Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Das Tierideal

Auf den Kopf gestelltes Denken

Ich möchte noch einmal wiederholen, dass ich es für unbedingt gut halte, dass der animalische Mensch in Amerika solch allseitige Befriedigtheit erreicht. Und die Tatsache, dass es drüben so außergewöhnlich wenig Missgunst, Ressentiment, Neid, Eifersucht und Kleinlichkeit gibt, beweist meines Erachtens abschließend, dass es gut nicht allein vom Standpunkt des Körpers, sondern auch von dem der Seele ist. Soweit ist auch gegen Gleichförmigkeit und Standardisation nichts einzuwenden. Sollen alle Menschen behaglich leben, dann ist ein bedeutendes Maß von Gleichförmigkeit und Standardisation des materiellen Lebens unvermeidlich — nur dann kann man Millionen ein gleich behagliches Leben verschaffen, wenn ihre Bedürfnisse in hohem Maß die gleichen sind — und die Nachteile dieser Notwendigkeit sind ohne Zweifel geringer als ihre Vorteile. Doch der negative Aspekt beginnt zu dominieren, sobald das Tierische als nicht-tierisch beurteilt wird und sobald auch für geistige Bedürfnisse auf Wegen, die nur Tieren angemessen sind, gesorgt wird. Hier liegt denn das Grundgebrechen der amerikanischen Zivilisation: dass sie alles auf den Kopf stellt. Lafcadio Hearn und Basil Hall Chamberlain haben gezeigt, dass die japanische Lösung des Lebensproblems vom europäischen Standpunkt eine Umkehrung der Dinge bedeutet. Und doch ist die japanische Umkehrung der Dinge nichts im Vergleich zur amerikanischen. Deren Verkehrung der Dinge besteht darin, dass sie fast jedes Lebensproblem am falschen Ende angreift.

