Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Privatismus

Wille des Volks

Man erwartet jetzt wohl von mir, dass ich recht viel Tatsachen der amerikanischen Konstitution — das Wort im politischen wie physiologischen Sinn verstanden — anführen werde. Aber ich denke nicht daran. Meine Leser mögen an die Grundthese Gustave Le Bons zurückdenken, derzufolge die Völker nicht von ihren Institutionen regiert werden, sondern von ihrem jeweiligen Charakter. Das Leben erweist sich immer stärker als jede nur denkbare äußerliche Konstruktion. Wohl hat es nicht immer die Macht noch auch den Wunsch, letztere zu ändern — doch die Art, wie es sie deutet und anwendet, führt von sich aus Änderungen herbei, welch’ innere Wandlung Konservatismus Äußerlichem gegenüber häufig sogar fördert; man denke an England. Dementsprechend begingen wir einen groben Fehler, wollten wir den Institutionen als solchen eine vital bedeutsame Rolle im amerikanischen Leben zuschreiben. Erscheinen einige Einrichtungen aus dem 18. Jahrhundert noch vital, so beruht dies nicht auf der ihnen innewohnenden Kraft, sondern auf dem Fortleben des Geistes jenes Jahrhunderts. Doch die meisten Institutionen haben ihre ursprüngliche Bedeutung tatsächlich längst verloren. Um eine amerikanische Autorität, Professor Carl Becker, zu zitieren

Auf der Grundlage der Volksherrschaft und der nationalen Unabhängigkeit, ursprünglich einem Protest gegen das Gottesgnadentum der Könige, konstituiert, ist in unserer Zeit die Lehre vom Gottesgnadentum des Staats und vom Absolutismus der Mehrheit geschaffen worden. Heute ist dieser Absolutismus in der Hand der Kapitalisten, morgen kann er in der Hand des Proletariates sein.

Und ein anderer Amerikaner, Professor Pollard, schreibt gleichsinnig:

Die Verantwortungslosigkeit der Monarchen ihren Völkern gegenüber ist nichts im Vergleich zur Verantwortungslosigkeit des Staates. Wenn der Staat tun kann, was ihm beliebt, sich seinen eigenen Kodex internationalen Verhaltens zurechtlegen und seine eigenen Vorstellungen von Wahrheit und Moral diktieren darf, dann ist es für die, welche darunter leiden, einerlei, ob jenes Diktat von einem Despoten oder einer Demokratie ausgeht…

In der Tat, der lebendige Sinn allein verleiht Institutionen Macht. Wir werden daher hier nur Tatsachen von vitaler Bedeutung betrachten, und an solchen nicht mehr, als zum Verständnis des Sinns unbedingt erforderlich erscheint. Um diesen fasslich herauszustellen, werde ich sogar vor gelegentlichen Vereinfachungen und Übertreibungen nicht zurückscheuen.

