Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Kultur
Ideal des hohen Lebensstandards
Mustern wir nunmehr aus neuem Gesichtswinkel die Hauptmomente, die uns am heutigen Zustand der Vereinigten Staaten verfehlt erschienen. Bisher war Amerika zu ausschließlich moralistisch. Für ein Volk seelisch einfacher Eroberer, wie die frühen Mohammedaner, ist einseitiger Moralismus recht und gut. Sobald jedoch das Leben reicher ausschlägt, bedingt er Verkrüppelung vieler bester Lebenstendenzen; eben deshalb waren und sind die späteren Puritaner in so hohem Maß unaufrichtig, wo doch die Haupttugenden derer der Frühzeit gerade Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit waren. Keiner kann aufrichtig sein, der in ihm Lebendes verdrängt oder verheimlicht. Amerika wird vom Tier-Ideal beherrscht; dies ist die wahre Bedeutung des Ideals des hohen Lebensstandards. Aber von ihm her ist ein rechtes Gleichgewichtsverhältnis zwischen Geist, Intellekt, Seele, Körper und Außenwelt dem Menschen nicht erreichbar. Der Mensch ist dann allein richtig eingestellt, wenn das Innerliche in ihm dominiert. Hiervon ist nun im heutigen Amerika so wenig die Rede, dass das Ideal des hohen Lebensstandards der überwältigenden Mehrheit praktisch alle idealen Strebungen dieser Zeitlichkeit umfasst. Dies bedeutet eine völlige Entstellung, Verkehrung und Verzerrung des wahren Zusammenhangs. Daher denn Amerikas Unzulänglichkeit auf allen kulturellen Gebieten — die Ausnahmen bestätigen hier nur die Regel, denn allein auf das Repräsentative kommt es im großen an. Es gibt drüben keine nationale Kunst und es kann bis auf weiteres keine geben, mit der einen Ausnahme der Negerkunst; denn Kunst setzt voraus, dass das Innerliche so sehr dominiert, dass es aus sich heraus alles Äußere gestaltet. Es gibt keine amerikanische Philosophie, die mehr wäre als ein Ausdruck unter anderen der tierischen Tendenz, sich der Umgebung anzupassen und die geeignetsten Gewohnheiten auszubilden. Es gibt keinen ursprünglichen Schönheitssinn. Nützlichkeit ist alles. Noch nie wohl gab es ein Volk, das die natürlichen Schönheiten seines Landes so wenig nutzte und ästhetische Werte als Selbstzwecke beim Städtebau wie in seiner ganzen Lebensgestaltung so wenig berücksichtigte. Der moderne Amerikaner steht eben weder mit sich selbst noch mit der umgebenden Welt im Einklang. Das grundsätzlich gleiche, was die Häßlichkeit des Juden bedingt, lässt einen ganzen Kontinent, der von Natur aus zur Schönheit bestimmt war, häßlich erscheinen und verbildet schönheitsfähige Seelen und Geister mehr und mehr. Immer häßlicher wird die Sprache, die Aussprache. Unaufhaltsam bilden Materialismus und Behaviorismus die Seelen sich selbst entsprechend um. Einer Frau, welche den Wert der Liebe nach ihrer Wirkung auf die Gesundheit beurteilt, wird niemand das Prädikat der Seelenschönheit zuerkennen. Schönheit ist eben nichts anderes als der Normalausdruck vollendet verwirklichten Sinns.
