Schule des Rades
Hermann Keyserling
Amerika · Der Aufgang einer neuen Welt
Spiritualität
Spiegel der Wahrheit
Wenden wir uns nun einmal mehr dem Sonderproblem der Vereinigten Staaten zu. Die amerikanische Nation lebt augenblicklich dem Tier-Ideal gemäß. Die privatistische Weltanschauung hat zu dem Allgemeinergebnis geführt, dass der Nachdruck in einem in aller Geschichte unerhörten Maß auf die Lebensbedingungen im Gegensatz zum Leben selbst gelegt ist. Die natürliche Entwicklung der amerikanischen Demokratie verläuft in gleicher Richtung. Die Vorherrschaft des positivistischen Geistes der Frau potenziert noch die Bedeutung der materiellen Seite des Lebens, gleiches bewirkt die Primitivierung der Rasse und die Idealisierung des Kindes. Da sich der ererbte enge Moralismus vor tieferer und klarerer Einsicht in den Zusammenhang der Dinge nicht bewährt, vermag er fortschreitende Materialisierung nicht zu hindern. Gibt es denn nun in den Vereinigten Staaten gar kein spirituelles Leben? Doch. Allein soweit es sich um für das Volk repräsentative Erscheinungen handelt, ist dieses ein ebenso einseitiges wie das materialistische Geschäftsleben. Glaubt, summarisch ausgedrückt, die Mehrheit an die Materie allein, so leugnet die Minderheit deren bloßes Vorhandensein. Sind die Mitglieder der ersteren als Geister passiv, so glauben die der letzteren an die Allmacht geistiger Initiative. Nun sind beide Typen der Einseitigkeit so nahe verwandt und setzen sich gegenseitig in so hohem Maße voraus, dass beim ersten Blick einleuchtet, dass es sich hier um polare Gegensätze handelt; augenscheinlich gehören sie einen einheitlichen psychologischen Ganzen an, für welches das alles Organische beherrschende Gesetz der Korrelation gilt. Auf der physischen Ebene halten sich alle Organe und Funktionen das Gleichgewicht. Auf psychischer sind die Organe überdies wesentlich wandelbar wie Traumgestalten, woraus sich ergibt, dass auf diesem Gebiete zwei eigentümliche Gesetze alle Gestaltung bestimmen: das Gesetz der allgemeinen Determination, welches bedingt, dass alle Prozesse auf einen Generalnenner bezogen werden können; und das Gesetz der Kompensation, gemäß welchem jedes in einer Richtung gestörte Gleichgewicht allemal von anderer her wiederhergestellt wird. Bei unserer Untersuchung der amerikanischen Moralität begegneten wir dem klassischen Beispiel des ersten Gesetzes. Moralität ist der Generalnenner des amerikanischen Lebens, so dass alle nur möglichen Fragen die Gestalt moralischer Probleme annehmen; ferner gibt die vom Puritanismus postulierte Reinheit
sämtlichen Erscheinungen bis hinab zur Schamlosigkeit in sexuellen Dingen eine besondere Färbung.
Das Gesetz der Kompensation nun illustriert am besten die Christian Science, das Urbild amerikanischer Religiosität; und deren Beispiel bietet seinerseits den denkbar besten Beweis, dass ihrer Idee Wirklichkeit zugrunde liegt. Wird die Materie in den Vereinigten Staaten überbetont, und gibt es überhaupt eine spirituelle Wirklichkeit, dann folgt aus der Eigenart der Menschenseele a priori, dass Spiritualität in Amerika sich mit gleicher Einseitigkeit herausdifferenzieren muss. So ist es denn auch; die puritanismusbedingte Reinheit
