Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Selbstverantwortung

Aufrichtigkeit

Wozu eine Zeit nun reif ist, das ist zugleich Zeit-Gebot. Wer sich einer fälligen Entwicklung entgegenstemmt, mobilisiert damit nur längst überwunden geglaubte niedere Gegenkräfte, und so führt der Wille zur Erhaltung eines an sich guten, aber verjährten Zustandes zu Bösem. Was ich hier nun Selbstverantwortung hieß, hätte ich grundsätzlich auch unter den Überschriften Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit behandeln können; im Kapitel Wahrhaftigkeit des Buchs vom persönlichen Leben habe ich auch ersteres Wort verwendet und in der Version des gleichen Kapitels der gekürzten französischen Ausgabe (De la Souffrance à la Plénitude, éditions Stock, Paris) das zweite. Aber jede Bezeichnung entspricht einem besonderen und im Falle scharfen Denkens haargenau bestimmten Aussichtspunkt. Darum meine ich doch anderes, wenn ich Selbstverantwortung statt Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit sage. Vor allem meine ich mehr. Der Begriff der Selbstverantwortung, wie ich ihn hier verwende und durch das bisher Gesagte auf bestimmter Grundlage bereits fundiert habe, schließt nämlich die anderen von oben her ein. Darum führen die letzten Gedankengänge dieser kurzen Betrachtung über die Ergebnisse meiner früheren Studien über den gleichen Grundgegenstand hinaus. Früher zeigte ich, dass die Zeit, wo objektive und sachliche Wahrheit als Ideal und Leitstern genügte, um ist. Nach schönen Anfängen — die meisten Anfänge sind schön, aber leider nur wenige Enden — hat das Sachlichkeitsideal dahin geführt, dass herausgestellte Theorie das Bewusstsein inneren Lebens verdrängt und dieses überdies dem Geist der toten Materie überantwortet hat. Nun tut objektive Erkenntnis freilich not. Sie muss jedoch in jedem konkreten Fall, wenn es Wesentlicheres als Äußerlich Nützliches gilt, mit persönlicher Wahrhaftigkeit verschmolzen in die Erscheinung treten: sonst bleibt das letztlich entscheidende Subjekt unergriffen und unbeteiligt, und es ist psychologisch genau so möglich, dass das Leben und Handeln von der Lüge beherrscht werde wie von der Wahrheit. Ja, das Unbewusste des Menschen neigt desto stärker zur Verwirklichung der ersteren Möglichkeit, je länger es durch Zwang zur Sachlichkeit vergewaltigt wird. Daher die so nie dagewesene Rolle, welche die Lüge im XX. Jahrhundert als paradoxales Ergebnis des einzig dastehenden Strebens nach objektiver Wahrheit des XIX. in der Westwelt spielt. Dieses Streben hat im Unbewussten zu einer Mobilisierung der Unterweltskräfte geführt. Hätten nicht auch andere Motive mitgewirkt, von denen hier nicht die Rede sein soll, so wäre es nicht notwendig dahingekommen, was heute vor aller Augen liegt. Aber unter allen Umständen hätte der Kult einer vom Leben abgelösten objektiven Wahrheit schließlich zu allgemeiner Skepsis geführt und damit den Tiefenkräften des Geistes die Auswirkungsmöglichkeit genommen. Denn was ist Wahrheit? Eine unüberschreitbare Wahrheit gibt es nicht. Wohl aber gibt es von Fall zu Fall unbedingte Wahrhaftigkeit, und geht diese mit der jeweils höchsterreichbaren Wahrheit eine richtig angesetzte Gleichung ein, dann ist der jeweils bestmögliche Gleichgewichtszustand erreicht. Aber freilich handelt es sich auch hier um ein Relatives. Hier setzt denn ein, was über die Ergebnisse von Wahrhaftigkeit hinausführt. Wahrhaftigkeit gewinnt erst dann ihren vollen Wert, wenn sie mit unbedingter Selbstverantwortung zusammenfällt. Wenn also ein Mensch den Mut des sein Leben aufs Spiel setzenden Kämpfers, die Unbedingtheit des Glaubenden, welcher allen Zweifel besiegt hat, mit persönlicher Einsicht in unabhängig von ihm bestehende Wirklichkeit zu einem Innewerden höheren Grades in sich verschmilzt. Ein solcher Mensch verantwortet in der Tat unbedingt. Weder überlässt er der Wissenschaft irgendeine Verantwortung, noch berücksichtigt er seine privat-persönliche Sicherheit. Alles nimmt er auf sich, und zwar auf sich allein.

