Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Einführung

Subjektivität

Warum habe ich obige allgemeine Betrachtung als Einführung diesem Buch vorangesetzt? Weil es seinem Wesen nach nicht ein Buch über Amerika, sondern für Amerikaner ist; und weil die Möglichkeit, dass es befruchtend wirke, in erster Linie davon abhängt, dass sich meine Leser von vornherein richtig einstellen. Als ich mich zu meiner Vortragsreise in den Vereinigten Staaten rüstete, ward ich gebeten, meine Themen anzugeben. Meine Antwort lautete:

Ich habe keine; ich bin nicht Vertreter einer bestimmten philosophischen Theorie; ich bin Philosoph, und das bedeutet, dass mein Bewusstseinszentrum normalerweise im Verstehen liegt, genau so, wie das Bewusstseinszentrum der grande amoureuse in der Liebe, oder das des Malers in seiner Schau oder das des Geschäftsmanns in der Erfassung der richtigen Korrelation der materiellen Werte liegt. Darum ist es mir grundsätzlich einerlei, mit welchem Problem ich mich befasse. Gewiss bin ich nicht allen gewachsen; fern davon. Liegt aber der mir vorgelegte Gegenstand überhaupt im Bereich meines Blickfeldes, dann kann ich ihn ganz selbstverständlich meinen Fähigkeiten entsprechend behandeln. Dem ist so, weil philosophische Behandlung mit dem sachlichen Inhalt als solchen nichts zu tun hat: die Behandlung eines Gegenstandes ist philosophisch oder nicht-philosophisch je nachdem, ob der besondere Gesichtswinkel, unter dem er betrachtet wird, der des Philosophen ist oder nicht. Nun bin ich von Natur aus Improvisator; überdies verfolge ich bei meinen Vorträgen nur das eine Ziel: anderen zu helfen. Fühle ich nicht, dass lebendige Notwendigkeit meiner bedarf, so habe ich nichts zu sagen: von meinen persönlichen Standpunkt würde ich viel lieber schweigen. Drum mögen die, welche mich hören wollen, selbst entscheiden, welches Thema ich zu ihrem Besten behandeln soll, und mir in anregender Form darüber schreiben: dann, und nur dann, werde ich mein Bestes geben können — was immer dieses Beste an sich wert sei.

Es kam so, wie ich’s erhofft hatte. Die verständigsten Fragen wurden mir vorgelegt. Fast jedesmal gewann ich unmittelbare Fühlung mit meinem jeweiligen Hörerkreis; dementsprechend habe ich wohl keinen Vortrag zweimal gehalten, so oft die in den Zeitungen angezeigten Themen die gleichen waren. Aber vor allem brachte mich dieses Verfahren in unmittelbaren Kontakt mit den Tiefen des amerikanischen Unbewussten. So gab mir dieses alles, was ich aufzunehmen fähig war. Von meinem Standpunkt habe ich jedenfalls viel mehr empfangen, als ich gegeben habe. Ich ward vor mir völlig neue Lebensprobleme gestellt. Es traten Fragen an mich heran, die zu stellen mir kaum je eingefallen wäre. Noch während meiner Reise in den Vereinigten Staaten spürte ich, dass ich geistig schwanger ging. Und kaum war ich in Europa zurück, so wusste ich, dass ich bald in für mich endgültiger Form würde herausstellen können, was ich den Amerikanern als Gegengabe für den Reichtum an Anregungen, den ich ihnen danke, zu bieten fähig bin. Unverzüglich ging ich an die Arbeit. Die geistigen Kinder, welche nach und nach in Gestalt von Kapiteln das Licht der Welt erblickten, waren mir selbst, samt und sonders, Überraschungen: in meinem Unbewussten hatte Neues Gestalt gewonnen.