In diesem Zusammenhang sind wirklich nur wenige Facta von primärer Bedeutung. Ich will mit dem auffallendsten beginnen: der amerikanischen Einstellung gegenüber dem Gesetz. Es klingt einfach lächerlich, wenn Amerikaner von der Majestät des Gesetzes reden (was sie, wie ich zugeben muss, nur selten tun). Kein Ausdruck wird dem Sachverhalt in England besser gerecht. In den Vereinigten Staaten täte er es in keiner Weise. Der Richter gilt, in erster Linie als der Vollstrecker des Volkswillens, welcher nur nebenbei oder zufällig mit dem Volkswohl zusammenfällt. Verfassung hin, Verfassung her: psychologisch gesprochen hat sich der amerikanische Richtertyp aus den Sheriff der Grenzerzeiten entwickelt; seine Aufgabe war, das Gemeinwesen vor allen denen zu schützen, die sein Leben und seinen Besitz bedrohten. Dementsprechend ist die amerikanische Rechtsauffassung der des bolschewistischen Russlands grundsätzlich viel ähnlicher — wieder ein Fall von Konvergenz! — als der europäischen. Ursprünglich handelte es sich um Justiz vom Interessenstandpunkt einer gegebenen Siedlergruppe. Später entwickelte sie sich mehr oder weniger zu einer Parteijustiz. Und sie könnte jederzeit zur Klassenjustiz werden, wie in Russland, wenn es in Amerika entsprechende Klassen gäbe; denn die Grundidee ist die gleiche. Man führe hier nicht die Tatsachen der Verfassung gegen mich an, oder die Appellationsgerichte oder gar den Obersten Gerichtshof, welcher nach allem, was ich höre, vorbildlich in seiner Art ist. Freilich lässt sich im Rechtswesen der Vereinigten Staaten eine Entwicklungslinie verfolgen, welche einfach die englischen Rechtstraditionen fortsetzt; und freilich mögen manche Institutionen ohne Rücksicht auf das, was die Leute denken, funktionieren; jede Institution als selbständige Entität kann ja überallhin verpflanzt werden. Endlich führt gerade die Tatsache, dass Amerika das Recht anders auffasst als der Erbe des alten Roms, Europa, gelegentlich zu einer Vermenschlichung des Rechtsverfahrens und -wesens, die dem wahren Geist der Gerechtigkeit besser entspricht, als irgendein Äquivalentes in der Alten Welt. Aber das in diesem Zusammenhang Entscheidende ist die Vorstellung vom Recht, die der Amerikaner instinkthaft hegt. Das System der geschriebenen Verfassungen zählt hier genau nur insoweit mit, als es nichts enthält, was die öffentliche Meinung hindern könnte, ihre Absichten durchzuführen. Sollte diese einmal auf eine gleiche Verteilung des Reichtums oder auf die Herstellung einer echten Sozialdemokratie hinzielen, so fehlte der öffentlichen Ordnung als solcher jede Macht, dies zu verhindern.1

Genau das gleiche gilt vom gesamten Rechtswesen, sogar dort, wo es sich um reine Gerechtigkeit handelt. Das Gesetz ist nicht ein über den Privatwünschen Thronendes; es wird innerlich genau nur soweit bejaht und gestützt, als es diesen entgegenkommt. Wird, wie dies nicht selten vorkommt, ein Gesetz gestützt, obgleich es allgemein als schlecht gilt, so ist das — von der allzu häufigen Feigheit, vor den Wählern oder anderen mächtigen Körperschaften abgesehen, man denke an die Prohibition! — auf den allen jungen Gemeinwesen eigenen Traditionalismus zurückzuführen und auf den ursprünglichen Respekt eines innerlich chaotischere Lebens vor jeder Art Form. — Das Gesetz wird also in den Vereinigten Staaten in erster Linie als Ausdruck des Volkswillens angesehen, welcher Wille seinerseits nicht als ein über dem Privatwillen Stehendes aufgefasst wird in dem Sinn, in dem Rousseau die volonté générale der volonté de tous gegenüberstellte, sondern nur im Sinn der letzteren. Theoretisch führt dies zu der Auffassung, dass der Wille der Mehrheit sakrosankt ist. In der Praxis aber erkennt kein Amerikaner wirklich an, dass der Wille eines anderen ein Bedeutsameres als sein eigener sei. Dies führt denn unvermeidlich zu der Vorstellung, dass die Interessen des Staates und der Justiz, wo sie mit den seinen kollidieren, dies genau im gleichen Sinne tun wie die Interessen geschäftlicher Konkurrenten. Dies erklärt einen großen Teil dessen, was zur Kategorie des graft gehört; letzterer bedeutet drüben ganz anderes als Unehrlichkeit in anderen Ländern. Dies erklärt insbesondere die Stellung der Amerikaner der Prohibition gegenüber. Der Staat ist ein Privattrust unter anderen. Wie jeder Trust mag er selbstverständlich alles nur mögliche versuchen, um seine besonderen Ziele zu erreichen; das ist sein gutes Recht. Aber es liegt nicht der geringste Grund vor, dass die einzelne Privatperson ihrerseits nicht alles tut, um ihre persönlichen Wünsche zu erfüllen. Dass solche Auffassung nicht alle Ordnung zerstört, ist nicht auf Rechtsinn oder sonst eine politische Tugend zurückzuführen, sondern auf die dem Amerikaner angeborene Moralität und den Puritanismus. Hier jedoch vergesse man wiederum nicht, dass der ursprüngliche Puritaner in geschäftlichen Dingen durchaus skrupellos war und es immer als fair betrachtete, jedes ihm gerade zur Hand liegende Mittel auszunutzen.

