Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Sozialismus

Internationale

Im nächsten Kapitel wird einiges weitere über das im vorhergehenden Abschnitt behandelte Problem zu sagen sein. Hier liegt mir nur mehr ob, das Bild, so wie es sich vom Standpunkt dieses darstellt, zu Ende zu zeichnen. Das aber bedeutet, dass ich nach Beschreibung der positiven Möglichkeiten das Negative behandeln muss.

Es kann davon selbstverständlich keine Rede sein, dass eine Zivilisation in allen Hinsichten ideal sei; alle Vollendung ist einseitig. Und im Fall der Vereinigten Staaten muss sich solche Einseitigkeit um so mehr manifestieren, als sie auf den sozialen Impulsen aufgebaut sind. Der Einzelne mag, grundsätzlich gesprochen, jede Art Leben führen; er mag sogar an jedem beliebigen Punkte neu anfangen; er ist der Träger des Prinzips der Initiative und Variation. Demgegenüber ist die Gruppe wesentlich konservativ, statisch und exklusiv. Ich kenne kein Beispiel verkehrteren Denkens als den Plan einer die ganze Menschheit umfassenden sozialistischen Internationale. Freilich könnte die ganze Menschheit, trotz aller Gegensätzlichkeiten, eine einheitliche Körperschaft werden, wie dies von der Christenheit im Mittelalter galt; aber dies könnte dann allein geschehen, wenn alle Einzelnen vollkommene Individualisierung erreichten; nur das Einzige im Menschen ist allseitiger und nicht ausschließlicher Beziehungen fähig; aus diesem Grunde konnte zu allen Zeiten nur der Aristokrat ein Mann von Welt in weltweitem Verstand, ein wahrer Kosmopolit sein; er allein verlor sich nicht, wenn er sich aller Welt öffnete. Soll hingegen die Gruppe als solche prädominieren, welches Vorherrschen der sozialen Triebe voraussetzt, dann ist ein in sich geschlossenes System unvermeidliches Ergebnis, welches immer der Charakter der Gruppe sei. Jede Familie ist wesentlich exklusiv, jede Armee, jede Nation, jede politische Partei, jede Geschäfts- und Konsumgenossenschaft. Eine Familie, obschon innerhalb ihrer eigenen Grenzen das altruistischste Gebilde der Welt, ist das alleregoistischste in ihrer Beziehung zu allem Außenstehenden; wo es sich um ihre Kinder handelt, ist die aufopferndste Mutter ebenso göttlich egoistisch, wie das wildwütigste Tigerweibchen. Hieraus erklärt es sich, dass es auch heute kein freieres Leben gibt als das des Amerikaners (oder seines geladenen Gastes) auf amerikanischem Boden, dass aber Amerikas auswärtige Politik mehr wie irgendeine dazu neigt, die Interessen anderer außer acht zu lassen. Diese schon heute in die Augen springende Tatsache wird vorläufig noch durch überlebende Ideale des 18. Jahrhunderts verschleiert. Doch wenn die Vereinigten Staaten sich seit Versailles aus allen idealen Stellungen, die sie während des Krieges angenommen hatten, zurückgezogen haben, so werden sie gleiches in Zukunft desto gewisser jedesmal tun, wo sie entdecken, dass deren Behauptung ihren Interessen zuwiderläuft. Ein geschlossenes System kann einfach nicht selbstlos sein. Es gibt, gegenüber der immer energischer sich materialisierenden Monroedoktrin, nur eine andere Alternative: Welteroberung. Ein Bienenstock mag sich theoretisch zu einem weltumspannenden Bienenstock erweitern können — nie kann er sich der Nicht-Biene öffnen. Nun ist es aus organischen Gründen ausgeschlossen, dass ein ausschließliches Ganzes gleichzeitig weltumspannend sei; das Schicksal aller weltumspannend-seinwollenden Weltreiche und Weltkirchen hat dies abschließend bewiesen. Nie blieben diese lange weltumspannend, zumal weil sie in hohem Grad auf dem Zwang überlegener Macht beruhten; denn nur innere Kräfte halten Gruppen dauernd zusammen, und solche sind entweder organisch da oder aber nicht. Dies erklärt vieles am Verlauf der Menschheitsgeschichte. In allen Anfangsstadien waren kleine Stammesverbände die normalen Einheiten, und diese absorbierten den Einzelnen vollständig wegen der organischen Vorherrschaft des Sozialen über dem Individuellen innerhalb jedes Einzelnen, und wegen des Fehlens übertragbarer Elemente. Proportional der Entfaltung von Individualität und Intellektualität wurde die Gruppe zugleich umfassender, der Individualinitiative weniger feind — aber sie verlor an organischem Zusammenhang. Nun ist jede Nation wesentlich sozialer Struktur in den betrachteten Hinsichten einem Stammesverbande ähnlich; auch ihre Lebensform ist wesentlich unübertragbar und nicht-rational. Dies erklärt, warum die Herrschaft des internationalen Ideals in Russland dessen Bewusstsein nationalistischer und exklusiver gemacht hat, als es je vorher war. Gleiches nun gilt, von den Vereinigten Staaten. Es gibt in der modernen Welt keinen anpassungsunfähigeren Menschen wie den Amerikaner — genau wie die Primitiven beurteilt er alles Nichtamerikanische einfach als unrecht. Aus dem gleichen Grunde ist er unfähig zu kolonisieren; er könnte es nur in der Form der griechischen Kolonien, welche im gleichen Verstande neue Lebensanfänge waren wie Bienenschwärme, die ihren ursprünglichen Stock verlassen, um neue zu gründen.