Die Ausblicke und Ergebnisse, zu denen ich gelangt bin, sind in erster Linie persönlicher und subjektiver Natur; der den ersten Teil dieses Buches einleitende Absatz wird dem Leser zeigen, wie wenig Illusionen ich mir selber mache bezüglich meiner Unfehlbarkeit. Aber andererseits beruht der ganze Wert, den ein Mensch meiner Art für andere haben kann, ganz und gar auf seiner Subjektivität und seiner unbedingten Wahrhaftigkeit. Im Kapitel Ökumenische Spannung und Weltüberlegenheit von Wiedergeburt schrieb ich über den Menschentypus, den die Schule der Weisheit heranzubilden strebt:

er muss exzentrisch wirken, denn vom Standpunkt des augenblicklichen Zustandes verkörpert er ein Element der Störung. Er wird der Mehrheit ein ständiges Ärgernis bedeuten, gerade insofern er weise ist. Die Chinesen, welche von Weisheit mehr verstehen als irgendein Volk, bezeichnen den Weisen durch eine Kombination der Ideogramme für Wind und Blitz: weise sei nicht der abgeklärte alte Mann, welcher alle Illusionen verlor, sondern der dem Wind gleich unaufhaltsam vorwärts stürmt und an keiner Station zu fassen ist; welcher dem Blitz gleich die Luft reinigt und, wo es gerade not tut, einschlägt.

Hieraus erklärt sich zum Teil auch meine Vorliebe für herausfordernde Ausdrucksweise. Es ist offenbar die vornehmste Pflicht jedes Menschen, der in irgendeiner Hinsicht richtiger als andere zu sehen und zu urteilen glaubt, sich den Vorurteilen anderer nicht anzupassen; lieber möchte er der bestgehasste Mensch der Welt sein, als beliebt. Doch der Hauptgrund dessen, warum ich das, was ich für wahr halte, ausspreche, ohne im geringsten den subjektiven Ursprung meiner Überzeugungen zu verbergen, steht im ersten Teil dieser Einführung angeführt. Ich will für meinen Teil am Fortschritt Amerikas mitarbeiten. Zu diesem Zweck muss ich meinen Worten nach Möglichkeit die Eigenschaften dessen mitteilen, was die Hellenen Logos spermatikós nannten. Ob alle von mir angeführten Tatsachen richtig sind, ist mir grundsätzlich einerlei. Sehr wahrscheinlich sind sie’s in vielen Fällen nicht. Und dies nicht allein, weil meine Sachkenntnis begrenzt ist, sondern vor allem deshalb, weil ich, um schöpferisch zu wirken, je nach den Umständen vereinfachen, übertreiben, ja karikieren musste; was vielen als mangelnde Sachkenntnis erscheinen mag, ist oft gewollte künstlerische Form. Ich will auch nicht verstandesmäßig überzeugen: woran allein mir in jedem einzelnen Falle liegt, ist die Anbahnung eines Prozesses schöpferischer Erkenntnis in meinen Lesern. Ob dieses Ziel auf dem Wege der Zustimmung oder heftigen Angriffs erreicht wird, ist mir gleich. Um meine wahre Absicht, ganz deutlich zu machen, darf ich vielleicht einiges über die Wirkung mitteilen, die mein Spektrum Europas auf dem betrachteten Kontinent gehabt hat. Die meisten sind der Meinung, dass ich von allen Ländern die Schweiz am schlechtesten behandelt habe; und da ich jenes Land genau kenne, sehe ich selbst sehr wohl, dass viele meiner Urteile einseitig sind. Ich hatte aber nur ein Ziel: eine Wandlung herbeizuführen. Und gerade dies ist mir geglückt. Nirgends ist dies Buch verhältnismäßig so viel gelesen worden wie in der Schweiz; es hat endlose Diskussionen und Aussprachen ausgelöst. Mit dem Ergebnis, dass schon ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung eine ziemlich reinliche Scheidung zwischen den Schweizern, die sich für eine bessere Zukunft einsetzen, und denen, die mit allem Bestehenden zufrieden sind, erfolgt ist. Mehr habe ich nie erhofft. Ebensowenig haben mich die Missverständnisse und Angriffe, denen ich ausgesetzt war, je gegrämt. Um einem Leserkreis, der wahrscheinlich in seiner Mehrheit Feinde nicht als Aktivposten zu buchen gewohnt ist, ganz deutlich zu machen, was ich meine, darf ich vielleicht ein Zitat aus einem anderen meiner Bücher anführen. In der Einleitung zu der französischen Ausgabe meines Reisetagebuches schrieb ich:

J’ai souvent répondu à ceux de mes amis que chagrinaient les malentendus dont j’étais l’objet: Le malentendu est, selon moi, la première incarnation légitime de toute vérité. Il me semble vraiment ridicule, qu’un novateur — si modeste qu’il soit comme tel — se plaigne de n’être pas compris: l’âme étant un organisme vivant, elle ne peut assimiler que ce qui lui convient. Et si un élément étranger est introduit dans son système, il produit des troubles dont l’intensité est directement proportionnelle à sa force propre. Dans ce sens, j’ai toujours été reconnaissant envers ceux qui ont bien voulu m’honorer de leurs attaques. Jamais je n’ai cru nécessaire de nie défendre: ou bien la drogue que je représente agit; ou bien elle n’agit pas.