Es fehlt in Amerika, in der Tat, an allen Ecken und Enden am Sinn für rechte Proportion. Wie kann man nur Produktion oder Konsum materieller Güter oder Geldbesitz an sich für letzte Ziele halten? Was nützt Reichtum, wo selbstzentriertes und ausströmendes ursprüngliches Leben fehlt, das jenem seinen Eigen-Sinn entsprechenden Sinn verliehe? Wie sinnwidrig verkehrt die amerikanische Einstellung gerade hier ist, beweist die eine Erwägung, dass nur dem Geizhals Geld letztes Ziel ist, und der Amerikaner als Typus niemals geizig ist. Im übrigen führt die eine Erwägung das Ideal des Besitzes als Ziel an sich ad absurdum, dass der Mensch (mit der einen Ausnahme des Geizhalses, der der Amerikaner, noch einmal, nicht ist!) an das, was er hat, nie lange denkt; er benutzt das Gegebene immer nur als Ausgangspunkt oder Basis für neue Siege und Leistungen. Doch nun zur amerikanischen Idealisierung der Leistung. Da nicht nur objektiver Wert, sondern auch subjektives Glück Funktion innerer Zuständlichkeit ist — was nützt alle Tüchtigkeit, wenn der innere Mensch nicht an ihr oder mittels ihrer wächst? Genau gleichsinnig ist Wissen ohne Verstehen — das Grundcharakteristikum dessen, was amerikanisch verstandene information ist — vollkommen wertlos; nur verstandenes Wissen bedeutet ein vom Menschen assimiliertes und vergeistigtes Rohmaterial — Verstehen aber wirkt von innen nach außen zu, nicht umgekehrt; und ein national anerkanntes von innen heraus
gibt es in den Vereinigten Staaten von heute nicht. Von hier aus sehen wir, dass amerikanisch verstandene Erziehung keinesfalls zur Kultur führt. Wie wenig Erziehung überhaupt als Weg zu ihr beurteilt wird, beweist die Tatsache, dass die meisten Amerikaner von den von ihnen besuchten Instituten so reden, als handle es sich um Stufen einer offiziellen Laufbahn, und dass ihnen die Häufung akademischer Würden höchstes Erziehungsideal ist. Zweifelsohne steht es mit den Mädchen viel besser; doch das Gesagte gilt leider von der Mehrheit der heutigen Männer. Deren wahre Stellung zur Kultur offenbart jener Lebensrhythmus, welcher Ferien in der Wildnis als ideale Abwechslung nach dem Geschäftsleben in der City fordert: technisches und animalisches Leben gehören der gleichen Ebene an. Die amerikanische Vorliebe für Wandern und Lagerleben hat nicht die gleiche Bedeutung, wie beim europäischen Kulturmenschen die Lust daran, gelegentlich einige Wochen ein naturnahes Dasein zu führen; sie bedeutet, dass die Ebene wahrer Kultur noch jenseits ihres Sehfeldes liegt. Der Amerikaner umgibt sich einmal mit jedem erdenklichen Komfort, und dann wieder führt er ein Lagerleben wie ein Indianer, so wie der Nomade von den Sommer- auf die Winterweiden hinüberwechselt. Gegen alles dieses wäre gar nichts einzuwenden, wenn der Mensch ein Tier wäre, wie Behaviorismus und Pragmatismus es behaupten. Er ist es aber nicht. Ist er überhaupt zu Geistbewusstsein erwacht, dann kann er eben die Vollkommenheit in sich selbst und in bezug auf die Umwelt, die jedes Tier selbstverständlich verkörpert, nur dann erreichen, wenn er die erforderliche Harmonie durch geistige Initiative und Sinngebung auf der Ebene der Kultur herstellt. Der Zoologe dürfte sagen, dass der Mensch als Tiertypus durch freien Willen, Erfindungsgeist und die Fähigkeit zu irren charakterisiert ist. Daher kann er rein als Menschentier nie zur Vollendung gelangen, solange er einem Tier-Ideal nachzuleben trachtet — was sehr bezeichnenderweise kein wilder
Stamm nun tut. Gerade der Wilde lebt ein geistbestimmtes Leben, insofern ihm alles Äußere Sinnbild von Innerlichem ist. Die amerikanischen Fortschrittler mögen denken, was sie wollen: gerade wenn ihm Gesundheit, Natürlichkeit usw. alles bedeuten, wenn er die geistige und moralische Ordnung als Schwindel
(bunk) abtut, steht der Mensch nicht im Einklang mit der Natur. Und dies gilt desto mehr, je mehr er auf spezialisierten Linien vorgeschritten ist. Das End- und Gesamtergebnis aller dieser falschen Sondereinstellungen ist eine Karikatur, eine allgemein organische Deformation, welche Entvitalisierung mit sich bringt. Das Leben in den Vereinigten Staaten ist unnatürlich, nicht etwa weil es zu sehr technisiert ist, sondern weil es dem inneren Menschen noch nicht gelang, sein neuerworbenes Können zu einem organischen, von innen her beherrschten Ganzen aufzubauen — was den Babyloniern und Ägyptern auf ihrer besonderen Ebene glückte. Denn diese frühen Völker waren auf technischem Gebiet verhältnismäßig weiter als wir.
