Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Demokratie
Freiheit und Zwang
Die Grundzüge, welche sonst die amerikanische Demokratie von anderen unterscheiden, wurden schon in den Kapiteln Sozialismus
und Privatismus
behandelt. In der Tat, gewährleistet der als solcher nicht erkannte amerikanische Sozialismus — im Gegensatz zum bewusst verkündeten Liberalismus — und der Mangel an politischem Interesse — nicht ein etwa vorhandenes besonders gutes politisches System — in Amerika das Fortbestehen der Demokratie. Stellen wir das Problem des Privatismus im Sinn dieses Kapitels um, so müssen wir sagen: die Hauptwurzel der typisch amerikanischen Abneigung gegen staatliche Einmischung ist darin zu suchen, dass die Amerikaner noch so unbewusst erfasst haben, dass ihre besondere Demokratie nur solange gedeihen kann, als der Hauptnachdruck auf dem privaten Willen im Gegensatz zum staatlichen Zwang ruht. Dies führt uns denn zugleich zu einer Tieferfassung des amerikanischen Sozialismus: Amerika ist dazu prädestiniert, das polare Gegenteil oder den Kontrapunkt zum Sozialismus im europäischen Wortverstande darzustellen in der neuentstehenden Welt. Zu Erläuterung kann ich schwerlich besseres tun, als das amerikanische Ideal dem Bernard Shaws gegenüberzustellen, wie es am klarsten in seinem der intelligenten Frau gewidmeten sozialpolitischen Vermächtnis dargestellt ist. Es ist eine richtige bonne fortune, dass Bernard Shaw nie den Atlantik überquerte: sonst wäre das wohl bedeutendste Buch über möglichen Fortschritt von europäisch-sozialistischen Voraussetzungen aus ungeschrieben geblieben, oder dem Buch hätte doch jene Einseitigkeit gefehlt, die allein tiefe Wirkung auslöst. Shaw tritt mit Recht für allgemeinen Wohlstand ein; mit Recht sieht er in der Armut eine Krankheit, die wie die Lepra zu bekämpfen ist. Doch ihm entgeht, dass ein großer Teil des von ihm Geforderten in den Vereinigten Staaten schon verwirklicht worden ist, und zwar auf völlig anderem Weg als dem, den er als einzig möglich ansieht. Shaw stellt auf dem Standpunkt, dass ein befriedigender sozialer Gleichgewichtszustand mittels freien Wettbewerbes unerreichbar ist. (Dies ist der Grund, warum er, wie die meisten Sozialisten, eine Revolution auf amerikanischem Boden prophezeit.) Die erforderlichen Veränderungen könnten allein durch Zwang und Gesetz herbeigeführt werden. Es gibt in der Tat keine andere Möglichkeit, einen sozialistischen Staat zu schaffen, wenn eine Nation innerlich individualistisch oder, wie die russische, in Herrscher- und Untertan-Typen geteilt ist. Aber eben deshalb stellt der Sozialismus für solche Völker kein mögliches Ideal dar. Gewiss kann oder sollte eine weit größere Zahl von Institutionen und Gebieten sozialisiert werden als bisher geschah; es gehört zum Lehrreichsten von Shaws Buch, dass es klarmacht, in wie großem Umfange und Maß nicht nur der Sozialismus, sondern sogar der Kommunismus Normalform zivilisierten Lebens ist; was bei der Armee, der Polizei, der Post, dem öffentlichen Unterricht usw. der Fall ist, wird wahrscheinlich bald allenthalben vom meisten gelten, was der Allgemeinheit primäre Notwendigkeit ist. Allein in individualistischen Ländern kann Sozialismus nie mehr schaffen und bedeuten als den Unterbau. Den Individualisten kennzeichnet zoologisch, dass in ihm die individuellen über die sozialen Tendenzen vorherrschen; deswegen gelangt er nur dann zur Vollendung, welche Ziele er auch erstrebt, wenn der Nachdruck auf dem Individuellen ruht. Umgekehrt sind die sozialen Unzulänglichkeiten des Individualisten Geringfügigkeiten im Vergleich zur Verkrüppelung, die sich zwangsläufig aus einer Hemmung seiner angeborenen Tendenzen ergibt, und ohne solche Hemmung ist der Individualist in einen Sozialisten nicht zu verwandeln; daher das Ideal des Zwangs im Gegensatz zur Freiheit, zu dem selbst Shaw sich bekennt. Gibt es nun aber überhaupt etwas ein für allemal Bewiesenes, dann ist es dies, dass des Menschen beste Fähigkeiten sich nicht entfalten, wo er nicht frei ist. Jedenfalls erreicht keiner, dessen letzte Instanz nicht sein tiefstes Selbst ist, je persönliche Überlegenheit. Hierfür nun bieten gerade Shaws Theorien das lehrreichste Beispiel. Bewusst glaubt er natürlich, dass wenn erst der allgemeine Lebensrahmen sozialisiert und der Einzelne diesem Allgemeinzustand angepasst ist, die Persönlichkeit desto reicher ausschlagen wird. Aber unbewusst weiß er genau so gut wie Lenin, dass persönliche Autorität schaffende persönliche Überlegenheit in einem sozialistischen Gemeinwesen nicht gedeihen kann. So behauptet er denn mit entwaffnender Naivität, die wahre Autorität liege auch heute schon beim Polizisten, der sogar den König arretieren darf, fährt dieser mit seinem Auto zu schnell … Der Polizist als Symbol von Macht und Autorität! Als ich das las, durchforschte ich mein Bewusstsein und entdeckte, dass wenn ich mich auch ohne weiteres polizeilichen Verordnungen füge, diese Art Autorität mir gar nichts bedeutet. Meinem