All dieses zusammengenommen scheint mir den größten Teil dessen, was dem Europäer im amerikanischen Rechtsleben als sonderbar auffällt, zu erklären. Der Richter ist nicht unabhängig; er wird gewählt und kann abgesetzt werden, wenn er dem Volke nicht genehm ist; er muss sich in hohem Maß den Wünschen seiner Partei fügen. Oft besitzt er sogar sehr wenig Rechtskenntnis. Die Geschworenen spielen eine unmittelbar vernunftwidrige Rolle. Die unsinnigsten Gesetze können rechtskräftig werden, sobald das Volk es wünscht. Insofern kann sogar Lynchen als gesetzliche Handlung gelten. Eine Lebenslängliche Freiheitsstrafe wird selten verbüßt, denn es genügt eine starke Strömung in der öffentlichen Meinung zu ihrer Aufhebung. Andererseits bringt dieser Zustand dem Advokaten eine unerhörte Machtstellung ein. Da von Recht und Gerechtigkeit im europäischen Verstande keine Rede ist, sondern nur von einer bestehenden Form, die jederzeit eine Änderung durch den Willen des Volks erfahren kann, das natürlich sehr wenig von ihrer Verzwicktheit versteht, so hängt alles einerseits von der Subtilität und dem Scharfsinn ab, mit dem die juristischen Formen und Formeln ausgenutzt werden, und andererseits von der Geschicklichkeit, mit der das Instrument der Massengefühle gespielt wird. Dieser Zustand ist, am europäischen Ideal gemessen, einer der rückständigsten in der gesamten zivilisierten Welt. Doch alles wird klar, sobald man verstanden hat, dass dem Amerikaner das Recht nicht ein Jenseits seiner, eine Form spiritueller Wirklichkeit bedeutet. Für ihn gibt es schlechterdings kein Jenseits der Privatinteressen. Warum sollte der Richter unter diesen Umständen unparteiisch und unabhängig sein? Gewiss gibt es auch in Amerika ein Jenseits der individuellen Wünsche. Aber dieses Jenseits ist eben die Gemeinschaft. Und nach deren Auffassung sind die Behörden nicht solche für europäischen Verstand — sie sind nicht mehr als die Vollstrecker ihres Willens. Dies erklärt auch die Eigenart der amerikanischen Polizei. Sie besitzt wohl mehr Macht als die irgendeines anderen Landes, sie geht rücksichts- und schonungsloser vor; sie muss eben die Interessen der Gemeinschaft verteidigen. Da aber alle Interessen grundsätzlich gleichberechtigt sind, so liegt kein Widersinn darin, dass man wieder und wieder von Kompromissen oder gar von Zusammenarbeit der Polizeitruppe und Verbrecherbanden hört. Beides sind eben Menschengruppen, und beide haben ihre berechtigten Interessen.

Solcher Zustand kann zu einer Herrschaft der Gerechtigkeit führen oder auch nicht. Sehr oft stimmt der Volkswille mit dem Geist absoluter Gerechtigkeit überein. Ist dies der Fall, dann ist es jenem undifferenzierten Sinn für Recht und Billigkeit zu danken, der jedem echten Gruppenbewusstsein innewohnt; und da die sozialen Tendenzen im Aufbau der amerikanischen Seele vorherrschen, muss der betreffende Sinn besonders hoch entwickelt sein. Aber grundsätzlich stimmen der Volkswille und wahre Gerechtigkeit nicht überein, weil der dem Gruppenbewusstsein innewohnende natürliche Sinn für Recht und Billigkeit nicht über die Grenzen der Gruppe hinausreicht. Er verkörpert letztlich einfach deren Kohäsion; was er unter Recht versteht, ist einfach die gegenseitige An- und Einfügung innerhalb der Gruppe zu deren Bestem. Sobald aber eine Gruppe mit einer anderen in Streit gerät, dann führen dieselben Grundtatsachen, die innerhalb jeder einzelnen Recht und Billigkeit walten lassen, zur Ethik des Krieges. Dies ist der Grund, warum der entscheidende Schritt zur Herstellung eines jedem einzelnen Gerechtigkeit gewährleistenden Rechtszustandes darin bestand, dass dem Richter absolute Unabhängigkeit sogar von Staate zugestanden und ihm zur persönlichen Ehrensache gemacht wurde, dass er nie der öffentlichen Meinung nachgebe. Dieser Schritt mag zwar formell und offiziell auch in den Vereinigten Staaten getan worden sein — psychologisch ist er jedenfalls nicht erfolgt, obwohl die Formen des amerikanischen Rechtswesens von denen Englands, der legalstgesinnten modernen Nation, herstammen. Dies ist überaus bedeutsam. Es lässt sich einzig und allein durch den psychologischen Umstand erklären, dass die Amerikaner kein Jenseits der Interessen des Privatlebens anerkennen.