Fahren wir fort. Die volle Bedeutung des über die amerikanische Freudlosigkeit Gesagten wird erst unter dem Gesichtswinkel des Kulturideals ganz klar. Freude ist der natürliche Ausdruck des Einklangs von Innen- und Außenwelt; darum sind alle normalen Kinder fröhlich. Kinder sind aber Tiere — damit ein zivilisierter Erwachsener einen dauernden Freudezustand erreiche, muss seine allgemeine Einstellung freies Wechselspiel seiner sämtlichen Energien ermöglichen. Wo immer dies durch psychische Fesseln beliebiger Art behindert wird, ist Lebensfreude ausgeschlossen. Selbstverständlich rede ich keiner Disziplin- und Hemmungslosigkeit das Wort. Ein Kind freut sich der rechten Disziplin, weil eben deren Gesetz es im Einklang mit der Welt erhält. Ebenso bedarf jeder Erwachsene, der die Stufe innerer Überlegenheit noch nicht erreichte, dass er jeden Augenblick die einer gegebenen Lage entsprechende Form und Ordnung ad hoc schaffen kann, irgendeines Systems von Hemmungen. Im übrigen sind solche zur Entfaltung des Seelenlebens ebenso notwendig, wie das Anziehen der Saiten für das Hervorbringen musikalischer Töne. Hindert aber ein System die Entfaltung der Lebenskräfte, anstatt sie zu befreien oder neue zu schaffen, so ist es verkehrt, welche Ideale immer es vorgeblich verkörpere. Und das sichtbarste Zeichen einer verfehlten Ordnung ist gerade das Fehlen und die Ablehnung der Freude. Vielleicht, ja wahrscheinlich, gibt es heute in den Vereinigten Staaten unter denen, die zählen, wenig bewusste Puritaner mehr; allein der Geist jenes Typs wirkt desto mächtiger im Unbewussten der ganzen Nation. Daher der bewusste Utilitarismus, der es für nötig findet, die Berechtigung der Freude mittels Nützlichkeitserwägungen zu beweisen. Demzufolge steht allgemein bloße Zufriedenheit an Stelle der Freude. Hier liegt auch die tiefste Wurzel dessen, was an der amerikanischen Abneigung gegen Anregungsmittel verkehrt ist. Das Leben bedarf immerdar der Stimulierung, um über einen gegebenen Zustand hinauszuwachsen. Deswegen bedeutet grundsätzliche Abneigung gegen das, was dazu führt, unmittelbar Abneigung gegen Kultur. Daher denn die Trostlosigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Vereinigten Staaten. Originalität des Denkens oder Seins wird perhorresziert, wo sie Ideal sein sollte. Wer glänzen will, erzählt Geschichten — unermüdlich, endlos, unaufhörlich, hoffnungslos. Die Kunst der Konversation ist unbekannt. Empfangen Amerikaner einen Gast, der interessant zu werden verspricht, so behandeln sie ihn am liebsten wie einen Verbrecher vor Gericht: einem erbarmungslosen Kreuzfeuer von Fragen wird er ausgesetzt; man zwingt ihn zum Reden, bis dass er einer ausgequetschten Zitrone gleicht. Nach einer solchen Gesellschaft in New York bat ich, aus Furcht vor vorzeitigem Tode, in Zukunft in meinem Fall zwischen Diners und Gerichtsverhandlungen zu unterscheiden. Demgegenüber wusste jede kultivierte Gesellschaft aller Zeiten, dass ein Fest, dessen kunstvolle Anordnung