Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Selbstverwirklichung

Schicksal

Hiermit gelangen wir zum zweiten Aspekte des Problems der Selbstverwirklichung, welcher in dieser Betrachtung behandelt werden soll: dem des gegenseitigen Verhältnisses von Selbstverwirklichung und Schicksal. Wir sagten: der Ursprung ist tatsächlich das Ziel; was der Mensch ursprünglich und am frühesten erschaut, ist zugleich sein spätestes und höchstes Erreichnis. Indem wir hier nun von neuer Verstehensbasis aus bei den Ergebnissen von Gemeinsamkeit wieder anknüpfen, können und dürfen wir sagen, der Sinn des Erdenlebens liegt darin, dass es notwendiger Umweg um die Welt ist. Ohne diesen Umweg bleibt es bei unverbindlicher Antizipation. Die Notwendigkeit dieses Umweges ist mit der Verwobenheit in den Kosmos unmittelbar gegeben, und jeder Mensch macht ihn auch tatsächlich, denn vom Selbste her geurteilt besteht zwischen dem Erleben des Mönches und des Klausners einerseits und dem des Welteroberers andererseits kein Wesensunterschied. Kommt der Einsame in der Regel schneller voran als der Gesellschaftsmensch, so liegt das daran, dass in der Einsamkeit jeder sehr viel mehr erlebt. Wer sich äußeren Begebenheiten hingibt, der lebt damit in ihnen und wird in seiner Tiefe kaum berührt; sogar von dem, was seine Seele objektiv erleben mag, weiß sein Subjekt wenig, und so hat er als persönliches Wesen wenig oder nichts davon. Damit stellt gerade auch der königliche Weg des Radscha Yogi nur ein abgekürztes Verfahren dar der Hingabe an die Welt. Alle Geschichte lehrt nun, dass nur ganz seltene Menschen zu solcher Wegverkürzung berufen sind. Leben starke Erdkräfte in einem, dann müssen sie auch ausgelebt werden; durch vorzeitige Versuche, sie abzutöten, werden sie lediglich verdrängt, und der Versuch, durch Yoga den Weg zum Ziele abzukürzen, erweist sich für die meisten als nur ein Umweg mehr. Man muss eben die Generosität aufbringen, es zu ertragen, wenn man kein zur Weisheit und Heiligkeit Berufener ist. Man muss zunächst sein Schicksal anerkennen und annehmen, wie immer es beschaffen sei. Sagen und Märchen aller Länder und Völker berichten von Versuchen, durch Schlauheit vorausgesagtem Schicksal zu entrinnen. Keiner entrann ihm je, außer wenn es sich gar nicht um Schicksal, sondern um einen armen und dummen Teufel handelte, der sich betrügen ließ. Das Horoskop versinnbildlicht den Zusammenhang, in den einer als integrierender Bestandteil hineingestellt ist und der damit seine Persönlichkeit mitbestimmt.

Daher das ausnahmslos feststellbare Zusammenstimmen von innerem Menschen und äußerem Geschicke. Hier liegt eigentlich gar kein Problem vor: als Geborener ist jeder Einzelne ursprünglich Teil eines bestimmten Ganzen im Sinn von Raum, Zeit, Karma usf., nur in seiner Ungeborenheit steht er außerhalb oder jenseits des äußeren Kosmos. Darum kann sich grundsätzlich keiner selbst verwirklichen, wenn er am Großen Ganzen nicht mitschafft von dem Orte aus und in der Richtung, die seiner Stellung im Leben entsprechen. Darum ist die Frage müßig, was aus diesem oder jenem wohl geworden wäre, wenn er dieses oder jenes nicht erlebt hätte: ohne diese Zufälle oder Schicksale wäre er der, welchen die Frage betrifft, nicht geworden, auch innerlich nicht, und darum stellt sich die ganze Frage sinnvollerweise nicht. Indem man den Einzelnen herausschält aus dem Großen Ganzen, arbeitet man damit nicht etwa seine wahre Identität heraus, man nimmt sie ihm. Es ist für viele nicht leicht, dieses Verwobenseins jedes Einzelnen in das Weltall wirklich innezuwerden; das verstehende Bewusstsein der meisten scheint außerstande, ein anderes Bezugszentrum als das Ich zu realisieren. Denen möchte ich empfehlen, das Buch über das Schicksal und den Zufall von Wilhelm von Scholz in die Hand zu nehmen und das kurze grundsätzliche Kapitel desselben zu meditieren. Scholz zeigt dort, dass das Menschenleben so verläuft, als werde der Mensch geträumt — nicht, als träume er selber; als wirke ein Subjekt höherer Ordnung Ich und Welt, Inneres und Äußeres, Notwendiges und Zufälliges zu einem einheitlichen Teppichmuster zusammen, als setze es dem Ich gegenüber völlig zufällig erscheinende Motive und Momente ein, wo der Einzelne mit seiner Initiative nicht weiterkommt oder aus Trägheit und Feigheit versagt. Das geplante Muster werde auf alle Fälle gewirkt, aber es würden je nach den Umständen verschiedene Fäden dazu benutzt. Dieses Bild entspricht genau den Tatsachen. Es entspricht ihnen besonders auch insofern, als der Traum einen rein subjektiven Zustand darstellt, innerhalb dessen in jeder Traumgestalt letztlich der gleiche Träumer selber lebt.