Wenn eine Ehe gut gehen soll, dann sollte man offenbar damit anfangen, den richtigen Menschen zu heiraten. Anscheinend sind die Amerikaner nicht dieser Meinung; sie versuchen schlechte Eheverhältnisse durch bessere Scheidungsmöglichkeiten zu beheben. Erscheint es wünschenswert, den Schönheitssinn zu wecken, so schaffen Amerikaner das, was sie schöne Umgebung heißen, wobei sie vollkommen übersehen, dass es keine Schönheit gibt, es sei denn, der Mensch sehe seine Schönheitsidee in die Dinge hinein; offenbarte die Natur sich früheren Kulturen als schön, so war dies, weil ihre Erscheinungen als Götterverkörperung galten. — Die amerikanische Nation soll musikalisch werden: die prächtigsten Institute der Welt werden daraufhin gegründet — gleichviel ob jemand da ist, sie zu bewohnen. Nach meinen ersten amerikanischen Vorträgen verwirrte mich wieder und wieder das Erlebnis, dass Leute mich fragten: War die Zuhörerschaft nicht großartig? In Europa gälte es als Beleidigung eines Vortragenden, welcher sein Bestes gab — gleichviel was dieses Beste an sich wert sei —, vor ihm die Vorzüge seiner Hörer zu preisen. Bald aber begriff ich. Der Gedankengang war entwaffnend einfach: wenn dieser Mann eine so große Hörerschaft heranziehen konnte, und wenn diese Hörerschaft eine Stunde lang aufmerksam zuhörte, muss er doch ein guter Redner sein. Insgleichen muss ein bestseller ein gutes Buch sein und kann man — wie ein amerikanischer Mäzen dies neulich ausdrückte — den Wert großer Kunst nach dem Maßstab von Dollars und Cents beweisen. Von hier aus ist nur ein Schritt zu der Auffassung, dass ein Buch, das nicht teuer oder ein bestseller ist oder ein Mensch, der kein Geld zu verdienen weiß, nichts wert sein kann, und dass das Geld überall den angemessenen Maßstab abgibt. Dies hat mit Dollarwahnsinn nichts zu tun, es illustriert nur jene Verkehrung aller Dinge, die der hervorstechendste Zug des heutigen Amerika ist. Die amerikanische Nation ist so konsequent zu dem Glauben erzogen worden, dass Geist niemals Ursache, sondern nur Folge sein kann in dem Verstand, dass er allein auf Reize reagiert und ohne sie nichts vermag — dass sie unwillkürlich, selbst wo sie es besser weiß, so denkt und handelt, als ob die Folge die Ursache sei. Hier liegt die wahre Wurzel jenes Nationalglaubens, den die meisten Amerikaner einfach mit dem Wort Demokratie erklärt wähnen, nämlich, dass das Urteil des Mannes auf der Straße den absolut richtigen Maßstab bietet. Dieser Glaube besagt in Wahrheit, dass so etwas wie ein autonomer Geist, der aus eigenem Recht Forderungen stellen darf, überhaupt nicht vorhanden ist, und ebensowenig ein Wertmesser, welcher unabhängig von der pragmatischen Probe des materiellen Erfolgs gälte. Gefällt der öffentlichen Meinung etwas nicht, nun, dann ist es eben schlecht oder verkehrt oder unbrauchbar. Gefällt es jener hingegen, dann ist Geld damit zu verdienen. Diese typischen Gedankengänge vermehren ihrerseits das Prestige der Vorstellung, dass Geldwert überall den wahren Maßstab darstellt. Überdies trägt Geld allemal zum Komfort bei. Und wird es unter der Voraussetzung verdient, dass der Geschmack des Mannes auf der Straße entscheidet, dann kommt es tatsächlich allen zugute, wenn einer oder wenige es einheimsen. Vergegenwärtigen wir uns hier nun noch einmal, dass das amerikanische Ideal ein Tier-Ideal ist, so sehen wir ein, dass das hier behandelte Auf-den-Kopf-Stellen aller Dinge außerordentlich schwer zu beseitigen ist. Es besteht doch den pragmatic test so gut! Seine Nachteile aber kommen nur für die wenigen, nicht für die Masse in Betracht. Ja selbst den wenigen ist es nicht in materieller Hinsicht nachteilig; denn mit Hilfe guter Reklame hat das Höchste in den Vereinigten Staaten höheren Marktwert als irgendwo sonst. Dies kann nicht bestritten werden. Aber nicht minder richtig ist, dass diese Verkehrung aller Dinge, gerade weil sie in allen materiellen Hinsichten zu guten Ergebnissen führt, das Organ für geistige Wirklichkeit und deren Eigengesetze abstumpft. Ein typischer Amerikaner ist außerstande zu verstehen, warum ein geistbewusster Mensch lieber von allen gehasst wird, als dass er sich den Vorurteilen der Masse fügt. Er kann nicht einsehen, warum jenem gern gehabt werden kein erstrebenswertes Ziel sein kann.

