Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Das überschätzte Kind
Jugend
Auf die Frage, warum ich nicht tanze, antworte ich bisweilen: weil ich noch nicht sechzig bin. Es ist mir in der Tat ein hochergötzliches Schauspiel, zu sehen, wie die gleichen Männer, die ich vor fünfundzwanzig Jahren voll Ehrfurcht als Muster von Gravität und Würde bestaunte, heute alles tun, um für Jungen gehalten zu werden.
Nun ist nicht das mindeste dagegen einzuwenden, dass die Zeichen senilen Verfalls verschwinden. Desto mehr jedoch gegen jede Art von Lebensverkürzung. Und unter den möglichen Wegen dahin ist die Verkürzung im psychologischen Verstand nicht der wenigst bedenkliche. Das Leben ist recht eigentlich eine Melodie. In ihrer ursprünglichen Gestaltung kehrt keine Periode wieder. Jedem Satz, jedem Takt eignen unwiederbringliche Vorzüge und Schönheiten. So bedeutet es Verlust im absoluten Sinn, wenn der Typus des ehrwürdigen Greises ausstirbt, denn viele höchste Werte kann er allein vollendet verkörpern.
Das über Kindheit und Greisentum Gesagte gilt, mutatis mutandis, von allen Lebensaltern. Die Entwicklung und Vollendung jedes von ihnen nun hängt in hohem Maße von der Vorstellung ab, die sich der Mensch von ihm bildet und von seiner inneren Einstellung ihm gegenüber. In jener so fernscheinenden Zeit, da die grauhaarigen Tänzer von heut so gravitätisch wirkten, wurden Kindheit und Jugend nicht genügend geschätzt — mit dem Erfolg, dass die Jungen nicht alle Eigenschaften der Jugend entfalteten und auslebten. Sie harrten immerdar der Zeit der Reife, was zu einer Steigerung und absichtlichen Übertreibung der Reifezeichen führte. Sogar frühe Dreißiger waren damals ernst und gesetzt und brüsteten sich mit ihrer Behäbigkeit; Frauen bedeutete früherworbene Unförmigkeit fast einen Ehrentitel, sie taten ihr möglichstes, durch Haubentragen und sonstige Entstellung, um ihrem Gesicht allen verführerischen Reiz zu rauben. Wie lang nun dauerte das Leben unter diesen Umständen wirklich? Durchschnittlich nicht mehr als dreißig Jahre, denn ein vollkommen bejahtes und daher wirklich gelebtes Leben begann erst nach dem vollendeten sechsten Lustrum. Im Nachkriegseuropa zählt die Jugend allein. Dementsprechend war der physische Standard keiner Jugend, soweit wir Lebende zurückdenken können, auch nur annähernd so hoch. Aber die verlangte Jugend erscheint andererseits von Hause aus qualifiziert: nicht die früheste erfreut sich grenzenloser Verherrlichung, sondern nur die voll ausgeschlagene, geschlechtlich wie geistig reife und bewusste, den Nachdruck im Grenzfall auf intellektuelle Nüchternheit oder Blasiertheit legende, bei der also vom Stadium der Knospe nichts übrig ist. Nun, solcher Zustand entspricht dem natürlichen Lebensalter der Dreißiger. Dementsprechend zählen selbst die jüngsten Mädchen dieser Generation, psychologisch beurteilt, ebenso viele Jahre. Und da das Leben jenseits der Vierziger nicht mehr als Werteträger gilt, so dauert das wahrhaft erlebte, weil innerlich anerkannte Leben nur zehn Jahre; das heißt so lang wie das eines Hundes.
In den Vereinigten Staaten liegen die Dinge anders. Auch dort wird kein Leben jenseits der Fünfundvierzig bejaht; die Mädchen sind so wissend wie nur möglich. Doch man kann nicht sagen, dass die Nation die Jugend idealisiere, deren ausschließlicher Wert als selbstverständlich gilt; sie idealisiert das Kind. Amerika ist zutiefst das Land des überschätzten Kindes. Frühere Gedankengänge lehrten uns, inwiefern die Primitivierung und damit zugleich die Infantilisierung positive Entwicklungsetappen der Vereinigten Staaten bezeichnen. Aber die Frage hat eine andere Seite. Ist der Amerikaner nur infolge eines Naturprozesses infantil, so wird er bald darüber hinauswachsen. Idealisiert er jedoch obendrein sein Kindlichsein, darin läuft er Gefahr, nie den Reifezustand zu erreichen. Was immer zum Bereich des Psychologischen gehört, unterliegt der Beeinflussung durch den Gedanken. In der Seele bestimmt letztendlich das, worauf der Mensch selbst den Nachdruck legt. Und er vermag sogar normaliter kurzlebige Stadien zu perpetuieren, weil die den verschiedenen Sätzen der Lebensmelodie entsprechenden Funktionen nie wirklich absterben: noch in den Tiefen des Achtzigers lebt das Baby fort; daher denn das Alter so oft eine zweite Kindheit darstellt.
Das Endergebnis der mir nur skizzierten Gedankengänge ist wie folgt: idealisiert der Mensch die Kindheit unter Ausschluss aller anderen Lebensalter, so bleibt er zeitlebens Kind. Idealisiert er ebenso einseitig die Reifezeit, so prädominieren die Eigenschaften des Erwachsenen und gelangen zur höchsten Entfaltung — doch auf Kosten der anderen Lebensalter. Wird die Weisheit des Alters höchstgewertet, dann muss die gesamte betreffende Kultur wesentlich alt wirken, denn dann hängt die Verwirklichung aller anerkannten Werte vom physiologischen Zustand des Alters ab. Da dem nun also ist, so müssen wir offenbar, nach Behandlung der natürlichen Seite von Amerikas Primitivierung, dieselbe in Funktion der schöpferischen Freiheit betrachten. Denn überschätzt das amerikanische Volk das Kind noch lange so wie heut, dann droht ihm ernste Gefahr: dann wird es, infolge der polaren Struktur des Lebens, ehe denn es reif ward, senile Züge entwickeln.