verschärft ihrerseits die Umrisse. Ferner: ist die Grundhaltung der Vereinigten Staaten geistig passiv, so muss eine in ihrem Aktivismus desto ausgesprochenere jene kompensieren. Eben dies ist die Bedeutung der unbedingten Bejahungen und Verneinung der Christian Science. Innerhalb einer Nation spielen die Einzelnen die gleiche Rolle wie die besonderen Funktionen in der Einzelseele. Dementsprechend gehört jeder repräsentative spirituelle Amerikaner dem weiteren Kreis der Christian Science an, ob er sich dessen bewusst sei oder nicht. Vom Tatsachenstandpunkt wäre es wohl richtiger zu sagen, dass er der Gruppe des New Thought angehört. So war letzteres sicher bei Emerson z. B. der Fall, während man ihn nicht gut als Christian Scientist bezeichnen darf. Doch auf der Ebene des Sinns stellt die Christian Science und kein anderer Ausdruck amerikanischer Religiosität — gleichviel, ob der New Thought ihr zeitlich vorausging — das Prototyp dar, weil sie dem Gesetz der Korrelation von Sinn und Ausdruck am besten entspricht. Hier mag vielleicht mancher einwenden, dass die Primitivität der Ideen der Christian Science es ausschließt, dass sie Wahrheit zum Ausdruck brächte. Doch dieser Einwand hält nicht stich. Primitive Menschen können nur dann wahrhaftig sein und dementsprechend absolute Wahrheit nur dann zum Ausdruck bringen, wenn sie an Primitives glauben oder ihrem Erleben primitiven Ausdruck verleihen; dies muss so sein, wenn das Wort Geist Wirklichkeit vertritt und nicht eine bloße Konstruktion des Intellekts. Nichts könnte widersinnig sein, als auf Spirituelles die Maßstäbe intellektueller Wertungen anzuwenden. Da es sich um die innerste Wirklichkeit handelt jenseits von Name und Form, so geben allein symbolische Bilder, welche naturnotwendig die entsprechende innere Antwortreaktion hervorrufen, adäquate Ausdrucksmittel ab. Demzufolge sollte grundsätzlich jeder Mensch das Spirituelle auf streng persönliche und unübertragbare Art erleben und ausdrücken; was, soweit konkretes Verstehen in Frage kommt, tatsächlich der Fall ist. Da aber jedes einzigartige Individuum überdies einem Typus angehört, so gibt es typischen Zuständen entsprechende typische Ausdrücke; dies erklärt die Anziehungskraft, welche offizielle Kirchen auf die Menge immer wieder ausüben. Hieraus folgt denn, dass die entsprechenden Ausdrücke bei primitiven Völkern primitiv sein müssen, eben wenn sie absolute Wahrheit vermitteln sollen; in ihrem Fall mag rohester Aberglauben und offenkundigster Irrtum doch getreuer Spiegel der Wahrheit sein. Doch zugunsten des Primitiven ist noch mehr zu sagen. Primitive Ausdrücke sind die durchsichtigsten und überzeugendsten im absoluten Verstand, weil sie die großen Umrisse unverhüllt in der ursprünglichen Form jener Urbilder wiedergeben, die im Unbewussten der differenziertesten Seele weiterleben. Deswegen sind alle Religionen, welche die Welt beherrscht haben und beherrschen, Ausdrücke eines primitiven Zustandes: selbst der Kulturmensch erlebt vermittels ihrer auf unmittelbare Weise die Wahrheit, falls er das Organ dazu besitzt. Als ich bei zwei Tagungen der Schule der Weisheit zeigen wollte, welches die wahre Bedeutung der christlichen Lehre ist, da musste ich mich an Russen wenden, die noch Frühchristen sind oder unter dem Druck dessen, was sie als Satanismus empfinden, in jenen Typus zurückgeschlagen sind. Das Frühchristentum fand seine Form im Gegensatz zum heidnischen Altertum; daher überbetonte es das, was die Griechen Pathos nannten, nämlich Demut, Sanftmut und Geduld, mit radikaler und archaischer Einseitigkeit. Aber eben darum sind seine Formen allgemein überzeugend als Sinnbilder absoluter Wahrheit; mittels passiver Lebensmodalität bringen sie diese vollkommen zum Ausdruck.
