Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Selbstverwirklichung

Das ewige Kind

Das hiermit lose umfriedigte Problem ist wohl das wichtigste aller Menschenprobleme, denn mehr als sich selbst ganz verwirklichen kann der Mensch auf Erden nicht. Eben darum aber ist es unerschöpflich. Wir können hier gar nicht daran denken, alle Aspekte seiner zu beleuchten. Hier werde ich mich darum auf drei der wichtigsten beschränken: die Fragen der gegenseitigen Beziehung von Keim und Entfaltung im Leben und Werk, des gegenseitigen Verhältnisses von Selbstverwirklichung und Schicksal und endlich die Frage der Überwindung des bisherigen Menschenzustands, mit welchem die ganze Problematik, mit der wir uns hier befassen, zu bestehen aufhört.

Zum ersten. Dem schöpferischen Geist, der auf eine lange Entwicklung zurückblicken kann, wird desto deutlicher, je näher er der Vollendung seines Erdendaseins kommt, dass er das, was er im Laufe der Zeit vollendet hat, nicht allein früh, sondern von vornherein, ja ursprünglich gemeint hat. Daher die Arroganz aller begabten Jugend, die nicht entweder ihrer selbst sehr unbewusst oder aber sehr weltklug ist: da Jugend nicht warten zu können meint, weil sie in Analogie der ihr Bewusstsein beherrschenden Triebe, welche allesamt sofortige Befriedigung heischen, alle Ziele als unmittelbar vor sich liegend vorstellt, so ar-rogiert sie sich jetzt, hier und gleich, was bestenfalls erst sehr viel später da sein kann. Das Wort Arrogieren ist an sich unübersetzbar und muss so übernommen werden. Doch für einen Aspekt seiner gibt es ein gutes deutsches Wort: Vorwegnehmen, im Substantiv Vorwegnahme. In die bisher allgemein übliche Begriffssprache zurückübersetzt: der Jugendliche antizipiert, was er erst als reifer Mann oder Greis realisieren kann. Inwiefern ist nun solche Vorwegnahme, auf kantisch ausgedrückt, überhaupt möglich? Sie ist offenbar nicht möglich in Form der letzten Ausgestaltung, welche vollkommene Durcharbeitung und Durchgeistung alles in Frage kommenden Materials voraussetzt, handele es sich um Erkenntnisinhalte, das Erkennen selbst, die Durchgeistung der Seele oder die Beherrschung des Körpers und äußerer Umstände. Wohl aber ist Vorwegnahme möglich in Form der Herausstellung des Keims, denn dieser ist dann schon da. Und der ist freilich als solcher der Fassung fähig.

Allerdings aber nur in der reinen Vorstellung und deren Darstellung. Darum begegnen wir Leistungen von Wunderkindern, die der Kritik der Zeit standhalten, proportional dem Grade, in dem eine Intention in der reinen Vorstellung verwirklichbar ist. Mathematische und musikalische Genies haben mehrfach als Kinder schon Höchstes geschaffen. In nur wenig geringerem Grade gilt gleiches von lyrischen Dichtern. Ursprüngliche Empfindungen und Gefühle bedürfen kaum der Entfaltung an der Erfahrung, um eines Ausdrucks fähig zu sein, welcher auch dem Erfahrensten einleuchtet. Darum haben nicht nur Jünglinge, sondern auch nachweislich nicht nur erfahrungs-, sondern auch vorstellungsmäßig unschuldige junge Mädchen gelegentlich herrlichste Gedichte der Leidenschaft geschaffen. Wie soll aber ein noch so genial geborener Staatsmann ohne Erfahrung Bleibendes leisten? Hier ist nur die Verkörperung der Intention in den Zufällen des Geschehens sinngemäß, und bevor solche Verkörperung möglich wird, ist die Intention allenfalls in Form einer Theorie ausdrucksfähig, als welche ein echter Staatsmann gerade nicht meint. Dem widerspricht nicht, dass viele der gewaltigsten unter ihnen, wie Alexander, Napoleon, zum Teil auch Caesar, in sehr jungen Jahren Größtes leisteten: der Staatsmann braucht die Tatsachen der politischen Außenwelt nicht, um an ihnen zu lernen — sein Genie mag so groß sein, dass er all deren Möglichkeiten ursprünglich intuiert —, sondern als Material, wie der Bildhauer den Marmor. Je mehr nun aber die Erfüllung einer Bestimmung in der Einbildung der Erkenntnis ins ganze Leben bis zu dessen oberflächlichsten Äußerungen hinan besteht, desto mehr setzt die Vollendung Erfahrung und damit Zeit voraus. Das Ideal des chinesischen Weisen, dessen Erkenntnistiefe in vollkommener Anmut der Oberfläche in Erscheinung träte, kann kein nicht alter Mensch verwirklichen. Auch kein Heiliger leuchtet anderen wirklich ein — obschon es mehrere gegeben hat, welche dank besonderer Begnadung beinahe ohne prüfende Umwege der höchsten Erleuchtung teilhaftig wurden —, dessen Heiligkeit nicht Ergebnis schwer erarbeiteter Selbst- und Weltüberwindung war. Auf Gleichem beruht die typische Weisheit des Alters sowie die Tatsache, dass Jugend, wo sie überhaupt verehrungsfähig ist, nur alte Menschen aufrichtig verehrt.

