komfortabel leben, was anderwärts nicht nur tatsächlich, sondern prinzipiell unmöglich ist. Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten besuchten mich einige Hindus und andere Orientalen. Sie lebten dort seit Jahren. Ich fragte sie, warum sie dageblieben seien, wo sie doch den amerikanischen Materialismus, ihren Worten nach zu urteilen, verabscheuten. Sie erwiderten, das wüßten sie nicht; es sei eben so gekommen; sie seien zu einigen Vorträgen herübergereist und dann eben dageblieben. Der Grund war offenbar der gleiche, den Mencken angegeben haben soll, als er gefragt ward, warum er denn in Amerika weiterlebe, das er so scharf kritisiere:
Es ist so verdammt komfortabel.
Das ist es wirklich. Passt ein Mensch sich dem Rhythmus des amerikanischen Lebens an, so wird er von einer ganzen Zivilisation in ähnlichem Sinn betreut, wie jedes Tier von Mutter Natur betreut wird. Die Gleichförmigkeit und Routinearbeit, vereint mit dem allgemeinen fortschrittlichen Zug des amerikanischen Lebensrhythmus befriedigen unvermeidlich jeden einzelnen, der sich ihnen völlig anpasst, genau wie jeder in seiner natürlichen Umgebung lebender und seinen Instinkten folgender Organismus zufrieden ist. Dies erklärt auch zum Teil den Optimismus der Amerikaner. Doch vor allem erklärt es, warum jede fortschrittliche Bewegung auf Erfolg hin in Amerika im Vergleich zu Europa wie eine geometrische im Gegensatz zu einer arithmetischen Progression wirkt. Nur den allgemeinen, nicht den Einzelnen eigentümlichen Bedürfnissen wird Rechnung getragen. Die Nachfrage nach jenen ist seitens derer, welche die Gesetze der Massenpsychologie kennen, leicht zu schaffen. Dieses Schaffen wiederum erzeugt eine ungeheure Massensuggestion, der selbst der individualisierteste Mensch nur schwer entgeht. Die bereitwillige Aufnahme einer Suggestion bedingt ihrerseits Entindividualisierung. Das Endergebnis ist ein so uniformierter Geist, wie er in keiner Armee jemals geherrscht hat, nicht einmal unter den Jesuiten.
Die meisten Amerikaner wollen gehorchen, wie dies noch kein Soldat jemals getan. Dies allein schon erklärt die Art, wie amerikanische Karawanen
(welch wunderbar symbolischer Ausdruck!), die jeden Europäer entsetzen, reisen. Individuelle Besonderheit ist faktisch ausgeschaltet. Auf jede suggestive Anregung reagiert die amerikanische Menschheit wie eine einzige genossenschaftliche Organisation. Da es sich aber nicht um Zwang, sondern um freiwillig akzeptierte Suggestion handelt, die zur Entindividualisierung führt, so gibt es für intelligente suggestive Beeinflussung überhaupt keine Grenzen. Hier setzt denn die Wirkung eines Tag und Nacht durch Suggestion aufrechterhaltenen Glaubens ein: des Glaubens, dass jeder materiell und sozial vorankommen kann, wenn er nur will. An sich ist es ein völlig irrationaler Glaube. Doch er wirkt Wunder. Es genügt, in der richtigen Weise zu proklamieren, dass irgendein Fortschritt
eben dieses allgemeine Vorwärtskommen
fördere — und alle tragen zu seinem Erfolge bei. Man gedenke nur des unglaublichen Erfolgs des Listerin — eines der übelsten und unangenehmsten Desinfektionsmittel, das mir je vorgekommen: mir ward erzählt, dass jener ganz und gar auf eine Reklame zurückgeht, welche behauptete, die meisten unverheiratetbleibenden Jungen und Mädchen seien hoffnungslos zur Ehelosigkeit verurteilt, weil ihr Mundgeruch nicht einwandfrei sei, und weiter, dass der Gebrauch von Listerin ganz gewiss das Übel heilen würde. So ergibt sich ein Kreislauf der Dinge, den man einen circulus vitiosus heißen könnte, diente er nicht einer überwältigenden Mehrheit zum Gewinn. Es ist tatsächlich wahr, dass Amerika nicht nur für Massenverkauf an sich, sondern auch für eine unerhörte Zahl von einzelnen, die aus diesen Massenverkäufen Vorteil ziehen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. sintemalen die ungeheure Mehrzahl der Amerikaner von oder dank dem Handel lebt, so ist auch wahr, dass sound business in Amerika, wie es nun einmal ist, Social Service bedeutet. Nur ist unter diesen Umständen, noch einmal, eine Niveauhebung ausgeschlossen. Noch ein weiteres Beispiel zur Ergänzung dessen vom Listerin. Eine Weile war das Automobilgeschäft dank dem Slogan, dass jedermann einen Wagen besitzen müsse, wunderbar einträglich. Aber schließlich besaß jeder wirklich einen. Der Verkauf ging zurück. Die Verkaufsleiter aller Gesellschaften hielten Rat. Es wurden viele gescheite Vorschläge gemacht, um das Publikum zu weiteren Käufen zu veranlassen. Plötzlich erhob sich ein ganz einfacher Mann und sagte:
Wollen wir doch im ganzen Land den Satz verbreiten:
Jeder muss zwei Wagen besitzen!
Gesagt, getan. Seitdem hat das Geschäft wieder geblüht. Denn es gibt noch viele Bürger der Vereinigten Staaten, die noch keine zwei Wagen besitzen.