Schule des Rades

Hermann Keyserling

Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt

Demokratie

Gleichheit

Selbstverständlich stellt sich die Frage nicht, ob die Demokratie ein absolutes Ideal verkörpere oder nicht. Vernünftigerweise stellen sich nur die folgenden: erstens, was das Wort Demokratie, das nahezu alles bedeuten kann, den Amerikanern bedeutet; zweitens, ob der Tatbestand der Demokratie dem nationalen Zustand angemessen ist; und endlich, ob das, was sie heute darstellt, für die Zukunft Gutes oder Schlimmes verheißt. Der Europäer muss in die irrationalen Tiefen mittelalterlichen Glaubens zurücktauchen, will er verstehen, was Demokratie den Amerikanern wirklich bedeutet. Ob ein Walt Whitman sie in religiösen Hymnen verherrlicht, oder John Dewey sie als einzig menschenwürdigen Zustand preist, oder Staatsmänner wie Wilson und Coolidge und Hoover an Europa Botschaften richten, die europäischen Ohren wie Verkündigungen direkt von Gott inspirierter Propheten klingen — allemal spielt ihr Begriff die Rolle eines nicht-rationalen Symbols für einen noch undifferenzierten Zustand; sie entspricht dem, was Hieroglyphen und Runen und Ideogramme am Anfang der Menschheitsgeschichte waren. Daher die gewaltige Macht des bloßen Worts. Daher die praktische Belanglosigkeit aller Einwände, die gegen diese Demokratie vorgebracht werden, und erst recht allen Zweifels am Dasein von Demokratie. Amerikanische Intellektuelle neigen jüngst beinahe mehr noch als europäische dazu, ihre Existenz und ihren Wert zu bezweifeln. Von einer Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk kann allerdings keine Rede sein, wo nicht alle Entscheidungen einstimmig gefällt werden — und letzteres ist nur im Urzustande möglich. Sobald überhaupt Differenzierung eingesetzt hat, läuft alle Regierung auf Klassenherrschaft hinaus, und es ist nur eine Frage der Definition, ob sie als solche bezeichnet, wird oder nicht. Denn den einzigen ernst zur nehmenden Einwand gegen diese Behauptung, nämlich dass in einem demokratischen Staat die de facto Herrschenden für das Volk repräsentativ sind, was nicht von allen Klassen gelte, widerlegt die eine Erwägung, dass alles und jeder für das Volk gleichermaßen repräsentativ sein kann, wie ein demokratisches Regiment. Für das heutige Italien ist Mussolini jedenfalls repräsentativer als es irgendeine gewählte Körperschaft in den Vereinigten Staaten seit Menschengedenken war. Gleiches galt von den meisten Monarchen vor fünfzig Jahren. Worauf es in diesem Zusammenhange ankommt, ist einzig und allein, ob das Volk die, welche es regieren, innerlich anerkennt.

