Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Privatismus

Wohlstand

Hier können wir unsere Betrachtungen über die Möglichkeit einer wahrhaft friedfertigen amerikanischen Zivilisation wieder aufnehmen. Zum Übergang diene ein Rückblick auf Alt-China. Auch China lebte jahrhundertelang friedlich und wunderbar zufrieden; auch dort herrschte durchaus die Atmosphäre guten Willens. Die Ursachen hierfür waren zum Teil von den in Amerika wirkenden verschieden; so herrschte dort — was es in Amerika nicht tut — ein tiefeingewurzeltes Gefühl für Harmonie, das seinerseits auf einer in der Geschichte einzig dastehenden Entwicklung des ästhetischen Empfindens zu einem Organ der Wahrnehmung universaler Zusammenhänge beruhte. Des ungeachtet zeigen der chinesische und der amerikanische Mensch auffallende Ähnlichkeiten. Auch die Chinesen besitzen ein angeborenes Gefühl für ursprüngliche Gleichheit; eine ausgesprochene Vorliebe für das Normale im Gegensatz zum Außergewöhnlichen; einen starken moralischen Sinn. Auch bei ihnen sind die sozialen Triebe überaus hoch entwickelt, ist der Handel hochangesehen und Erziehung geradezu Gegenstand der Ehrfurcht; endlich wird die Regierung auch dort mehr als notwendiges Übel denn als höchstes Gut beurteilt. Hat die chinesische Ordnung den pragmatic test im ganzen besser bestanden als die europäische, so folgt schon daraus, dass die werdende amerikanische jedenfalls eine große Zukunft haben kann. Aber beim Privatismus handelt es sich doch um etwas ganz Originales, Niedagewesenes, und dessen Wesen können wir jetzt ganz erfassen. Sein Begriff setzt das Primat des Privaten im Gegensatz zum öffentlichen Leben. Das Privatleben ist nun wesentlich ein Leben des ganzen Menschen, denn dessen Kern ist ja seine ausschließliche und unteilbare Einzigkeit. Jedes Leben, das sein Zentrum in einer zur selbständigen Macht gewordenen Projektion hat, wie im Staat, der Armee, von der offiziellen Persönlichkeit eines Kaisers oder Papstes zu schweigen, ist ein Fragment- oder Rumpfleben, von seinen lebendigen Wurzeln mehr oder weniger abgeschnürt; es erscheint zumal vieler seiner menschlichen Eigenschaften entäußert. Die Geschichte hat genug bewiesen, wohin es führt, wenn die Staatsraison als letzte Instanz gilt, oder wenn ein Herrscher sagen darf, l’état c’est moi. Sie hat aber auch erwiesen, dass es mindestens ebenso gefährlich ist, wenn ein Regierungsapparat, der eine Regierung des Volkes für das Volk darstellen soll, ein unabhängiges Leben führt; dies gilt heute von den meisten Parlamenten. Historisch gesehen, waren die frühesten großen Zeiten schier ausnahmslos die größten schlechthin. Dies lag daran, dass damals ganze Menschen Führer waren, im Gegensatz zu Teilprojektionen und Substantivierungen und Objektivierungen innerlichen Seins. Zu letzterem Zustand nun führt der Privatismus zurück; oder genauer, er führt nicht dorthin zurück — er ebnet den Weg zu Analogem auf höherer Ebene. Der Privatmensch ist, in potentia wenigstens, immer der ganze Mensch. Man denke nur an das typische Leben der Frau, die selbst in den bescheidensten Verhältnissen die Aufgaben der Königin, des Ministers des Innern, des Äußern, der Finanzen, des Kultus und Unterrichts, abgesehen von ihren rein persönlichen, zu erfüllen hat. Gelten nun, dank privatistischer Grundeinstellung, Teilprojektionen und Substantivierungen und Objektivierungen nicht mehr für wichtiger als das jeweilige Lebensganze, sei dieses personal oder national, dann werden alle Unmenschlichkeiten, die im prädominierenden König oder prädominierenden Staat oder dem prädominierenden formalen Recht oder auch in der übermächtigen Wirtschaft ihren Seinsgrund haben, alle moralische Stützung verlieren. Dann wird christliche Gesinnung wirklich zur Vorherrschaft gelangen. Und dies zwar ohne Benachteiligung der Tugenden, die den für den Staat, für die Armee, für Recht und Gesetz lebenden Menschen bisher zu einem höheren und edleren Wesen stempelten: jene Tugenden würden sich fortan nur im Rahmen einer neuen, einem höheren Integrationszustand entsprechenden Totalität auswirken. In einem früheren Zusammenhange sagten wir, der Aristokrat, und der Amerikaner ständen einander näher als jener und der Bourgeois. Zu den seinerzeit angeführten Gründen dafür tritt der folgende, und der entscheidet letztlich. Der Wert des Aristokraten liegt, objektiv wie subjektiv, in seinem bloßen Sein; insofern bedeutet ihm die Ganzheit seines Daseins viel mehr als irgendein Amt, das er bekleidet. Nun, insofern ist auch der Aristokrat Privatist. Dementsprechend war jedem großen König oder Staatsmann das Volk und der Staat recht eigentlich Privatangelegenheit; er tat nicht bloß mit irgendeinem Teil seines Wesens, das er dann zu Hause ablegte, seine Pflicht. Gleichsinnig gehörte kein großer Gesetzgeber der Geschichte zum Typus des modernen Richters oder Advokaten; ihnen allen war es um wahre Gerechtigkeit allein zu tun. So war keiner je unparteiisch oder neutral oder sonst als Mensch nicht beteiligt, denn gerecht sein heißt: den Mut haben, für das Höherwertige Partei zu ergreifen. Und insofern waren sogar alle ganz großen Feldherren Privatisten. Alexander der Große und Julius Caesar waren keine Spezialisten; auch sie lebten und handelten nie aus rein militärischen Voraussetzungen heraus: beide fühlten den inneren Drang, als ganze Menschen eine Sendung auf Erden zu erfüllen.