Aus diesen einfachen Betrachtungen folgt — was wir schon früher andeuteten, jedoch ohne es näher zu begründen —, dass von einer Amerikanisierung der Welt keine Rede sein kann. Ganz im Gegenteil: da der Amerikaner der insularste Vertreter der neuentstehenden Welt ist, so können die Vereinigten Staaten nicht umhin, sich in der Richtung immer größerer Insularität fortzuentwickeln. Was von allen Kulturen gegolten hat — dass sie ausschließlich, unübertragbar und zeitlich wie örtlich verstanden, einzig waren, muss in höchstem Maß vom künftigen Amerika gelten. Kein Volk wird es nachahmen können, ganz abgesehen von allen wirtschaftlichen Erwägungen, die zu gleichem Ergebnis führen. Hiermit hätten wir einen historisch wie politisch höchstbedeutsamen Punkt erreicht: da Amerika das einzige auf Wohlstand gegründete sozialistische Gemeinwesen und als solches fast ebenso exklusiv ist wie ein altgriechischer Stadtstaat (hier liegt der Seinsgrund der völlig irrationalen, aber desto vitaleren Idee der Beschränkung der Einwanderung), muss es sich unvermeidlich allen anderen gegenüber in permanenter Opposition befinden. Dieser werdende Zustand kommt, in den Gefühlen der Völker auf beiden Seiten des Atlantic und Pazific, und sogar südwärts jenseits des Isthmus von Panama schon sehr deutlich zum Ausdruck.

Noch eine weitere Folge des amerikanischen Sozialismus. Es gibt, nur individuelle Initiative; das Individuum allein ist Träger des Prinzips der Variation; es allein verkörpert auch das Prinzip der Beschleunigung. Unter diesen Umständen kann das sozialistische Amerika unmöglich dauernd das bleiben, was es heute ist: ein fortschrittliches Land. Interferiert keine neue Kausalreihe mit der heutigen Entwicklung, dann wird es unvermeidlich so konservativ, so statisch und traditionell werden, wie es nur je eine Familie war. Diese Entwicklung muss notwendig ein weiteres Beschleunigungsmoment in der — ebenso unvermeidlichen — Zunahme des weiblichen Einflusses finden; denn die Frau ist konservativ und routineliebend. So ist die gegenwärtige Beweglichkeit und Dynamik des amerikanischen Lebens höchstwahrscheinlich nicht anders zu beurteilen, wie die Beweglichkeit der Sporen als Vorspiel zur Seßhaftigkeit der Moose. Schon heute ist ja der bodenständig gewordene Amerikaner von Herzen schwerfällig, konservativ und konventionell.