Soll Demokratie nun Gleichheit bedeuten, dann ist zuzugeben, dass es in den Vereinigten Staaten allerdings mehr soziale Gleichheit gibt als irgend sonst im Okzident. Die historische Ursache dessen ist die, dass Amerika nahezu ausschließlich von Vertretern der Unterschichten Europas besiedelt wurde, die sehr natürlicherweise die bloße Zumutung, zu neuen Höherstehenden aufzusehen, perhorreszierten. Diese soziale Gleichheit ist indes nicht Folge der Gleichberechtigung, sondern einer erstaunlichen Gleichgesinntheit. In Wahrheit ist kein politisch-soziales System so wenig geschickt dazu, dauernde Gleichheit zu gewährleisten, wie das der Vereinigten Staaten. Bei der Gleichheit wie bei der Demokratie hängt eben alles davon ab, wie das Wort verstanden wird. Die amerikanische Vorstellung von Gleichheit ist nicht nur ursprünglich, sondern wesentlich die des Grenzers: sie impliziert und fordert nicht Gleichheit des Lohns und Besitzes — sie fordert nur Gleichheit der Gelegenheiten; der Lohn soll denn Verdienst entsprechen. Daher der moderne Ausdruck dieser Idee, derzufolge nicht Sozialisierung des Besitzes, sondern des Willens not tut — Gleichgestelltheit wird nicht verlangt, wohl aber, dass Geben und Nehmen einander die Waage halten. Dass man je hat wähnen können, diese Gesinnung schaffe aus sich heraus Gleichheit, war Folge der beispiellosen Gelegenheiten, welche Amerikas unbegrenzte Möglichkeiten so lange boten. Logischerweise muss sie wachsender Ungleichheit zuführen; und so ist es denn auch gekommen bis auf die eine Ausnahme des sozialen Typs. Wird einmal anerkannt, dass verschiedener Verdienst, das allemal Folge verschiedener Begabung ist, verschiedene Belohnung gebührt, so ist damit — noch so unbewusst — Ungleichheit und nicht Gleichheit als herrschendes Prinzip gesetzt; über kurz oder lang manifestiert, sich dies unabwendbar in den lebendigen Tatsachen. Schafft hier nun gar Reichtum den Maßstab, dann muss jeder Dollar weniger oder mehr einen Unterschied von Stand und Stellung bewirken. Dass die meisten Amerikaner nicht einsehen, dass es in ihrem Lande schon dahin gekommen ist, liegt daran, dass sie an den Illusionen der liberalen Ära haften. Doch es war nur logisch, wenn der europäische Sozialismus, der als echtes Kind des Liberalismus geboren ward, die Idee des Einkommens grundsätzlich von der des Verdienstes trennte: die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Liberalismus unvermeidlich zur Plutokratie führt. Soll es Gleichheit gehen in einer Welt, in welcher Reichtum Überlegenheit bedeutet, so müssen eben die Unterschiede im Einkommen aufhören. Doch wir sahen bereits, dass die Vereinigten Staaten gegen den Sozialismus im europäischen Verstand immun sind. So bleibt nur die Alternative, dass sich die amerikanische Demokratie im Sinn zunehmender materieller Ungleichheit auswachsen wird.