Der theoretische Philosoph nun stellt einen ganz besonderen Fall dar, insofern er sein Werk auf der Ebene der reinen Vorstellung schafft, andererseits aber nur am verstandenen oder besser durchschauten Weltall das ausgestalten kann, was er ursprünglich meint. Vorgestellt wird aus letzterem Grunde darum auch er als Alterstypus. Nichtsdestoweniger haben gerade viele Philosophen in jungen Jahren Bedeutendstes geleistet und enthält das Bereich dessen, was man soziale Jugendleistung heißen mag, mit die bedeutendsten philosophischen Leistungen überhaupt. Unter sozialer Jugendleistung verstehe ich hier archaische Philosophie. Es ist für mich sehr die Frage, ob archaische Kunst auch nur annähernd die Hochschätzung verdient, die ihr seit der letzten Jahrhundertwende zuteil wird: als Kunst ist sie sicher nicht besser als entwickeltere, und da der Sinn für sie dieses Mal jedenfalls — aber wahrscheinlich war es in allen vergleichbaren Fällen so — mit einem Zustande der Überreife, wenn nicht der Entartung der Verehrenden zusammentraf, so neige ich persönlich dazu, daraus zu schließen, dass es sich hier um Ähnliches handelt wie bei der Ekstase weinerlicher Greise vor der herrlichen Jugend, so wenig vielleicht gerade die von ihnen bewunderte tauge. Aber archaische Philosophie — die der Inder, Chinesen, der griechischen Vorsokratiker — hat wirklich vor entwickelterer viel voraus. Woran liegt das? Es liegt daran, dass wirklich tiefe Philosophie von den tiefsten Möglichkeiten, die der Wirklichkeit zugrunde liegen, handelt, nicht von deren Festlegungen. Da sie allemal das Weltall zum eigentlichen Gegenstande hatte, konnte sie ihr Ziel unmöglich in der Vollendung von Einzelnem und Bestimmtem sehen. Darum aber ist eine Philosophie, welche Keime als solche erlebbar macht, Sinn- und Wirklichkeitsgerechter als auf Ausgestaltetes bezogene.