So viel über diese Art Grenzen, die Amerikas besondere Struktur bedingt. Andere sind vielleicht noch wichtiger. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Amerika je kulturell Bedeutendes auf Gebieten, welche Einzigbewusstsein voraussetzen, leisten wird. Das Soziale ist immer zugleich das individuell Undifferenzierte. Wenn alle Amerikaner trotz aller Unterschiede der Herkunft mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf einen einzigen Typus oder auf eine sehr kleine Anzahl von solchen konvergieren, so liegt das daran, dass die sozialen Tendenzen die individuellen, die allein Differenzierung bewirken, unaufhaltsam überwachsen. Überall, wo die sozialen Tendenzen prädominieren, müssen die Unterschiede zwischen den Gruppen sehr betont sein; doch zwischen den Individuen innerhalb jeder Gruppe kann es kaum welche geben. Daher muss sich der amerikanische Typus immer mehr entindividualisieren, je mehr er sich seiner Vollendung auf dem bisher eingeschlagenen Wege nähert. Er mag am Ende sogar im pathologischen Sinne unindividuell werden. Infolge des herrschenden Wettbewerbprinzips gibt es in den Vereinigten Staaten natürlich Adlersche Fälle; bekanntlich hat Alfred Adler entdeckt, dass viele nervöse Erkrankungen auf eine Hypertrophie des Willens zur Macht zurückzuführen sind, welcher allemal auf Kosten der ursprünglichen sozialen Impulse wächst. Es gibt aber drüben sicherlich viel mehr Fälle, für die es vorläufig noch keine medizinische Bezeichnung gibt, die aber die Benennung Anti Adlerscher Fälle wohl verdienen: sie sind durch eine Hypertrophie der sozialen auf Kosten der individuellen Triebe charakterisiert. Hier erscheint der Wille zur Macht — an sich etwas sehr Gutes, wenn er nur richtig gelenkt wird — verdrängt zugunsten des Willens zum Dienst. Da Amerikas Sozialismus überdies die Gesinnung der Erben einer ursprünglich höchst individualistischen Rasse ist, so muss er natürlich viel pathologische Symptome aufweisen, denn Rasseeigentümlichkeiten verschwinden nicht so schnell. Ein erklecklicher Teil der Rastlosigkeit und Nervosität, des amerikanischen Lebens scheint darauf zurückzugehen. Jedenfalls gibt dies die beste Erklärung ab für jenes Minderwertigkeitsgefühl, welches die meisten typischen Amerikaner zur Schau tragen, wenn sie mit individualisierteren Typen in Berührung kommen. Doch lassen wir das Pathologische beiseite: Tatsache ist in jedem Fall, dass selbst die natürlichste Vorherrschaft der sozialen Triebe, wenn sie in einigen Hinsichten absolute Überlegenheit bedingt, in anderen ebenso absolute Minderwertigkeit zur Folge hat. Wenn allein die Ich-Du Beziehung in der öffentlichen Meinung Geltung hat, und nicht die Einzigkeit des Ich, so können viele Werte unmöglich verwirklicht werden.

Der Sozialismus macht in der Tat allzu leicht für Werte blind. Die Schriften von Judge Lindsay sind ein besonders lehrreiches Beispiel dafür. Dieser Mann meint es gut; er hat unbestreitbare Verdienste; und er ist wirklich einer der Hauptvorkämpfer für die Freiheit, in einem mit dem Verlust seiner ursprünglichen Freiheit bedrohten Amerika. Dennoch vermag auch er nicht zu erkennen, dass es unbedingte Werte gibt. Er verwirft Ideale, die er für veraltet hält. Doch an ihre Stelle setzt, er keine neuem gleich hohen Ideale — er versteht gar nicht, dass die wahre Aufgabe darin besteht, den ewigen Wahrheiten eine dem neuen psychologischen Zustand entsprechende Fassung zu geben. Grundsätzlich sagt er: Wenn mir dies oder das angenehm ist, warum soll ich’s nicht tun, vorausgesetzt, dass es mich glücklich und gesund macht? Hier finden wir die umfassendste Erklärung für die Gewohnheit der Amerikaner, in ihrem Denken alles und jedes mit dem Begriff des Dollars zu verknüpfen. Das Geld ist wirklich der einzige Generalnenner für alle Bedürfnisse, der für den als Tier verstandenen Menschen in unserem Zeitalter auszudenken ist. Der so verstandene Dollarkult ist tatsächlich Ausdruck nicht individueller Gier, sondern des vorherrschenden Social-Service-Instinkts. Und Gleiches gilt, mutatis mutandis, vom heutigen amerikanischen Erziehungsideal. Die Colleges oder Universitäten sollen gebildete Menschen liefern, wie Fabriken Kraftwagen. Wie sollte die Erziehung ein anderes Ideal haben, wenn die Gruppe und nicht das Individuum letzte Instanz ist?