seine Teilnehmer über ihren Normalzustand hinaushebt, und sie das banale Alltagsleben vergessen lässt, unendlich viel wertvoller ist als jedes ernsthafte Geschäft. So danken die Wunder der griechischen Philosophie ihre Entstehung in hohem Maß auf Symposien empfangener Inspiration. Wie steht es dem gegenüber mit offiziellen Essen in Amerika? Die sind trocken sowohl im physischen, wie im geistigen und seelischen Verstand, und die Nachtischreden, denen man da Stunden und Stunden lang lauschen muss, möchten unseren Schöpfer in Versuchung führen, seine Allwissenheit und Allgegenwart zu verfluchen … Doch auch die allgemein gebräuchlichen Anregungsmittel sind kulturfeindlich. Auch hier führt die Unmöglichkeit, sich im richtigen Proportionsverhältnis auszudrücken, zu Karikaturen. Der Amerikaner adoriert Sensationen und Exzentrizitäten, weil ihm verwehrt ist, originell zu sein. Der Inspiration allzu misstrauisch gegenüberstehend, neigt er in seinen vorübergehenden Stimmungen zu Superlativen und ist in seinen Äußerungen das enthusiastischste Geschöpf der Welt, weil sein reales Leben die Nüchternheit selber ist. Gleiches gilt vom gebräuchlichsten Getränk. Ich wünschte, es schriebe jemand, der genau Bescheid weiß, die Geschichte und Psychologie des Cocktails. Hier handelt es sich um eine der außerordentlichsten Erfindungen aller Zeiten. Der Cocktail betäubt nicht allein statt anzuregen — sein eigentliches Wesen ist die Mischung des Unpassenden mit dem Unvereinbaren. Dem liegt gewiss profunde Absicht zugrunde: der Cocktail soll schädlich und nicht wirklich schmackhaft sein; mit einem Wort, er bedeutet einen exzentrischen Ausdruck des Puritanismus.
Amerika kennt in der Tat keine Freude, sondern nur Zufriedenheit; es hält Komfort für gleichbedeutend mit Kultur. Dies beweist einen wahrhaft niederschmetternden Mangel an Proportionsgefühl. Und gleiches gilt auf allen Ebenen. Eine sozialistische Nationalstruktur ist genau so berechtigt wie eine individualistische. Geht jedoch ihr Sozialismus so weit, dass er die individuellen Strebungen unterdrückt, dann stellt, er ein Krankhaftes dar. Nicht anders steht es mit der Demokratie gegenüber der Aristokratie. Lässt die an sich potentia produktive Voraussetzung der Gleichheit für die Anerkennung des Werts der Einzigkeit keinen Raum, dann ist das, wozu sie führt, dem Geist des Lebens feindlicher als die Wirkung jeglichen Systems, das die natürlichen Menschenrechte verkennt, jedoch den Wert betont. Dann zersetzt sich das Leben unabwendbar, so glücklich seine äußeren Umstände scheinen, denn dann kann der Mensch mit sich selbst und der Welt unmöglich im Einklang sein. Dies erklärt die überwältigende Anzahl der Erscheinungen des amerikanischen Lebens, die durch Psychoanalyse zu erklären (und glücklicherweise auch zu heilen) sind. Ein kultureller oder überlegener oder auch nur wahrhaft moralischer Zustand ist unter der Annahme, dass Gleichheit ein Ideal und bestehende Unterschiede belanglos sind, unerreichbar.