Was von der rechtlichen Seite des öffentlichen Lebens zu sagen ist, gilt nun für den gesamten Staatsapparat. Staat und Regierung gelten nicht als über dem Privatmenschen stehende Lebensformen. Sie werden vielmehr als Vollstrecker seines Willens angesehen. Dies ist der Hauptgrund, warum so wenige Amerikaner daran denken, wirklich hervorragende Männer an Regierungsstellen zu berufen, oder solche gar in den Kongreß zu senden. Das Staatsleben wird augenscheinlich — was immer behauptet werden mag — als der wenigst wichtige Teil des amerikanischen Lebens betrachtet. Freilich muss es derartiges geben, und insoweit der Staatswille Manifestation des Volkswillens ist, wird er gewissenhaft respektiert. Aber primär wird der Staat als eine ähnliche Einrichtung angesehen wie etwa die Post. Kein Mensch denkt daran, einen genialen Mann zum Generalpostmeister zu berufen (sofern es dieses Amt in den Vereinigten Staaten gibt, was ich nicht weiß). Und nur weil der Staat in den Augen des Volks im Grund unwichtig ist, wird dem Präsidenten der Nation, die mehr als jede auf Erden der Regierungsgewalt misstrauisch gegenübersteht, mehr wahre Macht zugestanden als irgendeinem König in moderner Zeit. Betrachtet man den Fall von der anderen Seite, so ist das Ergebnis das gleiche. Die Besten treten nicht in den Staatsdienst ein, weil selbst die höchste Regierungsstelle weniger Bedeutung und wahre Macht verleiht als eine leitende Stellung in einem Privatgeschäft. Das Bild wird vollendet durch die schlechte Besoldung der Regierungsbeamten in einem Land, in dem hohe Löhne zu zahlen nicht nur als einzig gerechte, sondern auch als einzig einträgliche Politik eines Arbeitgebers gilt.

Der wahre Sachverhalt wird dadurch verschleiert, dass die Vereinigten Staaten heute gerade als Staat eine gewaltige Macht verkörpern und in der großen Politik eine sehr aktive Rolle spielen. Er wird ferner dadurch verschleiert, dass die Amerikaner auf ihre Nation sehr stolz, in ihrem Stolz überaus verletzbar und wie jedes andere Volk bereit sind, im Notfall für sie zu kämpfen. Nichtsdestoweniger liegen die Dinge so, wie wir sie zeigten. Im Bereich des Lebens schafft der Sinn den Tatbestand. Selbst wenn die Bundesregierung der Vereinigten Staaten die gewaltigste Macht auf Erden wäre — solange sie den Amerikanern nicht mehr bedeutet, als sie es tut, fallen nationale Erscheinung und nationale Wirklichkeit eben nicht zusammen. Außerdem müssen wir immer unterscheiden zwischen dem, was eine Institution daheim und im Ausland bedeutet. Jeder amerikanische Staatsbürger freut sich der heutigen ungeheuren Macht der Union und tut sein möglichstes zur Wahrung ihres Prestiges im Ausland. Aber für seine eigene Person sieht er sie mit völlig anderen Augen an. Daheim ist er an erster und letzter Stelle Privatist.