Wer nun bloß dieses Ideal erlebend realisiert, so fern er dessen praktischer Verwirklichung noch sei, der ist über die schlimmsten Gebrechen dieser Epoche bereits hinaus. Über die Feigheit des Beweise fordernden Wissenschaftlers, über die innere Unsicherheit dessen, dessen Selbstvertrauen von der Meinung anderer abhängt, über die Erbärmlichkeit dessen, der es nicht aushält, gesündigt zu haben, zu irren, oder auch nur im Unrecht zu sein. Zugleich aber ist er hinaus über den Zweifel, welchen alle hohen Religionen als Haupthindernis geistlicher Entwicklung verurteilen. Da aller Nachdruck bei ihm auf der unbezweifelbaren Wirklichkeit seiner selbst ruht und er diese genau als die anerkennt, welche sie, nach bestem Wissen und Gewissen beurteilt, ist, so zweifelt er wesentlich nicht, so zweifelhaft ihm manches bleibe. Von dieser grundsätzlichen Überlegenheit über den Zweifel her kann er aber gar nicht umhin, nach Verwandlung alles Zweifelhaften in Gewisses zu streben, und damit dem höchsten Ideal der Wissenschaft gemäß zu leben. Im übrigen aber horcht ein solcher in Demut auf die Stimme des Werdenden in seinem Inneren hin. Diese mahnt ihn, niemals stillezustehen, sich nie durch irgendeine konstruierte Endgültigkeit einkapseln zu lassen. Damit fallen zum ersten Mal in der Geschichte Überlegenheit über den Zweifel und entwicklungsfeindliche Statik nicht zusammen, im Gegenteil: sie schließen einander psychologisch aus. Der hier beschriebene Gläubige neuer Art ist sogar wesentlich Abenteurer: indem er alle Verantwortung auf sich nimmt, setzt er immer wieder alles aufs Spiel, denn bei der Unzahl interferierender Kausalreihen kann er nie wirklich wissen, was werden wird. Sein Erkenntnisstreben ist kein neugieriges Zuschauen, wie das der Greise in der Legende von Susanna im Bade, sondern ein wagemutiges Experimentieren, wobei die eigene Seele Stoff, Retorte, Feuer, Scheidewasser und Forscher zugleich ist. Von hier aus erfasst man den wesentlichen Sinn der Alchimie, über welchen neuerdings in wenig glücklichen Versuchen der Anempfindung einer völlig fremdgewordenen Zuständlichkeit so viel wirres Zeug geschrieben wird. Der Prozess der geistig-seelischen Entwicklung hat seine materielle Entsprechung nicht am physikalischen, sondern am chemischen Geschehen, was sogar die vorgeschrittenste Tiefenpsychologie bisher verkennt; sonst bliebe sie nicht, nachdem sie den reinen Mechanismus überwand, an den Vorstellungen der Energetik haften. Indem zwei Stoffe in bestimmtem Verhältnis, unter bestimmtem Druck und in Gegenwart bestimmter anderer Stoffe aufeinander wirken, entsteht Neues, den Bestandteilen gänzlich Unähnliches. Eine Art Mischung gleicher Elemente ergibt eine harmlose Flüssigkeit, eine andere einen furchtbaren Sprengstoff. So allein ist auch die Persönlichkeitsbildung, soweit sie nicht vom Geist, sondern von Vererbungsfaktoren bedingt ist, zu verstehen; dank einer bestimmten einmaligen Mischung von Elementen, auf die bisher nie Außerordentliches zurückging, entsteht plötzlich ein Genie. Nur von alchimistischen Grundvoraussetzungen her ist auch das richtig zu sehen, was tatsächlich seine einleuchtendste Analogie in physikalischen Vorgängen findet. Atomzertrümmerung führt nicht zur Entmachtung des Stoffes, sie setzt gewaltigere Energien frei, als sie in der Oberwelt des Zusammengesetzten anzutreffen sind. Ähnlich steht es mit dem Geist, dessen Ich zerstört wurde und durch den nunmehr übermenschliche Kräfte wirken. Was nun die neue Synthese von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Einsicht, Glaube, Mut und Verantwortung betrifft, so ist ihr Zustandekommen nur im Bilde der Chemie richtig zu verstehen. Hier entsteht etwas einer qualitativ neuen Substanz Analoges.