Aber wie ist nun der Prozess der Selbstverwirklichung vom letztgegebenen Bilde her zu verstehen? Nun, je mehr eine Sondergestalt im Sinne des transsubjektiven Träumers handelt, von welchem sie geträumt wird, desto mehr verschmilzt ihr Subjekt mit demjenigen dieses; desto mehr bedeutet und leistet ihre Eigeninitiative. Die Verbindung von der geträumten Gestalt zum transzendenten Träumer schafft das Selbst. Je entwickelter dieses, desto mächtiger wird es, desto mehr passen sich alle Ereignisse der Sonderheit des Eigenen an, wie der Handschuh der Hand; desto seltener passiert ihm, was er von sich aus nicht getan oder herbeigeführt hätte. Den Höchstfall verkörpern jene Meister, deren Leben in Form schlichter Begebenheiten des Alltags dargestellt werden kann, weil deren jede in ihrem Fall ein vollkommener Ausdruck ihrer und ihrer allein ist. Solche Menschen sind sozusagen nicht Objekte, sondern Subjekte ihres Horoskops. Darum können sie zu Grundlagen und Richtunggebern ganzer Zeitalter werden. Sie tun es, indem sie bestimmte Konstellationen, Konfigurationen und Grundrichtungen für die ganze Gemeinsamkeit, welcher sie zugehören, festlegen. Das ist der Sinn der verschiedenen Ären und Kulturkreise, deren Grenzen in die Augen springen.

Das Wesentliche ist nun, dass die Welt, welche also vom Einzelnen erobert wird, allemal auf dem paradoxalen Wege erobert worden ist, dass ein großer Geist ausschließlich seiner Selbstverwirklichung lebte und diese auch erreichte; denn auch der Eroberer von Erdreichen, welcher nicht blinden Naturgewalten einen Körper gibt, meint dabei in erster und letzter Linie Selbstverwirklichung. Damit erweist sich diese, ja deren bloße Möglichkeit buchstäblich als Angel der Welt. In Abgeschiedenheit wiesen wir bereits auf die ungeheuren Kräfte hin, die in ganz tief Verinnerlichten frei werden und aus ihnen ausströmen. An dieser Stelle ahnen wir deren Möglichkeit und Sinn. Doch hiervon nicht mehr: in dieser Studie betrachten wir die großen Lebensprobleme in anderer Blickrichtung, als die es ist, welche die Behandlung der letztberührten Phänomene fordert. Und da gelangen wir vom bisher Erkannten her zur folgenden Endfassung des Zusammenhangs von Selbstverwirklichung und Schicksalserfüllung. Wir sahen es schon in Gemeinsamkeit: sein Schicksal bejahen muss jeder, der im Leben nicht scheitern oder Selbstmord üben will. Doch der Mensch vermag mehr, als bloß sein Schicksal zu bejahen: er kann es buchstäblich erobern. Er kann es tun, indem er allem und jedem, was er hinnehmen muss, einen rein persönlichen Sinn erteilt. Das nun ist in bezug auf alle Tatbestände der Welt genau so möglich, und zwar genau im gleichen Sinn, wie der Denkende und Redende mittels der gleichen fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets und unverändert übernommener, von jedermann gebrauchter Worte nie früher gedachte Gedanken aussprechen kann. Allemal hängt es vom fraglichen Subjekte und nicht vom Nicht-Ich ab, was sie ihm bedeuten. Hier erscheint die Freiheit des Einzelnen unbedingt. Der Eine mag über eine Krankheit nur wehklagen, der Andere an ihr wachsen: offenbar hängt das nicht von der Krankheit als solcher ab. So lehrt die altorientalische Weisheit: alles steht in der Hand Gottes, nur nicht die Gottesfurcht. In diesem Sinne ist keine kosmische Katastrophe denkbar, die ihren für das Selbst letztentscheidenden Sinn nicht von diesem erhielte — übernimmt es die Bedeutung von anderen, so dankt es freiwillig ab. Aus der Bedeutung aber, welche der Mensch heute anerkennt, entstehen alle Tatsachen von morgen, so dass eine Eroberung sogar des ungeheuersten Schicksals tatsächlich und buchstäblich möglich ist.