Der Privatismus ist das einzige Kind der Aufklärungszeit, das nur die Züge seiner direkten Eltern aufweist. Amerika sollte ein freies Land sein mit freien Männern an seiner Spitze, was psychologisch besagt — völlig gleichgültig was in der geschriebenen Verfassung steht —, dass keine Staatsgewalt in das Privatleben des Einzelnen eingreifen dürfte, solange letzterer die Rechte der Gemeinschaft achtet. Dies war ein Ideal, dem unschwer nachzuleben war, solange Amerika einen nahezu leeren Kontinent darstellte. Pfadfinder und Jäger brauchen zu ihrem Wohlergehen keinen Staat. Auch bedarf es keiner dem Volkswillen übergeordneter Behörde, solange die Gemeinwesen klein sind und zerstreut. Später erstanden aus verschiedenen Ursachen Schwierigkeiten für die Gründung einer Nation im üblichen Wortverstand. Sie hielten den Prozess in der ursprünglichen Richtung im Gang. Unter diesen Schwierigkeiten waren die wichtigsten: die Fortbewegung der Grenze, welche erst im Jahre 1880 zum Abschluss kam und die daran Beteiligten primitiv erhielt; der ständige Zustrom von Einwanderern; endlich die industrielle Revolution mit den durch sie eröffneten neuen und unbegrenzten Möglichkeiten nationalen Fortschritts, die zu einem freien Grenzerleben neuer Art führte. Aber es wirkten noch mehrere andere Ursachen zum gleichen Ergebnis mit. Als das neue Leben in der amerikanischen Erde Wurzel zu schlagen begann, machten es lokale und provinzielle Gesinnung mit ihrem engen Horizont dem Durchschnittsbürger unmöglich, ein so Gewaltiges wie eine große föderierte Nation als Wirklichkeit zu erleben. Und dabei konnte es bleiben, weil Eingriffe ins amerikanische Leben von außen her nicht stattfinden konnten, so dass die gesamte Nation vor politischen Konflikten tatsächlich sicher war und ihre Bürger dergestalt ein rein privates Leben führen konnten. Dementsprechend stellen die Vereinigten Staaten heute trotz aller Macht und allen Einflusses psychologisch einen gigantischen Kanton Appenzell dar — das ist die provinziellste Provinz der Schweiz.

Dies erklärt, warum vom politischen Standpunkt so außerordentlich viel gegen Amerika zu sagen ist. Dass die Amerikaner selbst dies selten einsehen, ist auf eine Ursache zurückzuführen, die ihrerseits Ergebnis des gleichen Sachverhaltes ist: sie stehen ihrer Verfassung als Historiker gegenüber; sie denken nur an das, was war oder theoretisch sein sollte und übersehen ganz, was heute ist. Überdies denkt jeder von ihnen in erster Linie an seinen besonderen Staat und nicht an die Union. Doch an dieser Stelle muss ich meine allgemeinen Behauptungen in einer besonderen Hinsicht einschränken: die Einzelstaaten sind sehr oft ganz außerordentlich gut verwaltet. Aber diese sind in Wahrheit Munizipalitäten; politische Angelegenheiten gehen sie nichts an. Nur die Union ist eine politische Einheit im europäischen Verstand; hier aber gilt alles, was wir gesagt haben. Insbesondere die Engländer mit ihrem scharfausgeprägten politischen Sinn sind einfach entsetzt über das Bild, das Amerika als politische Einheit bietet. Zur Illustration zitiere ich einige Abschnitte eines Artikels von Harold Joseph Laski, Professor an der Londoner Universität.

