Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Das überschätzte Kind

Idealismus der Jugend

Denken wir, zwecks Gewinnung des richtigen Ausgangspunktes, an unsere Betrachtungen darüber zurück, dass der Idealismus der Jugend seinem Wesen nach ohne Gegenstand ist. Im gleichen Verstande und Zusammenhang erscheint die Jugend, allgemein gesprochen, als uninteressanteste Phase des Lebens. Der jugendliche Sturm und Drang, welche ältere Menschen so gern in Funktion tiefster Geistigkeit verstehen, ist beinahe durchaus Ergebnis typisch-organischer Vorgänge.

Das jugendliche Interesse an Problemen hinwiederum wurzelt typischerweise allein im (in Gefühlen reflektierten) Intellekt: und nicht in der ganzen Persönlichkeit. Auch dies ist Folge physiologischer und daher unabänderlicher Ursachen. Die Jugend ist psychologisch nicht voll entfaltet und erst recht nicht integriert. So besteht keine Möglichkeit definitiver Gleichung zwischen Mensch und Welt. Hieraus ergibt sich denn, dass ein junger Mensch dann allein richtig und gerecht beurteilt wird, wenn er als wesentlich werdend (im Gegensatz zu seiend) beurteilt wird. Hieraus folgt weiter, dass der wahre und grundlegende Wert der Jugend in ihrer Plastizität als solcher liegt. Sie allein bietet den angemessenen Wertmaßstab, mit Inhalten irgendwelcher Art hat ihr Wert nichts zu tun. Hieraus nun aber ergibt sich mit logischer Notwendigkeit das Folgende, und darauf zielte ich letztlich hin: die Jugend büßt nicht allein ihren größten, sondern ihren einzigen geistigen Vorzug gegenüber späteren Lebensstadien ein, wenn sie ihre Bildsamkeit verliert.

Um genauer zu verstehen, was dies bedeutet, fassen wir zunächst deutsche Verhältnisse ins Auge. Als Folge des Weltkriegs hatte die deutsche Jugend ihre Plastizität in geradezu erschreckendem Maße verloren. Um das Jahr 1923 schien ein gewaltiger Prozentsatz der Universitätsstudenten zumal ihre innere Einstellung in einer Weise endgültig festgelegt zu haben — gleichviel ob auf konservativer oder radikaler Seite —, wie sie allenfalls bei späten Vierzigern normal ist. Daher das fanatische Sich-Anklammern an Tradition jedweder Art, und zwar je älter diese, desto besser, bis hinauf zum Wotanskult; daher andererseits der leidenschaftliche Glaube an futuristische Dogmatik, wie die des orthodoxen Marxismus und des Bolschewismus. So ward diese Jugend vorzeitig psychologisch starr. Diese Erscheinung zu erklären, hält nicht schwer. Die Erschütterungen und Enttäuschungen des Kriegs und seiner Folgen waren für junge Organismen zu viel. Aus reiner Selbsterhaltung verschlossen sie sich jedem ursprünglichen Erleben und suchten Halt in etwas Sicherem, Dauerhafterer und Unwandelbarem; sie verlangten nach psychologischer Sekurität um jeden Preis, und da war ihnen natürlich jede Art Sicherung recht. Die gleiche Kausalreihe aber erklärt auch einen erheblichen Teil der bekannten Demoralisationserscheinungen. Selbst wo sie zur Starrheit auskristallisiert ist, bleibt Jugend immerhin jung. Wo also innere Einstellung die Normalbetätigung der überschäumenden Säfte und Kräfte hemmt, da suchen diese anderswo nach Ausdrucksmöglichkeiten, welches anderswo in diesem Fall nur der Gegenpol der Starrheit und Fixiertheit sein kann — das heißt Anarchie und Gesetzesfeindschaft. — Wenden wir uns von hier aus direkt amerikanischen Zuständen zu. Auch der amerikanischen Jugend dieser Zeit fehlt die Plastizität. Nicht aber aus Gründen, die für die deutsche galten, sondern aus sehr viel ernsteren: infolge des Amerika beherrschenden statischen Jugend-Ideals. Die Jugend wird dort als grundsätzlich sich gleichbleibender Dauerzustand aufgefasst. Dies kann nicht umhin, ihre Dynamik, ihr Streben und ihre Expansivität zu unterdrücken. Soll die Jugend sich ihren Eigengesetzen gemäß ausleben und so ihren Sinn erfüllen, dann muss sie offenbar vorwärts und über sich hinausschauen; alle ihre Ideale müssen in der Zukunft liegen; sie muss sich gerade auf die Zeit des Nicht-mehr-Jungseins freuen. Denn sobald eine Bewegung zum Stillstand gelangt ist, ist sie am Ende.

Dies scheint selbstverständlich. Und doch ist das amerikanische Jugendideal zweifelsohne ein statisches Ideal. Wie kann nun ein wesentlich Dynamisches statisch werden? Es gelingt dank dem herrschenden Ideal nicht des Jugend-, sondern des Kindheitszustands. Die Kindheit ist nämlich wirklich, in einem Sinn zum mindesten, ein statisches Alter; ein Kind ist ein Kind mit spezifischen sich gleichbleibenden kindlichen Eigenschaften, solange die Kindheit währt. Selbstverständlich wachsen Leib und Seele, doch dies geschieht unbewusst ohne Vorausschau. Während dieser Periode verharrt das Bewusstsein in einem statischen Zustand paradiesischer Qualität; das Kind spielt, es arbeitet nicht; es träumt und phantasiert, aber es denkt nicht. Vor allem hat es keine bestimmten Ziele. Nun muss jede Art dynamischen Lebens eine spürbare Richtung in sich oder ein Ziel vor Augen haben. Dementsprechend setzt die lebendige Dynamik bei ihrem Entstehen mit extremer Stoßkraft ein; daher der hemmungslose Radikalismus aller Jünglingsidealismen. Aber ein Kind hat keine Ideale. Es lebt überhaupt nicht in der Dimension der Zeit. Empirisch muss sich dies als Statik ausdrücken. Dies erklärt denn die Sonderart der amerikanischen Jugendlichkeit: es ist Amerikas besondere Auffassung, die seiner Jugendlichkeit ihren gefährlichen Infantilitätscharakter gibt.