Was ich hier im Rahmen des Begriffsschemas Keime und Entfaltungen zu bestimmen versucht habe, lässt sich zum Teil auch und für viele vielleicht einleuchtender — denn im Zeitalter der Technik denken die Menschen mehr denn je in aus der anorganischen Natur abgezogenen Begriffen — im Rahmen des Schemas Richtungen und Grenzen bestimmen, wie ich dies 1907 in der ersten Vorrede zu Unsterblichkeit getan habe. Dann kann man sagen: jeder lebendige Impuls entspricht einer ins Unendliche hinausweisenden Richtung, und jede Ausgestaltung und Festlegung Grenzen. Letztere nun haben ihren Seinsgrund allemal in der Beschränktheit individueller Existenz auf dem Hintergrunde einer ebenfalls beschränkten besonderen Zeitgeisteinheit, nie im überpersönlichen und übergeschichtlichen Leben, welches unsterblich und unbegrenzt verwandelbar durch diese hindurchflutet. Darum betreffen Grenzen auch nie eine Richtung als solche, sondern allein die jeweilige Möglichkeit von deren Fortführung. Weil dem also ist, erlebt ein aus echter Tiefe stammender Impuls immer wieder neue Verkörperungen, gleichwie das Leben in immer neuen Generationen, und bleibt trotz allen Gestaltwandels seinem Artcharakter treu. Man denke nur an die Unzahl verschiedener und einander widersprechender Theorien, welche dem Christus-Impulse zum Gefäß gedient haben. Urteilt man nun von der Unsterblichkeit des Lebens und nicht von der Vorliebe für bestimmte Gestaltung her, dann ist augenscheinlich ewige Keimhaftigkeit und nicht die Vollendung unter allen Umständen sterblicher Form das Ideal. Vollendung in der Ausprägung und Ausgestaltung ist das einzig angemessene Ideal für endliches Streben; auf Erden gilt nun einmal das Gesetz, dass Sinn sich nur so weit verwirklicht, als er sich ausdrückt, und der Keim drückt eben nicht die Möglichkeiten der Entfaltung, welche in ihm liegen, verwirklicht aus. Unendliches, über diese Erde hinausweisendes Streben kann hingegen seinen Leitstern eben darum nur im Keimhaften haben, denn genau wie auf der Ebene der lebendigen Physis, trägt auch auf denjenigen von Seele und Geist nur das Keimplasma und kein Soma das Unsterbliche in sich. Daher das Keimhafte aller tiefsten Philosophie. Daher desto mehr das Keimhafte der Grundvorstellungen aller echten Religion, denn solche verbindet den total erlebenden, nicht bloß den denkenden Menschen unmittelbar mit der Unendlichkeit des Geisteskosmos. Rein keimhaft sind dementsprechend die Evangelien, verglichen mit den immer wieder überholten Theologien, welche ihren Sinn ausgestalteten. Bis zum Ende der Zeiten wird Christi Sinn immer wieder bestimmte Dogmengebäude wie abgetragene Kleider abwerfen. Ein rein Keimhaftes bedeuten die indischen Sutras, die Verse Lao Tses. Eben darum scheut sich jeder einigermaßen Wissende davor, dem ursprünglich Gemeinten seinen vom Standpunkt der Erscheinung vorläufigen Charakter zu nehmen. Die russische Kirche hält mit Recht am archaischen Kirchen-Slawonischen fest, in dessen Körper das Christentum zuerst nach Russland gelangte. Gleiches sollte von Luthers in vielen Fällen nachweislich ungenauer Bibelübersetzung gelten. Luther war selber ein keimhaft Wissender. Darum gab er das Keimhafte der Bibel, sogar wo er falsch übersetzte, aus seinem echten Glauben heraus richtiger wieder als jeder exakte Philolog. Auf Gleiches bezieht sich in einer Richtung — wie jedes wahrhafte tiefe Wort bezieht es sich auf viele — auch das Logion So Ihr nicht werdet wie die Kinder usw.. Da Kinder als Geister und Seele Keime sind, so leben in ihnen zunächst alle Entwicklungsmöglichkeiten der Gattung, auf der Ebene der Natur sowohl als auf derjenigen des Geistes; es durchpulst sie die Ganzheit des nimmer alternden Lebens. Den vollen Sinn dieses Zusammenhangs fassen wir, wenn wir des Mythos vom Göttlichen Kinde gedenken, über welchen es jetzt endlich eine schöne und tiefschürfende Studie gibt: Karl Kerényi und C. G. Jung, Das Göttliche Kind (Leipzig 1940, Pantheon Akademische Verlagsanstalt), auf welches ich hier meine Leser hinweise für