Diese Art Spiritualität konnte sich in den Vereinigten Staaten unmöglich entwickeln, trotzdem der psychologische Zustand ihrer Bewohner ungefähr so primitiv ist wie der russische. Da hier Passivität die Grundeinstellung des geistigen Menschen ist, so konnte sie nur durch Überbetonung des spirituellen Ethos oder der Initiative kompensiert werden. Dies erklärt denn den einseitigen Aktivismus des amerikanischen Christentums. Alles Leben drückt sich, ohne seine Identität zu verlieren, auf zwei entgegengesetzte Weisen aus, aktiv und passiv, als Ethos und als Pathos. In der Modalität des Ethos entspricht das amerikanische Christentum nun genau dem russischen als dem Vertreter des Pathos. Hier tritt uns denn ein weiteres Beispiel der Gesetze der Korrelation und Kompensation entgegen. Bei vielen früheren Gelegenheiten gelangten wir zum Schluss, dass das materialistische Amerika und das bolschewistische Russland nahe verwandt sind. Aber eben aus diesem Grunde stehen sich auch das spirituelle Amerika und das urchristliche Russland sehr nahe. Europa erstirbt gern in Ehrfurcht vor der russischen Religiosität, und erhofft von ihr gar das Heil der Welt. Dann aber sollte es der amerikanischen Spiritualität gegenüber die gleiche Haltung einnehmen. Davon hört man selten. Doch die günstigen Erfolge, deren sich die Christian Science gerade auf europäischem Boden rühmen darf, beweisen die Wahrheit der behaupteten Korrespondenz. Die Christian Science steht normaler europäischer Religiosität genau so fern wie das russische Christentum. Doch sie verkörpert ebenso reine Spiritualität. Fühlt daher ein überintellektualisierter oder -differenzierter Europäer, dass sein Heil in der Primitivierung liegt, dann kann er es in Amerika grundsätzlich genau so gut wie in Russland finden; seine Wahl hat davon abzuhängen, ob seine Seele mehr aktiv oder passiv ist. Vom europäischen Standpunkt ist die russische Spiritualität von einzigartiger Eindruckskraft, weil sie neben barbarischer Natur besteht; der Russe kennt keine Zwischenstadien zwischen roher Natur und reinem Geist. Doch die amerikanische Spiritualität ist in Wahrheit genau so eindrucksvoll, denn sie besteht neben einem massiven Materialismus, der deswegen nicht weniger barbarisch ist, weil es sich hier um mechanisierte im Unterschied von roher Natur handelt. Auch in den Vereinigten Staaten gibt es keine Zwischenstadien zwischen Materialismus und Spiritualität; kulturelle Interessen leben innerhalb kleiner Gruppen, nicht anders wie in Russland; doch ein nationales Verständnis für den Wert von Kultur fehlt vollkommen. An dieser Stelle darf ich ein schon mehrfach Behauptetes ein wenig einschränken, was zugleich das Bild der Analogie und Verwandtschaft zwischen Amerika und Russland vervollständigen wird. Ich sagte, Amerika sei das einzige bis in seine Tiefen christliche Land, weil es kein heidnisches Erbe besitzt. In Wahrheit ist es das einzig christliche Land nur unter Westvölkern. Auch Russland ist von Grund aus christlich, das heißt in seinem Unbewussten leben keine nennenswerten vorchristlichen Elemente. Was in der russischen Seele nicht christlich ist, gehört dem Geist der russischen Erde an — und gleiches gilt, mutatis mutandis, von der Amerikanerseele.
Nun verkörpert aber das Christentum beider Nationen echte Spiritualität in noch einem weiteren Sinn, den wir bisher nicht behandelten, der im Zusammenhang dieses Kapitels jedoch besonders wichtig ist. Geist lässt sich nie institutionalisieren, weil sein Wesen einerseits Sinn und andererseits freies Schaffen ist, was Objektivierung in beliebigem Verstande ausschließt. Dies hat das weltzugekehrte westliche Europa von Hause aus verkannt. Russland jedoch wusste es von je. Deswegen hielt das russische Christentum die Idee der Autorität in geistlichen Dingen von je recht eigentlich für antichristlich; von jeher war es der Meinung, dass ein Dogma wahr sei, insofern es geglaubt wird, und dass Glaube allemal Sache der reinen Freiheit sei. Gleichsinnig hielt es die Idee der imitatio Christi für recht eigentlich antichristlich — das Bild Christi könne nie mehr sein als Vorbild und vorgegebene Form der Selbstverwirklichung. Daher war die russische Kirche nie eine Institution im westlichen Verstand: ihre Idee war ähnlich der eines Meditationssymbols — der Seinsgrund all ihrer Objekte und Ziele war, subjektive Spiritualität ins Leben zu rufen. Nun kann man Amerikas offiziellen Kirchen beim besten Willen nicht nachsagen, sie seien keine Institutionen, wie Eisenbahndirektionen und Warenhäuser auch. Demgegenüber gehört die erste ursprüngliche und echte amerikanische Religion, nämlich die Christian Science, nicht der Ebene möglicher Institutionen an. Sie steht und fällt mit rein persönlicher und subjektiver Spiritualität. Dass ihre augenblickliche äußere Organisation ein Kirchenartiges ist, ist ähnlich wie ein Naturspiel zu beurteilen.