Kein politisches System ist je so heftig angegriffen worden wie das der Vereinigten Staaten; und es gibt keins, auf das die Kritik so wenig Wirkung gehabt hat. Für einen ausländischen Beobachter sind keinerlei Anzeichen weitverbreiteten Verlangens nach Änderung wahrnehmbar. So wenige Politiker haben auch nur die mindeste nationale Bedeutung; so viele sind Politiker, nur weil sie in anderen Bahnen gescheitert sind, dass der Bewohner von Main Street leicht in Versuchung kommen zu verehren, was verstehen zu wollen als extravaganter Luxus erschiene. Und doch gibt es — sofern wir die demokratische Regierungsform als ein Wünschenswertes betrachten — kaum einen Kanon institutioneller Zulänglichkeit, gegen den das amerikanische System nicht verstieße. Es ist wünschenswert, dass die Quelle der Verantwortung für Fehler oder Verfehlungen der Regierung klar und deutlich zu erkennen sei: das amerikanische System verteilt die Verantwortung so, dass ihre Aufdeckung nahezu unmöglich ist. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass die Institutionen in einem Milieu der Diskussion, welche die Öffentlichkeit erzöge und aufklärte, funktionierten; aber die wichtigsten Aufgaben sowie deren Erfüllungen werden in Amerika fast ganz dem Auge der Öffentlichkeit entzogen. Es ist notwendig, dass die Inhaber hoher Regierungsstellen auf Grund ihrer Fähigkeiten und Erfahrenheit ernannt würden; aber der Präsident und sein Kabinett werden mittels eines Prozesses gewählt, der, wenn überhaupt irgend etwas, einer bedenklichen Lotterie ähnelt. Ein Regierungssystem sollte ferner für die Stimmungen seiner Wähler empfindlich sein und jede Gelegenheit ausnutzen, einen einheitlichen Gesinnungs- und Rechtskörper als Statut oder Konstitution zu materialisieren. Demgegenüber scheint es unmittelbares Ziel der amerikanischen Institutionen zu sein, einerseits jenes Feinempfinden geflissentlich auszuschalten, andererseits jede, einheitliche Politik zu verhindern … Jedem kritischen, in der legislativen Erfahrung Frankreichs und Englands geschulten Beobachter muss das House of Representatives notwendig als eines großen Volkes unwürdig erscheinen. Die meisten Kongreßmitglieder sind gescheiterte Advokaten.
Der Legislative fehlt die Exekutive, deren sie bedarf, die Exekutive kann nie mit einer ihr genehmen Legislative rechnen. Jede hat Interesse am Misserfolg der anderen … Nie ist eine Entscheidung vom Volke zu erlangen, wenn solche gerade an der Zeit ist; kommt einmal die für die Verantwortung festgesetzte Zeit, dann haben die Ereignisse viel dazu getan, das Material, über welche ein Urteil gefällt werden sollte, zu verdunkeln oder verschwinden zu lassen.

Und so fort. Es kann in der Tat keine Rede davon sein, dass die politischen Einrichtungen Amerikas vollkommen seien; werden sie immer wieder gerühmt, so geschieht das aus Unwissenheit oder Heuchelei. Aber alles erklärt sich aus der einen Erwägung heraus, dass in Amerika das politische System keine wichtige Rolle spielt. England ließ sich länger als irgendein europäisches Land ein unglaublich schlechtes Volkserziehungssystem gefallen, weil ihm die Frage gleichgültig war. Aus dem gleichen Grunde duldet Amerika seinen politischen Zustand. Und sieht es im bloßen Gedanken einer Änderung ein Sakrileg, so ist der tiefste Grund dafür wiederum der gleiche.

Amerika ist also keine politische Einheit im üblichen Wortverstand. Dennoch ist es nicht wahr, dass es überhaupt keine Nation darstellt, wie dies ein prominenter Franzose kürzlich behauptet hat. Es ist ein historisches Novum. Doch um dies ganz klarzumachen, muss ich unserem Gedankengang für eine Weile eine andere Richtung geben und das Problem von einer anderen Seite her beleuchten. Mittels einer allgemeinen Analyse des Geschichtsverlaufs will ich zu zeigen versuchen, warum der Staat in der ganzen Welt unabwendbar an Bedeutung verlieren muss. Was ursprünglich amerikanische Rückständigkeit oder Provinzialismus war, und auf den ersten Blick noch heute so erscheint, bedeutet in Wahrheit die beginnende erste Verwirklichung eines neuen und vorgeschrittenen Zustands.

1 Vgl. Prof. Carl Becker, Our great Experiment in Democracy (New York, Harper & Brothers).
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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