Dennoch kann einer, in dem der Geist wirklich mächtig ist, trotz der obigen Einwände in Amerika Erfolg haben, von wegen der ungeheuren Suggestibilität der amerikanischen Nation. Nur gibt es wenige von genügender Suggestionskraft. Schlimmer noch: sintemalen die Menschennatur schwach ist, geben leider die meisten schöpferischen Geister um ihrer Familie willen, oder was sonst der Vorwand sei, ihr Bestes preis, sobald sie Erfolg haben. Jedenfalls entwickelt die Nation sich mit jedem neuen Jahr des Erfolges immer mehr in der Richtung geistiger Blindheit. Der Verkäuferstandpunkt dominiert immer stärker. Viele Amerikaner erklärten mir, als ich mit ihnen über jenes erstaunliche Buch sprach, in welchem Christus als das Muster des guten Verkäufers hingestellt wird, dass es nichts bedeute, und sein Verfasser ein Narr sei. Das glaube ich nicht. Amerika denkt im großen und ganzen wirklich so. Was als Wirkung verstanden werden sollte, wird als primäre Ursache beurteilt. Der Leitgedanke jenes Buches ist der, dass Jesu Christo die Christianisierung der Welt nicht deshalb gelang, weil er eine große und wahre Botschaft zu verkünden hatte, die späterhin unvermeidlich zu good publicity wurde, das heißt, zu erstklassigem Reklamestoff, sondern dass er von vornherein an eben diesen dachte. Meine sämtlichen persönlichen Erfahrungen bewegen mich zu glauben, dass dies der wahre, weil unwillkürliche allgemein-amerikanische Standpunkt ist. Wäre dem anders — würden die Zeitungen und Verlagshäuser fast ausschließlich die Wünsche des Publikums berücksichtigen? Würden sie der Meinung sein, dass der rein kommerzielle Standpunkt berechtigt ist bei einem Mann, welcher nachweislich die öffentliche Meinung beherrschen und lenken kann? Wäre dem anders — würde der Verkaufsleiter im amerikanischen Geschäftsleben eine wichtigere Rolle spielen als der Erfindergeist? Letzterer hat den Bedürfnissen der Masse entgegenzukommen; das ist das Grundprinzip. Seine Stellung ist wirklich die einer Magd, wie es im Mittelalter die der Philosophie war in bezug auf die Theologie. Vom Standpunkt des Geistes als der schöpferischen Essenz des Lebens bedeutet solche Lebensanschauung eine Umkehrung aller Dinge und Werte im absoluten Sinn. Allerdings aber wäre sie die angemessene Anschauung, wenn der Mensch nur ein Tier wäre.

Meinen Lesern ist jetzt wohl vollkommen klar, inwiefern der amerikanische Institutionalismus seinerseits ein Ausdruck des Tier-Ideals im allgemeinen und im besonderen des auf den Kopf gestellten Denkens ist. Funktionierte letzteres normal, so würde von Institutionen nicht erwartet werden, was einzig Sache des schöpferischen Geistes ist. Andererseits aber wird der Amerikaner tatsächlich das Produkt der bestehenden Institutionen, weil er eben an ihre unbegrenzte Macht glaubt. Deshalb treten likemindedness und normalcy mit jedem Jahr stärker in die Erscheinung. Und damit wiederum wächst unvermeidlich die Neigung, sich den bestehenden Institutionen seinsmäßig anzupassen. Natürlich liegt auch ein äußerer, einer anderen Ebene angehörender Grund vor, der diese Neigung, sich wesentlich Leblosem anzupassen, erklärt: da es drüben keine Einheit des Blutes, der Traditionen und Gefühle gibt, so trachten ihre Bewohner instinktiv, auf den bestehenden Grundlagen eine Einheit aufzubauen. Wie Benjamin Franklin es ausdrückte: Sie müssen zusammenhängen, sonst hängt jeder für sich. Ein anderer Grund ist das demokratische Vorurteil: da alle Menschen angeblich gleich sind (jeder intelligente Mensch weiß, dass sie es nicht sind), sollen alle gleich werden; die Idee des Sollens oder der Pflicht setzt unweigerlich dort ein, wo ein Mensch unbewusst weiß, dass die Wahrheit, an die zu glauben er vorgibt, nicht wirklich wahr ist. Aber die tiefste Ursache der amerikanischen Gleichförmigkeit und Standardisation ist die Anpassung an eine standardisierte Lebensordnung auf Grund der bejahten Voraussetzung, dass alles auf äußere Ursachen zurückgeht. Ist der Glaube an sie genügend stark, dann lässt sich tatsächlich alles so erklären. Hier liegt der Hauptgrund der amerikanischen Beeinflussbarkeit. Die Amerikaner wären nicht suggestibler als andere Leute, und Reklame wäre dort drüben nicht so unendlich viel erfolgreicher als anderswo, herrschte nicht der behavioristische Glaube, dass das Menschenleben nur Gewohnheit und jede Gewohnheit nur die Folge gegebener Einflüsse ist. In diesem Zusammenhang bietet das Leben der Vereinigten Staaten das Bild eines einzigen kolossalen circulus vitiosus.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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