Dem Ausgeführten entsprechend, ist Amerika alles eher als ein Buch der Kritik; sein eines Ziel ist, schöpferisch zu wirken. Es ist in erster Linie kein Buch über Amerika, sondern für Amerikaner. Ich möchte diesen helfen, sich selbst und ihre Probleme klarer und schärfer zu sehen, als sie es bisher tun. Zu diesem Zweck habe ich so manches Mal in populärer Form Erkenntnisse noch einmal dargelegt, welche andere Bücher in weniger fasslicher Fassung enthalten, um vollkommen deutlich zu machen, welches meines Erachtens die wahren Probleme Amerikas just vom amerikanischen Standpunkt sind oder sein sollten. Und aus dem gleichen Grund habe ich sogar den Mut gehabt, auf englisch zu schreiben; nur wenige Abschnitte sind ursprünglich in deutscher Sprache geschrieben und durch die Übersetzerin der Schöpferischen Erkenntnis, Frau Therese Dürr, ins Englische übertragen worden. Selbstverständlich beherrsche ich diese Sprache nicht so, wie dies ein Schriftsteller sollte. Andererseits aber denke ich auf englisch nicht allein, wenn ich mich an englisch sprechende Zuhörerschaften wende, sondern sogar, wenn ich mich mit ihnen und ihren Problemen geistig beschäftige. Und da Gedanken nicht wirklich von einer Sprache in die andere übersetzt werden können, weil jedes Volk andere Gedanken denkt, so war es mir unmöglich, in deutscher Sprache und zugleich für Amerikaner zu schreiben. Ich hoffe, meine Leser werden aus diesen Gründen den Mängeln meines englischen Stils gegenüber Nachsicht üben.

Und nun ist der Augenblick gekommen, die allgemeinen Anfangsbetrachtungen mit der erklärenden Einführung, welche ich meinen Lesern zum Verständnis der Eigenart von Amerika geben musste, zu einer Einheit zusammenzufassen. Wollen meine Leser wirklichen Gewinn aus diesem Buch ziehen, dann mögen sie sich vorstellen, dass sie und ich in dem oben skizzierten, einzig fruchtbaren Verstand miteinander diskutieren. Ich habe das Buch auf englisch America set free betitelt. Es ist tatsächlich eine Art Psychoanalyse1 der Vereinigten Staaten geworden. Ich habe Amerikas Wahrheit von seiner Einbildung zu scheiden und dann die Dichtung einer im absoluten Sinne vorwärts und aufwärts führenden Entwicklung zu weisen gesucht. Darum dürfte die Frage, ob ich objektiv recht oder unrecht habe, vernünftigerweise gar nicht gestellt werden — keine psychoanalytische Deutung war je richtig in diesem Verstand: sie ist wahr genau in dem Maß, als sie den Analysierten mit neuen Kräften begabt. Da ich nun nur ein Ziel habe: zur Schaffung eines besseren Zustands beizutragen; und da meine Leser, wenn sie mir Gehör schenken, vernünftigerweise nur den einen Zweck verfolgen können, möglichst viel Vorteil aus einem — im übrigen vielleicht unliebsamen — Ausländer zu ziehen — warum sollten sie auf meinen Wunsch nicht eingehen? Mögen sie zunächst eine passive und rezeptive Haltung einnehmen und abwarten, was geschieht. Sollte wirklich Unerwünschtes oder Nicht-zu-Wünschendes eintreten, so wird es an Zeit nie fehlen, mich zu kritisieren und schließlich abzutun. Aber warum sollten meine Leser mir nicht zunächst eine fair chance geben? Es wäre gewiss dem amerikanischen Geist zuwider gehandelt, mir diese zu versagen.

1 Die französische, bei der Librairie Stock in Paris erschienene Ausgabe heißt auch Psychoanalyse de l’Amérique.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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