Die Idee, dass die Ich-Du-Beziehung mehr bedeutet als das Individuum, ist in der Tat ein höchst gefährliches Ideal. Es führt unvermeidlich zum Supremat der Dinge im Gegensatz zum lebenden Wesen; unvermeidlich führt es einem routinebeherrschten Leben zu. Wir wollen hier den Grundgedanken des vorhergehenden Kapitels wieder aufnehmen, der die Gefahr behandelte, dass Amerika so etwas wie ein riesiger Ameisenhaufen werden könnte. Diese Gefahr bestünde nicht, wie sehr auch die Technik fortschritte und selbst wenn das Tier-Ideal noch lange vorherrschen sollte, wäre der Amerikaner nicht seinem Wesen nach Sozialist. Glücklicherweise sind noch viele Eigenschaften der Pionierzeit bestimmende Kräfte: die Abenteuerlust und die Freude am Wettbewerb und last not least ein gesundes Misstrauen gegen jede bloße Gelehrsamkeit. Der typische wurzelechte Amerikaner hat einen angeborenen Abscheu vor dem Fachmann. Im Fernen Westen hört man noch manchmal den Spruch:

Erst kommt der Lügner,
dann der verdammte Lügner
und dann der Fachmann.

Das Beste am amerikanischen Unternehmungsgeist beruht auf dem in der Pionierzeit bewährten Glauben, dass es immer am besten ist, sich auf die schöpferischen Kräfte des Menschen und seine individuelle Initiative zu verlassen, was durch den Glauben gestützt wird, dass jeder im Notfall grundsätzlich alles leisten kann. Dies ist der Grund, warum man in Amerika die allem Sozialismus inhärierenden Mängel, nämlich den drohenden Initiativeverlust des Lebens, vorerst viel weniger spürt als z. B. in Deutschland. Doch es besteht Gefahr, dass die Entwicklung auf ihrer heutigen Stufe nicht stehenbleibt; denn jede hat ihre Eigenlogik und ihr eigenes Gefälle. Und obgleich die Amerikaner nicht Routinemenschen im deutschen Verstande sind, so muss doch die bloße Tatsache, dass sie soviel Nachdruck auf das legen, was sie enterprise und promotion nennen, unabwendbar in steigendem Maß die Insektenhaftigkeit ihres sozialen Lebens steigern. Max Scheler hat kurz vor seinem Tode in seiner besten Schrift, Die Stellung des Menschen im Kosmos — dem schriftlichen Niederschlag seines Vortrags auf der siebenten Jahrestagung der Schule der Weisheit in Darmstadt — darauf hingewiesen, dass der Mensch das einzige welt-offene Tier ist; allen anderen stehen nur kleine Ausschnitte des Universums offen. Spezialisiert er sich nun aber auf amerikanisch, dann verliert er gerade diese Weltoffenheit. Das amerikanische Leben könnte so zuletzt nicht zwar eine einzige Wiederholung, wohl aber so etwas wie ein kinematographisches Bild werden: in ständigem Wechsel begriffen, doch nicht aus innerlich-lebendigen, sondern äußerlich-mechanischen Gründen.

Doch ich beeile mich zu sagen, dass das hier gezeichnete Schicksal nicht unvermeidlich ist. Der erste Schritt zur Weisheit ist die Erkenntnis, dass alle positiven Möglichkeiten Grenzen implizieren und mit solchen organisch verknüpft sind. Eine vollkommene soziale und wirtschaftliche Zivilisation ist dort allein möglich, wo die individuelle Seite des Menschen unterentwickelt bleibt. Und welches auch die Nachteile seien die Richtung der amerikanischen Entwicklung kann, noch einmal, zu dem Ziel führen, dass die Vereinigten Staaten dermaleinst eins der größten historischen Vorbilder sozialer und ökonomischer Ordnung darstellen werden.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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