den Fall, dass sie sich eingehender mit diesem Stoff befassen wollen. Das Göttliche Kind, das in den meisten hohen Religionen in irgendeiner Abwandlung vorkommt, ist meiner Erfahrung nach das eine und einzige Ursymbol, welches nicht nur für das Unbewusste, sondern auch für das Bewusstsein des heutigen Abendländers noch lebendig ist. Jedem Tiefererlebenden bedeutet das Christkind von Weihnachten zu Weihnachten mehr. Wo so vieles Tiefe in seiner bisherigen Verkörperung für immer verjährt ist, drängt die Verherrlichung des Jugend-Zustandes — des erlebnismäßig wenigst bedeutsamen von allem, nur zum Einsatz ist er, wegen des blinden Dranges der Vitalkräfte, welche ihn beherrschen, der geschickteste — den Tieferen unwillkürlich über diesen hinaus zum Ursprung, von welchem die Wiedergeburt ja nur eine Abwandlung bedeutet. Denn was der Tiefe in concreto mit dem Worte Unsterblichkeit meint, entspricht ja viel besser dem Begriff der Ungeborenheit, welchen Friedrich Schwab in seinem schönen Buch Geburt und Tod als Durchgangspforten des inwendigen Menschen (Leipzig 1940, Richard Hummel Verlag) geprägt hat, und eben diese versinnbildlicht das Urkind, in welchem göttlicher Ursprung und irdische Verkörperung des Ursprünglichen zur Vollkommenheit verschmelzen. Will nun der Mensch ein dauernd förderndes Meditationssymbol gewinnen für das Ewige in sich, dem seine Sehnsucht gilt, dann kann er kein besseres finden als das ewige Kind und damit das Unsterbliche in sich. Dann kann er nichts Besseres tun, als sich andauernd mit Keimhaftem zu polarisieren. Das Keimhafte nun hat seinen angemessenen Körper am religiösen Symbol überhaupt. Insofern Götter und Göttinnen unsterblich sind, sind sie Kinder. Insofern der Mensch Ewiges verkörpert, ist und bleibt auch er überzeitliches Kind. Blickt und schaut einer nun tief in sich hinein, dann entdeckt er, dass das Kind in ihm in keiner Lebensperiode endgültig erwachsen und überwachsen ist; auch in der vollendetsten Ausgestaltung lebt es fort und bleibt lebendig genau dem proportional, inwieweit ein Mensch fortlebens- und damit fortentwicklungs- und wandlungsfähig bleibt. Es besteht also überhaupt nicht die einseitige Entwicklung von angeblich Unvollkommenem dem Vollkommenen zu, wie solche Biologen und Historiker so lange als wirklich annahmen, es besteht vielmehr ein ewiges Wechselverhältnis zwischen Erwachsenem und Keimhaften.

Wohlüberlegtermaßen benutze ich den Ausdruck Wechselverhältnis. Erstens ist es immer das Kind im Menschen, welches das Alternde und Absterbende lebendig erhält. Zweitens muss das Keimhafte und damit Ewige immerdar seinem Bewusstsein gegenwärtig bleiben, und das heißt praktisch: immer erneut meditiert werden, auf dass die Ausgestaltung auf rechte Weise fortschreite. Das bedeutet das Gebot täglichen religiösen Kults in irgendeiner Form, dessen nur Oberflächliche entraten können; daher die Stärkung, welche alle, die sich darauf verstehen, aus ihm schöpfen. Je mehr der Mensch vom Zeitgeschehen bedrängt und fortgerissen wird, desto dringender benötigter Verankerung in seinem Ungeborenen. Endlich erhellt die Bedeutung des ursprünglich-Keimhaften von jedem vorgeschritteneren Stadium aus immer deutlicher, und gleichzeitig wächst sie für den Betrachter, anstatt abzunehmen. Die Jugendwerke eines bedeutenden Menschen interessieren desto mehr, je näher er seiner irdischen Vollendung kam und kommt. Und dies gilt nicht allein für den Außenstehenden, sondern auch für den Schöpfer selbst. Ihm kann das eigene Jugendwerk einen unversieglichen Jungbrunnen bedeuten. Ihn kann das Meditieren seiner der tröstlichen Überzeugung zuführen, dass seine Entelechie in diesem kurzen Erdendasein ihre Lebenskurve nicht vollständig durchmessen hat. In einem Augenblicke der Depression sagte Goethe freilich, wenn er an seinen Tod denke, könne er, dürfe er nicht daran denken, welche Organisation damit zugrunde geht, doch dem steht die stolze und freudige Forderung entgegen, das Weltall habe die Pflicht, ihm ein neues Wirkungsfeld zur Verfügung