Dass kein großes gedankliches oder künstlerisches Werk anders als aus innerem, rein subjektivem Trieb geschaffen ward, versteht sich von selbst. Und eine Beziehung zu Gott gar kann unmöglich anders denn privater Natur sein. Weitere Erörterungen erübrigen sich wohl. Ein persönlich und subjektiv bedingtes Leben steht grundsätzlich über jedem, das von Herausstellungen beherrscht wird. Freilich gibt es Privatleben sehr verschiedenen Werts. Wo Geistbewusstsein fehlt, da ist der Privatist dem Tiere näher als der gebundenste Vertreter des Forums. Deshalb war als erstes historisches Stadium des Differenzierungsprozesses eine Herrschaft von Teilprojektionen und Objektivierungen nicht nur berechtigt, sondern unerlässlich. Die primordiale Ganzheit der Unschuld kann sich bei fortschreitender Entwicklung nicht halten. Aber hier wie überall liegt, nachdem ein bestimmter Differenzierungsgrad erreicht ward; das Heil einzig in der Integration. Diese neue Integration auf höherer Stufe nun verkörpert das Prinzip des Privatismus.

Diese neue Integration und nichts anderes ist das wahre Ziel der amerikanischen Entwicklung. Deren heutige Etappe weist Mängel die Fülle auf. Und doch: schon heute ist Akzentlegung auf die Ganzheit des Lebens ein typischer amerikanischer Wesenszug. Zur Zeit führt freilich das falschverstandene Ideal der Demokratie zu einer Vorherrschaft des Privatlebens im banalen Verstand und zu einer Bewertung des Daseins nicht nach dem Maßstabe menschlich-geistiger Werte, sondern dem animalischer Zufriedenheit. Aber die Grundvoraussetzungen des Privatismus enthalten nichts, was einen Wandel zum Besseren ausschlösse. Dass die Entwicklung eines wahren Kulturzustandes auf privatistischer Grundlage möglich ist, beweist abschließend die eine Erwägung, dass schlechthin alles, was den Menschen zutiefst angeht, seinem Wesen nach Privatsache ist: sei es sein Verhältnis zu Gott, die Liebe oder persönlicher Mut oder individuelle Erkenntnis.