Rufen wir uns an dieser Stelle einige der in vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Erscheinungen ins Gedächtnis zurück. Das Ideal sozialen Lebens erscheint im Kindergarten verkörpert; jedes Gefühl für Unterschiede, für Nuancen fehlt; alles ist entweder schwarz oder weiß. Auch fehlt jeder Sinn für geistige und spirituelle Werte. Die Ideale der Beliebtheit, der Popularität im Nursery-Verstande herrschen souverän. Aber noch viele andere typische Erscheinungen haben den gleichen Sinn. So gibt es keinen zweiten zivilisierten Menschen von gleicher intellektueller Passivität wie den Amerikaner. Der Amerikaner nimmt auf, wie der Wüstensand Wasser schluckt; im schlimmsten Fall tut er’s wie ein Sieb. Im besten und glücklicherweise im häufigsten nun tut er’s wie ein Kind. Das Kind rezipiert beinahe rein passiv, weil sein Nervensystem noch keine Konzentration zulässt. Nun gibt es in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich nicht weniger Individuen als anderswo, die einer dauernden originalen und aktiv-konzentrierten Einstellung fähig sein sollten — und dies zwar durchaus nicht nur auf Spezialisiertes hin. Allein die allgemeine Kindergartenatmosphäre entmutigt alle Versuche zur Höherentwicklung. Um mit ihren Mitmenschen in Einklang zu bleiben, behalten selbst die Besten, mit seltenen Ausnahmen, die allgemein-kindliche Einstellung bei, was unvermeidlich zu entsprechender Verkümmerung führt. Wem diese Behauptung paradox vorkommen sollte, der bedenke, dass beinahe alle erfolgreiche amerikanische Konzentration das Gebiet der Exekutive betrifft, dessen Beherrschung den geringsten geistigen Aufwand erfordert. Klammern die Amerikaner sich an Tatsachen und Dinge in dem Grad, dass sie sie im Grenzfall buchstäblich berühren müssen, um an ihr Vorhandensein zu glauben, und dass sie ein Verständnis höherer Art, als das in statistischer Aufzählung und bestenfalls erwiesener Lebenswichtigkeit verkörperte, kaum vorstellen können, so liegt das vor allem an ihrer für den Kindesgeist charakteristischen Unfähigkeit zur intensiven Abstraktion. Dies erklärt auch, warum sie eine so starke Abneigung gegen Ironie, Witz und Satire haben. Hier sind die Franzosen ihre Antipoden. Langdon Mitchell schreibt (in seinen ausgezeichneten Buch Understanding America):

Eine klare und kurze intellektuelle Feststellung einer moralischen oder sonstigen Inkongruenz reizt den Lateiner zum Lachen und belustigt ihn, oder scheint ihn zu belustigen. Eine vom Intellekt erfasste und deutlich gemachte Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit erregt bei ihm Heiterkeit; das heißt, Witz stimmt ihn fröhlich. In uns erweckt Witz selten Frohsinn; der Amerikaner wird vielmehr unruhig und melancholisch, wenn die scharfe Ratio ihr kaltes, blendendes, intellektuelles Licht auf Missverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen dem, was sein sollte und dem, was ist, wirft. Es enttäuscht ihn. Es stimmt ihn pessimistisch. So sollte es nicht sein; und er wird ungemütlich.

Genau so reagiert der kindliche Geist überall. Salvador de Madariaga, der geistreichste lebende Spanier, schreibt gleichsinnig:

Die Amerikaner sind unmittelbar, aufrichtig und spontan wie Kinder. Sie wollen wissen, weil sie neugierig sind, nicht um aus dem Erfahrenen Vorteil zu ziehen. Sie wollen einfach wissen. Sie hungern und dürsten nach Wissen — Tatsachen, Geschichten. Aber gleich kräftigen, gesunden Kindern haben sie eine herzhafte Abneigung gegen das Denken, Wissen, ja. Aber Prinzipien und Theorien — das ist etwas ganz anderes. Gedanken sind gefährlich. Weiß Gott, wohin sie führen könnten. So wird man radikal; und wenn die Jungen erst anfangen wollten, radikal zu sein, würde bald das ganze Kinderzimmer auf dem Kopf stehen und die Jungen würden sich ernstlich entzweien, nicht bloß um ein politisches Spielchen, so wie sie jetzt in Republikaner und Demokraten geteilt sind, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen.

Man lasse sich durch die Erwägung nicht beirren, dass jedes normale Kind andererseits dem durchschnittlichen Erwachsenen gegenüber Genie ist, von reichster Innenwelt und Phantasie: dies gilt von ihm in seiner eigenen Spielwelt. Diese mag andererseits gleichzeitig die der Götter sein. Aber das ändert nichts an des Kindes Schwäche und Unzulänglichkeit vom realistischen Erwachsenenstandpunkt. Es ändert vor allem nichts daran, dass Kindgemäßheit ohne Kindesbegabung nur das Negative am Kinde potenziert.

Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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