Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Das Tierideal
Stabilisiertes Gleichgewicht
Gehen wir jetzt einen Schritt weiter. Herrscht die Vorstellung, dass Umgebung
alles erklärt; bewirkt diese dementsprechend soviel, wie es die Natur der Dinge erlaubt; ist Standardisierung andererseits Tatsache und Gleichförmigkeit das Ideal, dann muss das Leben des Menschen dem der Ameisen und Bienen außerordentlich ähnlich werden. Oft ist gesagt worden, die Ameisen und Bienen seien die menschlichsten
Tiere. Auch das Umgekehrte gilt: entwickelt sich der zivilisierte Mensch zum Tier zurück, dann wird er nicht ein Affe oder ein Hund, sondern eine Ameise oder Biene. Denn diese Insekten sind die sozialsten und zugleich die arbeitsamsten aller Tiere; sie sind überdies am stärksten auf Spezialisierung bedacht und am starrsten in ihrer Routinearbeit. Sie haben nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem primitiven oder wilden oder dem kultivierten Menschen: dessen Gegenstück in der Tierwelt ist der Löwe oder der Fuchs oder das Rennpferd, je nachdem. Wohl aber gleichen sie dem technisierten Menschen. Für diesen ist bezeichnend, dass in seinem Leben Routinearbeit die Hauptrolle spielt. Nun ist die Routine der Ameise und insbesondere die der Termite dem Rhythmus des Universums nahezu vollkommen angepasst. Auch der technisierte Mensch könnte es dahin bringen. Nur: wenn ihm dies gelingt, dann wird es auf Kosten aller freien Initiative geschehen. Die Tatsache gibt zu denken, dass die meisten in letzter Zeit geschriebenen und auf amerikanische Verhältnisse gegründeten Utopien einen Zukunftszustand völliger Sklaverei voraussehen; freier Wille würde praktisch überhaupt keine Rolle mehr spielen. So wird es in der Tat kommen, wenn das Leblose allem Leben seine Gesetze vorschreiben darf. Und es wird um so gewisser so kommen, je vollkommener die ameisenhafte Zusammenarbeit aller wird. Wird das Menschenleben wesentlich zur Routine, deren Rhythmus dem der Gesamtwelt eingeordnet ist, dann muss ein Zustand ungeheurer Stabilität erfolgen. Denn ein solches Leben wird die pragmatische Probe ganz unvermeidlich bestehen. Es wird nicht umhin können, durchaus erfolgreich zu sein. Mit jedem Schritt zu weiterer Standardisation muss es erfolgreicher werden. Alles und jedes wird gedeihen — nur der Geist des Menschen nicht. Dieser muss verderben. Ich sage: er muss, denn auch dies ist unvermeidlich. Der Geist lebt einzig in der Dimension freier Initiative. Und diese muss unabwendbar an Wirkungsmöglichkeit und Kraft verlieren proportional dem Maß, in dem Amerika in der heutigen Richtung fortschreitet. Andererseits muss das Tierische ebenso unabwendbar immer mehr an Macht und Umfang zunehmen. Tatsachen als solche müssen immer mehr zum Einzigen werden, das in Betracht kommt. Hiermit hätten wir denn den Höchstausdruck der Amerika eigentümlichen Umkehrung aller Dinge gefunden. Als ich 1928 drüben ankam, war meine erste Frage: welche abergläubischen Vorstellungen sind in Amerika am weitesten verbreitet? Wenn ich ein Volk verstehen will, dann forsche ich immer zunächst nach seinen Aberglauben, weil sie für das Unbewusste, das ein gar Irrationales ist, viel repräsentativer sind als alles Vernünftige. Da entdeckte ich zu meiner Verwunderung, dass die Amerikaner an — Tatsachen glauben; überall und in jedem möglichen Zusammenhang. Nie begegnete mir gleich possierlicher Aberglaube. Im Bereich des Lebens sind Tatsachen nie das Primäre; einerseits schafft sie der Sinn und andererseits liegt ihr ganzer Wert im Sinn, den sie verkörpern — Sinn ist aber nie in den Tatsachen selbst enthalten. Jede Institution hat ihren Ursprung in einer Erfindung, welche anfangs keine Tatsache war. Die Macht einer Regierung wurzelt in ihrer Autorität — und auch diese ist keine Tatsache; sie hängt vom Glauben ab. Und Gleiches gilt vom Wert des objektivsten Wertes der Welt — dem Gold; glaubten die Menschen nicht daran, dann bedeutete sein Tatsächliches
nichts. Der Glaube an Tatsachen ist vom Standpunkt des spirituellen Menschen tatsächlich der wunderlichste und zugleich der gröbste aller Aberglauben. Zu erklären ist er einzig und allein aus der dem amerikanischen Denken eigentümlichen Umkehrung aller Dinge. Da indessen der Sinn die Tatsachen schafft, und nicht umgekehrt, so erzeugt der verkehrte Glaube eine reale Welt nach seinem Bilde. So gewinnt das Animalische im Menschen gegenüber dem eigentlich Menschlichen immer mehr an Macht; der Sinn der Tatsachen, welcher diese allererst menschlich macht, verliert unaufhaltsam an Bedeutung. Mit dem Endergebnis, dass der Mensch sich zu einem reinen und richtigen höheren Tier zurückentwickelt.
Sind wir einem derartigen Zustand nicht schon erschreckend nahe? Schon wird Liebe als rein biologische Funktion verstanden; schon ist Gesundheit höchstes Ideal. Der Amerikaner vergisst immer mehr, dass eben sein Mangel an Gleichgewicht den Menschen vom Tier unterscheidet; denn das allein befähigt ihn, immer wieder über sich hinauszustreben. Gesundheit bedeutet stabilisiertes Gleichgewicht — aber solches kann nur dort bestehen, wo es keine Wandlung gibt. Je mehr der Geist, welcher ewige Bewegung ist, im Menschen dominiert, desto unbeständiger muss sein Gleichgewicht sein. Überdies wirkt Geist auf Erden nur mittels empirischer Spannungen. Und wie das Gesundheitsideal zur Animalisierung des Amerikaners beiträgt, so steht es auch mit dem amerikanischen Erziehungs-Ideal, das nichts Besseres als ein Tieren angemessenes Training bedeutet. Geht es so weiter, dann wird das Ideal des hohen Lebensstandards letztendlich Generalnenner aller Ideale werden. Damit würde der Mensch sich denn vom Abenteuer des eigentlich menschlichen Lebens zurückziehen und zur einfachen, gesicherten und ungefährdeten Tierheit zurückkehren …