Von der Psychochemie her, auf deren Begriffe natürlich nicht insistiert werden darf, weil er letztlich eine Hilfskonstruktion bedeutet, dank welcher am Bilde entfernter Analogie spontanes Verständnis erwachen kann für etwas, was an sich mit dem Verstande nicht zu fassen ist, wird mancher vielleicht zum erstenmal verstehen, was der von mir oft ausgesprochene Satz besagt, dass Lebensprobleme nicht gelöst, sondern erledigt werden. Von einer neuen chemischen Verbindung her gibt es, in der Tat, keine Antwort auf Fragen, die man ihren Elementen oder einer anderen Zusammensetzung ihrer stellte. Und so kann, metaphorisch gesprochen, auch nur die Chemie und nicht die Physik eine Antwort darauf erteilen, wie der souverän gewordene Mensch der Gefahr entrinnen kann, Luzifers Schicksal zu beschwören. Dass diese Gefahr nie drohender erschien als in dieser Wendezeit, wo der Mensch unerhörte Gewalt über die Elementarkräfte der Außenwelt errungen hat, sich gegenüber den entsprechenden Dämonischen Kräften in sich jedoch schwächer erweist als jemals zuvor, wird keiner anzweifeln, welcher Augen hat zu sehen. Aber mit Vorsicht ist hier gar nichts zu erreichen. Es gilt sich selbst und das Schicksal mit den vorhandenen Organen zu verstehen, so gut es geht, die Akzente so richtig zu legen, als man es übersehen kann — und dann sich mutig selber in die Retorte zu stürzen. Keine neue Verbindung kam je anders zustande als durch Einschmelzung von Altem. Diese Einschmelzung haben in der Natur, bevor der Geist im Menschen erwachte, Katastrophen oder langanhaltender Druck allein besorgt. An das erste Mal, wo der Mensch selber mitentscheidend eingriff, erinnert die Erzählung vom Sündenfall. Der gefallene Adam war wohl ein Heruntergekommener vom Standpunkt der Paradiesesbewohner, vom Standpunkt aller Werte jedoch, welche wir Menschen am höchsten stellen, gegenüber dem Naturgeborgenen der höher Aufgestiegene. Mit Adams Fall erst begann die Selbstentwicklung und damit Selbstverwirklichung. Er bedeutete die erste große Wachstumskrise auf dem Wege der Vermenschlichung. Die Überlieferung vom kriegerischen Kain versinnbildlicht die zweite; von Kain rührt, laut aller esoterischen Lehre, aller Fortschritt her. Mittlerweile ist der Mensch, durch kumulierte und immer besser erinnerte und verstandene Erfahrung belehrt, sehr sehend geworden. Heute ist er in nie dagewesenem Grade verantwortlich. Diese Verantwortung, welche er objektiv unter allen Umständen trägt, muss er fortan bewusst auf sich nehmen, mit seinem ganzen Mute, seinem ganzen Geiste, seiner ganzen Seele. Dann braucht er nicht abzustürzen, auch wenn er zeitweilig den Weg Luzifers geht. Luzifer stürzte ab, weil er das Gleichgewicht verlor; er gab einer Versuchung nach, der er hätte standhalten können; er verkannte seine wahre Stellung, wo er sie nicht zu verkennen gebraucht hätte. Vollkommene Selbstverantwortung, wie sie diese Betrachtung fordert, kann den Menschen vor ähnlichem Verhängnis bewahren. Sie kann die dem Sinne nach gleiche Krisis, die für den schönsten aller Engel das Ende seiner aufsteigenden Bahn einleitete, in eine heilsame Wachstumskrise umwandeln, jenseits welcher erst das wahre Menschenleben beginnt, wie es von Anbeginn gemeint war.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Selbstverantwortung
© 1998- Schule des Rades
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