Doch mit dem hier behandelten Aspekt des Problems des Verhältnisses von Selbstverwirklichung und Schicksal hängt noch ein anderer nahe zusammen, welcher nicht unbeachtet bleiben darf, weil sich von ihm erst mit letzter Deutlichkeit erweist, wie innig das einsam-einzige Selbst und das Weltall zusammenhängen. Alles schöpferisch-lebendige Geschehen verläuft gemäß dem Schema der Polarisation. Was polare Beziehung überhaupt heißt, brauche ich nicht näher auseinanderzusetzen — jeder weiß es oder könnte es doch wissen von den zwei Brennpunkten einer Ellipse, welche zusammen ein einheitliches Kraftfeld beherrschen, von den Phänomenen der positiven und negativen Elektrizität her, deren Korrelation so innig ist, dass die eine die andere automatisch zur Wirkung beschwört, sowie der gegenseitigen Ergänzung der Geschlechter nicht nur auf der physischen, sondern auch auf der seelischen und geistigen Ebene. Was aber genau so erwiesenermaßen im gleichen Sinn polaren Charakter trägt, doch nicht von vielen so gesehen wird, ist der Zusammenhang von Ethos und Pathos, von Erfahrung und Initiative, von dem, was von außen an einen herantritt, und dem, was von innen hervorbricht. Auch hier bedingt nicht allein der eine Pol den Charakter des Gegenpols, der eine ruft den anderen ins Leben und schafft ihn damit. Auf dem Gebiete der Elektrizität und des Magnetismus erfolgt diese gegenseitige Beschwörung automatisch. Unwillkürlich beschwört und steigert die Frau im Manne, der sich mit ihr polarisiert, seine Männlichkeit und umgekehrt. Genau gleichsinnig nun beschwört auch der Widerstand und die Widerwärtigkeit die Eigeninitiative, und ganz allgemein die Welt das Selbst. Sie tut es, gerade weil und insofern sie nicht die Vollendung des Einzelnen zum Ziel hat, wie dies auf Grund falscher Deutung oft richtig beobachteter Tatbestände jede anthropozentrische Heilslehre gewähnt hat. Der Weltprozess läuft Karmagemäß ab, ohne jede Hin- noch Rücksicht auf den nach Selbstverwirklichung Strebenden. Aber gerade diese Nichtbeachtung reizt dessen Initiative. Nun drängt sie zur Durchdringung oder Einverleibung und damit Eroberung der Welt. Indem der Mensch sich aber dergestalt mit seiner ganzen Intensität von seinem tiefsten Inneren her auf Äußeres konzentriert, erwächst das Selbst von innen heraus zu immer größerer Macht. Bald erweist sich dieses Wachstum als das Wesentliche und ursprünglich Gemeinte am ganzen Vorgang. Damit aber erweist sich der Sinn dieses Erdendaseins wirklich als der eines Umweges um die Welt.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Selbstverwirklichung
© 1998- Schule des Rades
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