Empfinden nach ordne ich mich der Macht der Staatsbeamten in keinem tieferen Sinn unter, als dem Gravitationsgesetz. Ich kann Autorität nur, wo sie persönliche Überlegenheit im Unterschied von gesetzlicher Berechtigung bedeutet, als solche anerkennen. Hier habe ich nun wohl im absoluten Verstande recht; die ganze Geschichte beweist dies; so hat zumal keiner mehr als Lenin, der an die Persönlichkeit nicht glaubte, sein Volk und seine Zeit als Persönlichkeit beeinflusst, weshalb kein Wunder ist, dass sein Leichnam Ehren genießt, wie kein Mensch seit pharaonischen Tagen. Käme es nun je dahin, dass die Vorstellungen von Macht und Autorität von der persönlichen Wertes dauernd losgelöst und mit der von der Zwangsgewalt von Routine und Amt verschmolzen würde, dann würde dies im individualistischen Europa das Ende aller lebendigen Überlegenheit bedeuten und den Endsieg der toten Materie. Es ist ja nur natürlich, dass die emanzipierten Massen von der Staatsgewalt eine Weile übertrieben hoch denken. Einen der Gründe dafür hat Bernard Shaw besonders scharf erfasst. Er schreibt:
Es liegt in der englischen Natur, und wahrscheinlich in der menschlichen Natur überhaupt, eine sehr starke Neigung zum reinen Verbieten. Vergessen wir nie die Kinder in Punch, die als Ergebnis ihrer Besprechung darüber, was sie spielen wollten, nachzusehen beschlossen, was das Jüngste tue und dann zu sagen, es dies nicht dürfe. Verbieten ist Machtbetätigung; und wir alle haben einen Willen zu persönlicher Macht, der mit dem Willen sozialer Freiheit im Streit liegt.
Die unteren Klassen sind seit Menschengedenken herumkommandiert worden. Sehr natürlich daher, dass sie unter Freiheit zunächst die Möglichkeit verstehen, nun selber einmal andere herumzukommandieren. Und da sie ursprünglich vom Begriff der Masse her denken, so verkörpert ihnen der Staatszwang den nächstliegenden Machtbegriff. Doch es gibt noch einen tieferen Grund für diesen Sinn- und Wertverlust des Autoritätsbegriffs und dieser bedingt von sich aus Niveausenkung: wie in Privatismus
gezeigt ward, ist der Staat als solcher heute Vertreter der Massen, das heißt der Quantität und nicht mehr der Qualität. Was anders kann man daraus vernünftigerweise folgern, als dass der Staat fortschreitend an Wert verliert? Ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass alles Staatliche in Europa immer mehr ein Ausdruck von Sozialismus im europäischen Verstande werden wird und eben dies beweist, dass der Sozialismus (immer im europäischen Sinn verstanden) keine Werte schaffen kann. Zweifellos hat Shaw recht darin, dass wir den heute herrschenden Kommerzialismus überwinden müssen, und dass es dazu in diesem Massenzeitalter keinen anderen Weg gibt, als eine Sozialisierung der Grundlagen staatlichen Lebens. Sehr beachtenswert ist zumal der folgende Satz von Shaw — obgleich er eigentlich Selbstverständliches ausdrückt:
Der Beamte, der Richter, der Kommandant eines Schiffs, der Feldmarschall, der Erzbischof bekommt, mag er noch so hervorragend befähigt sein, nicht mehr Gehalt als jeder Routinemensch seines Rangs und seiner Altersstufe. Es wird vorausgesetzt, dass ein echter Gentleman sich nicht dem Meistbietenden verkauft; er verlangt von seinem Land eine ausreichende Versorgung und eine geachtete Stellung als Gegenwert für das Beste, was er ihm bieten kann. Ebenso steht es mit der echten Dame. Aber im kapitalistischen Handel sind beide gezwungen, Lumpen zu sein, das heißt die auszupressen, denen ihre Dienste unentbehrlich sind und so auf ihre Kosten reich zu werden.
Ich erinnere mich gar gut, wie mir selbst das erstemal zumute war, als amerikanische Vortragsmanager und literarische Agenten kaltblütig vor mir von den Möglichkeiten sprachen, mich zu verkaufen
… Aber Shaw hat unrecht, wenn er meint, eine Ordnung, welche Staatsgewalt als letzte Instanz anerkennt, könnte je die Art Überlegenheit heranbilden, die für aristokratische Gemeinwesen charakteristisch ist; und kraft psychologischen Gesetzes muss jene zur letzten Instanz werden, wenn sie alle Verteilung möglichen Einkommens bestimmt und wenn es keine von der offiziellen Stellung unabhängige Hierarchie gibt, welche größeres Prestige genösse als der Beamtenapparat.
Dies ist jedenfalls für den Fall individualistischer Länder wahr. Aber der amerikanische Sozialismus ist ein anderes als der von Europa. Drüben impliziert sein Begriff kein Zwangssystem. Deswegen besteht für die Vereinigten Staaten gerade die Möglichkeit, die Europa versagt ist: dass auf sozialdemokratischer Grundlage wahre Kultur aufblühe. Freilich ist mehr als unwahrscheinlich, dass diese Kultur höchste Werte auf solchen Gebieten schüfe, die individualistische Struktur voraussetzen. Aber die vornehmste Aufgabe dieser Zeit der Einleitung des Geologischen Zeitalters des Menschen
ist eben die Hebung des Gesamtniveaus; soweit hat sogar der europäische Sozialismus theoretisch recht. Demzufolge sind im augenblicklichen Stadium die Vorzüge Amerikas von größerer Bedeutung als seine Nachteile.