Der historische Ausgangspunkt all dieses möglichen Fortschritts ist die Verschiebung des Akzents im nationalen Leben von der Politik auf die Wirtschaft. Nur wenn es weniger Ursache zu Streit, Ressentiment und Missgunst und mehr materielle Zufriedenheit auf Erden gibt, kann im geologischen Zeitalter des Menschen eine geist-bestimmte Kultur erblühen. Doch gerade an dieser Stelle ist leider eine Dämpfung geweckter Zukunftshoffnungen Pflicht. Es ist leider ausgeschlossen, dass die ganze Menschheit im besten privatistischen Sinn amerikanisiert werde. Warum? — Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, was wir über die Wesensähnlichkeit zwischen Amerikanismus und Bolschewismus sagten. Beide sind letztlich eines Geistes. Aber in Amerika drückt dieser sich in der Sprache des Wohlstandes aus und in Russland in der Sprache der Armut. Russland wie Amerika sind beide sozialistisch. Nur ist der Sozialismus dort ein Zwangssystem und hier ein System der Freiheit. Unsere allgemeine Folgerung war die, dass Bolschewismus und Amerikanismus einander in den nächsten Jahrhunderten die Waage halten würden, so wie Katholizismus und Protestantismus im Zeitalter der Religionskriege. Ein Kompromiss kommt zwischen jenen ebensowenig in Frage, wie dies bei diesen der Fall war. Der Grund ist der folgende: Russland würde nur zu gern amerikanische Zustände herstellen; ich entsinne mich eines Plakats, auf welchem zu lesen stand:

Nehmen wir die amerikanische Organisation, beseelen wir sie mit dem leidenschaftlichen Geiste Russlands — dann wird der Himmel auf Erden verwirklicht sein.

Allein eine auf dem Wohlstand aller aufgebaute Zivilisation kann sich leider allein in einem Land entwickeln, das so gut wie leer war zu Beginn der industriellen Revolution, so dass sie im Zusammenhang mit der Bevölkerungszunahme wachsen konnte. Schon aus diesem Grunde ist eine Übertragung der amerikanischen Lösung des ökonomischen und sozialen Problems auf einen übervölkerten Teil der Erde sowie auf jedes starkbevölkerte Land mit lebendigen und mächtigen vorindustriellen Traditionen ausgeschlossen. Dort vermöchten nur Gewalt und Zwang die bestehende Ordnung von Grund aus zu ändern, sie aber führen ihrerseits unvermeidlich zu einer Drosselung der ökonomischen Entwicklung, als welche mit der individuellen Initiative steht und fällt. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die Unübertragbarkeit der amerikanischen Lösung. Um einem Kontinent zu erschließen und ökonomisch zu erobern, muss ein Volk einen sehr starken ursprünglichen Erwerbssinn besitzen. Sache der materiellen Mittel als solcher ist es nicht. Nur ist der Erwerbssinn bei vielen außerordentlich schwach entwickelt. Die bolschewistische Konfiskationspolitik war nur deshalb möglich, weil kein Russe, selbst der am stärkstem verwestlichte, im Innersten an sein Recht auf seinen Besitz glaubte. Die Russen mühen sich nicht gleich den Amerikanern ab, um reich zu werden, einfach weil ihnen nichts daran liegt. Gleiches gilt mehr oder weniger von allen asiatischen Kindern und Neffen des Bolschewismus, mit der einzigen Ausnahme der Chinesen, die späterhin wahrscheinlich der amerikanischen Problemlösung zu gravitieren werden. Daher drängt alles zum Glauben, dass der Fall Amerikas einzig in seiner Art bleiben wird. Sein Privatismus, wie er dereinst vollendet in die Erscheinung treten mag, dürfte letztlich ein Unnachahmliches darstellen, so wie dies bei allen großen Kulturvorbildern der Fall gewesen ist.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
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