Und diese Zukunftsaussicht wird dadurch nicht verbessert, dass sie mit wachsender psychologischer Uniformierung zusammengeht. Eine historische Wurzel der Standardisierung — ist in der Situation zu suchen, dass die Besiedler des Landes untereinander innerlich so ungleich waren, dass nur äußerliche Vereinheitlichung die nationale Einheit schaffen oder aufrecht erhalten konnte. So wurden alle Interessen gewaltsam nach außen gekehrt. Aber diese extreme Extraversion hatte ihrerseits zur Folge, dass die Innenwelt verdrängt ward; und bald war das äußerlich Leben in den Vereinigten Staaten in seiner Struktur so stark geworden, dass es jedes mit ihm nicht in Einklang stehende Innenleben ersticken konnte. So bedeutet denn psychologische Gleichheit in Amerika nicht Gleichgesinntheit im Sinn langsam von innen heraus erwachsener alter Kulturnationen, die durch ein differenziertes gemeinsames Unbewusstes zusammengehalten werden, sondern, im Gegenteil, das Fehlen des Innerlichen. Vom heutigen Amerikaner kann man nicht, wie vom Engländer oder Chinesen, sagen, dass er, je typischer, desto tiefer sei, sondern umgekehrt: desto oberflächlicher und äußerlicher. Die hier skizzierte Entwicklungsrichtung kann nun ihrerseits nicht umhin, zum Gegenteile echter Demokratie zu führen. Nicht zur Beherrschtheit aller durch einzelne oder wenige, sondern durch Schlimmeres: durch tote Sachen und Dinge. Wir können hier etlichen Gedankengängen aus früheren Kapiteln einen weiteren Sinnes-Hintergrund geben, indem wir sie zugleich weiter ausführen. Der Privatismus birgt schöne Zukunftsmöglichkeiten, nicht aber, wenn alles Privatleben vom Geldbegriffe her verstanden wird; denn dann regiert der Eigen-Sinn des Dollars und nicht der des Menschen. Alles wesentlich Mechanisierbare soll natürlich mechanisiert werden, zwecks Befreiung des inneren Menschen von äußerlicher Fron. Führt dies aber dahin, dass unpersönliche Mächte souverän regieren, und geht die Entpersönlichung gar soweit, wie dies jene schon häufigen Agenturen demonstrieren, deren Aufgabe es ist, to raise the big wind, das heißt freiwillige Gaben durch berufliche Technik einzutreiben, dann hat der Mensch recht eigentlich abgedankt. Ähnlich steht es mit der Freundschaft. Sogar rein persönliche Beziehungen werden drüben heute in erster Linie auf gemeinsame Geschäftsinteressen oder gemeinsamen Service gegründet, dementsprechend kein Menschentypus frühere Freunde, sind sie einmal aus dem täglichen Interessenkreis verschwunden, so schnell vergisst wie der Amerikaner. Nun: unter diesen Umständen ist Demokratie schlimmer als jede Tyrannei. Sie muss unweigerlich — da das Äußerliche autokratisch herrscht eine immer größere Standardisierung bedingen, die ihrerseits zwangsläufig das Niveau herabdrückt; denn nur auf den niedrigsten Generalnenner sind alle Menschen gleichmäßig zu beziehen — ihr Tierisches und ihr schlechthin Äußerliches. Ferner aber muss ihr natürliches Gefälle der Gleichheit gerade im Sinn der Gleichberechtigung immer mehr entgegenwirken. Die Natur kennt keine Gleichheit; ihr bedeutet überlegene materielle Gewalt Überlegenheit im absolutem Sinn. Sie ist sogar von ganzem Herzen grausam; sie kennt keine Kompromisse, es sei denn als unbeabsichtigte Folge der Interferenz zufällig gleicher Kräfte. Wo immer eine Naturkraft die andere besiegt, da vernichtet sie sie. Von dieser natürlichen Grausamkeit, ist in den Vereinigten Staaten schon reichlich viel zu beobachten, so oft ein Mensch keinen Erfolg hat, was unabwendbar zu einer immer schärferen Scheidung zwischen ursprünglich Starken und ursprünglich Schwachen führt. Und hierzu tritt weiteres. Die zunehmende Rationalisierung des Geschäftsbetriebs bedingt wachsende Konzentration des Kapitals und damit wachsende Hierarchisierung der leitenden Intelligenzen. Die hieraus sich ergebende hierarchische Ordnung nun würde, ihrem eigenen Gesetze überlassen, buchstäblich unmenschlich sein. Einerseits würden die Maßstäbe der Natur (im Gegensatz zu den menschlich-humanen) vorherrschen, andererseits wäre auch der von sich aus menschlichste Führer, bei der allgemeinen Entpersönlichung des Lebens, nicht in der Lage, nach eigenem Wunsch und Urteil zu handeln; immer hätte er an die von ihm vertretenen Interessen zu denken. Auch die mittelalterliche Gesellschaft beruhte auf der Idee der Repräsentation; insofern war auch sie gegen den Einzelnen als solchen hart. Immerhin war ihre hierarchische Ordnung eine solche geistig-menschlicher Werte. Dahingegen würde der moderne Industriefeudalismus ausschließlich materielle und folglich unmenschliche Interessen vertreten. Schon während des Weltkriegs wurden Millionen von Menschen mit Bestem Gewissen den Interessen von Kohle und Petroleum geopfert; diese Art der Entmenschlichung kann mit der Zeit nur zunehmen. Da nun heute der größte Teil alles Reichtums der Welt den Vereinigten Staaten gehört und keinerlei Grund vorliegt, warum die kapitalistische Entwicklung dort nicht auf lange hinaus fortschreiten soll, besteht offenbar sehr wenig Aussicht, dass Amerika eine Demokratie im heute angenommenen Sinn bleibe. Schon im Jahre, da ich schreibe, 1928, entsprechen die Tatsachen dem allgemeinen Glauben nicht mehr. Gewahren nur sehr wenige Amerikaner die Wahrheit, so erklärt sich dies vor allem daraus, dass die meisten noch in Begriffen des 18. Jahrhunderts denken. Aber von diesen her ist die moderne Welt, wie sie ist, nicht zu verstehen.