zu stellen, da er seine Möglichkeiten in diesem Leben auch nicht annähernd habe erschöpfen können. In der Tat kann jeder schöpferische Geist rückblickend feststellen, dass sein Leben von Zustand zu Zustand, von Etappe zu Etappe, von der Vorwegnahme zur Realisierung fortgeschritten ist. Im Schlusskapitel Divina Commedia der Südamerikanischen Meditationen wird der Leser genaue Ausführungen darüber finden, wie der Mensch über die Herausstellung, das Bild und von ihm her Gebildete, von immer neuen, im Idealfall immer höher belegenen Ansatzpunkten her der Verwirklichung seines Selbstes näher kommt. Hier sei nur soviel darüber gesagt, was mit dem Thema Keime und Entfaltungen zusammenhängt. In der Skizze ist keimhaft das ganze Gemälde enthalten. Ist einer wesentlich geistiger Schöpfer, dann verläuft die geschilderte Entwicklung nur von Werk zu Werk und lässt den Menschen mehr oder weniger unberührt. Den Übergang vom Heraussteller zum echten Selbstverwirklicher vermittelt der Übergang vom Einfall zur Überzeugung und zum persönlichen Erlebnis. Vielleicht versteht man mich am schnellsten, wenn ich hier kurz von Persönlichem berichte. Von Jugend auf, und im Laufe meines Lebens in immer neuen Etappen und Aspekten, habe ich in Form von Theorie und geistiger Forderung antizipiert, was mir erst an der Schwelle der Sechziger zum persönlichen Erlebnis wurde; was ich früher herausstellte, fiel mir nur gleichsam unverbindlich ein. Kürzlich las ich den Epilog zum Gefüge der Welt wieder, den ich mit vierundzwanzig Jahren konzipierte: ebendiese Allbedingtheit des Menschen, welche doch zugleich schöpferische Freiheit allererst ermöglicht und die ich im Buch vom persönlichen Leben so scharf gekennzeichnet habe, als mir vorläufig möglich ist, treibt mich jetzt gebieterischer Drang zu realisieren. Mit sechsundzwanzig Jahren, in der Unsterblichkeit, bestimmte ich, von außen her dem Inneren zustrebend, das ich aber damals noch gar nicht direkt erleben konnte, den tiefsten Kern des persönlichen Menschen als ein Überpersönliches: eben dieses Überpersönliche, welches allen Begriffen entrinnt, wird mir jetzt immer mehr, in organischem Wachstumsprozess, zur lebendigen Erfahrung. Die ganze Lehre der Schule der Weisheit, von welcher ich als wichtigste Punkte nur die Neuverknüpfung von Seele und Geist, die gegenseitige Durchdringung von Politik und Weisheit in der Weltüberlegenheit, Charakterbildung jenseits des Charakters, Verwandlung des realen Lebens durch Durchschauen und vor allem die Lehre, dass im Bereich des geistbestimmten Lebens der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt — diese ganze Lehre erweist sich mir heute als Antizipation vom Geiste her eines Worts, dessen ursprünglicher Sinn von jeher der war, Fleisch zu werden.

Auf Grund des hier skizzierten Erlebens ist mir heute zu vollkommener Gewissheit geworden, dass der Geist im Menschen ein ebenso Konkretes darstellt wie der Leib, dass er wie dieser als Keim beginnt und sich langsam entfaltet. Nur ist der Rhythmus dieses Wachstums ein ganz anderer als der des Körpers und ist die Erreichung des Zieles niemals notwendig, geschweige denn gewiss, weil sich das Selbst nur von freier Entscheidung zu freier Entscheidung, von getragener Verantwortung zu getragener Verantwortung, von Ichüberwindung zu Ichüberwindung, von Opfer zu Opfer verwirklicht. Beim Menschen ist geistige Ahnung der organische Keim seines wahren Wesens. Hier aber nun bewahrheitet sich die paradoxale Lehre aller großen Seher, welche der johanneische Christus also ausdrückt: Ich bin das Α und das Ω, der Anfang und das Ende, und die der Zen-Buddhismus in das Gebet fasst: Möge ich mein ursprüngliches Antlitz schauen, so wie es war, ehe denn ich geboren ward. Der Ursprung ist tatsächlich das Ziel. Was der Mensch ursprünglich und am frühesten erschaut, ist zugleich sein spätestes höchstes Erreichnis.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Selbstverwirklichung
© 1998- Schule des Rades
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