Das Problem, ob die Demokratie, an welche die meisten Amerikaner, sei es als an ein Ideal oder eine vermeintliche Tatsache, glauben, sich erhalten wird oder nicht, geht uns sonach überhaupt nichts an. Nichtsdestoweniger ist Amerika eine Demokratie. Nämlich in dem einzig wichtigen und wesentlichen Verstande, dass diese die normale Lebensform der zoologischen Gattung homo Americanus darstellt, genau wie es besondere für Käfer oder Hirsche normale Lebensformen gibt. Wie für Nationen, die aus verschiedenen Typen zusammengesetzt sind, Kastensysteme oder syndikalistische Ordnungen normal sind, und für individualistische Völker mit vorherrschendem Wertbewusstsein aristokratische Strukturen, so sind solche wesentlich demokratisch, bei denen die überwiegende Mehrheit einem Einheitstypus angehört, und die sozialen über die individuellen Tendenzen vorherrschen.1 In diesem einzig wesentlichen Sinne nun gehören die Amerikaner zweifellos dem demokratischen Teil des Menschengeschlechtes an. Aber die Wurzeln ihrer Demokratie sind andere als die der britischen sogenannten Demokratie, von der sie die meisten ihrer Ideale und Institutionen übernahmen. Die Amerikaner sind nicht aus politischer Einsicht und Takt Demokraten, sondern insofern, als sie Sozialisten und Privatisten sind und der mütterliche Geist der Frau prädominiert. Hier hätten wir denn zunächst den Gedankengang, mit dem das letzte Kapitel schloss, seinem logischen Ende zuzuführen. Wir sagten, es sei gewiss, dass die Vereinigten Staaten ein Matriarchat bleiben würden, und dass ihre besten Zukunftsaussichten gerade darauf beruhen: der Geist der vorherrschenden Frau, bietet nämlich heute tatsächlich die einzige sichere Bürgschaft für das Fortbestehen von Freiheit. Herrschte noch der Geist des Mannes vor, wie zu Anfang der amerikanischen Geschichte, und wären die amerikanischen Männer von heute noch ebenso erbarmungslos männlich wie die Pioniere und Puritaner, so wäre die Struktur der Vereinigten Staaten bald die einer härteren Art Oligarchie, als der von Karthago. Schlechthin nichts in der amerikanischen Verfassung vermöchte dies zu hindern; die antifreiheitlichen Auswirkungen des Liberalismus träten drüben ausgeprägter in die Erscheinung als bei uns. Tatsächlich aber kommt es anders. Und dies eben deshalb, weil Amerika sich unaufhaltsam aus einer patriarchalischen zu einer matriarchalischen Nation entwickelt. Die Frauenorganisationen erwachsen von Jahr zu Jahr zu immer gewaltigeren Mächten. Infolge des Privatismus — der ersten dem Geist der Frau, kongenialen Grundlage nationalen Lebens in unserer Geschichte — und ihrer natürlichen Tüchtigkeit auf ökonomischem Gebiet besteht höchste Wahrscheinlichkeit, dass sie bald nicht nur indirekt, sondern direkt eine führende, wenn nicht die führende Rolle im öffentlichen Leben spielen wird. Aber schon heute konstituieren und konsolidieren sich die natürlichen, Instinkte der Frau, welche sozial und altruistisch sind, unaufhaltsam zu den wirklich lebendigen Wurzeln des amerikanischen Volkslebens. So garantiert heute eine Kausalreihe ganz anderen Ursprungs als die, welche ihrerzeit zur Demokratie führte, und recht eigentlich entgegengesetzten Geistes als die, welche heute noch in England wirkt, den Tatbestand individueller Freiheit. Zoologen würden diese Konvergenz ursprünglich verschiedener Typen Pseudomorphose heißen.

1 Vgl. die genaue Ausführung dieses Gedankengangs im Kapitel Ungarn meines Spektrum Europas.
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt · 1930
Der Aufgang einer neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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