Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Schweigen und Stillhalten

Rhythmisches und skandiertes Schweigen

Auf der Tagung der Schule der Weisheit zu Sitges bei Barcelona im Winter 1934 improvisierte ich eines Abends einen kurzen Vortrag über das Thema Rhythmisches und skandiertes Schweigen. Bei solchem Schweigen handle es sich, so führte ich ungefähr aus, in allen seinen Aspekten grundsätzlich um Gleiches wie bei der dichterischen Formung; auch ein Gedicht unterscheide sich von formloser Rede wesentlich dadurch, dass vieles nicht gesagt wird, dass Rhythmus und Versmaß ein positives Nicht-Sein schaffen, welches Negativ das eigentliche Ausdrucksmittel des sonderlichen Positivs der Dichtung sei. Schweigen und Warten ziehen, in der Tat, heran und heraus, während die Rede den Sonder-Sinn, welchen ein Individuum meint, aufdrängt und Ungeduld den Anspruch einschließt, dass man mit dem freien Willen oder dem Sonder-Tempo des Nicht-Ich nicht zu rechnen brauche. Nun lebt Geist ausschließlich in der Dimension des freien Willens und der frei schaffenden Einbildungskraft. Es ist ganz unmöglich, Geist zu zwingen, ohne ihn zu schwächen und auf die Dauer aus der Welt zu schaffen; es ist schon gar unmöglich, das Geist-Wesen im Guten zu zwingen oder auch nur suggestiv zu beeinflussen. Man kann es nur wecken, indem man die Freiheit des anderen durch das rechte Wort wachruft. Darum war kein geistiger (im Unterschied vom politischen) Führer jemals Zwingherr, nie wollte er überreden. Überzeugte er, so tat er’s, indem er frei-stellte und frei-machte; nämlich die eigene persönliche Wahrheit des anderen. Es gibt nicht eine Äußerung substantiellen Geistes, welche nicht den Normen gehorchte, die es dem Welterlöser unmöglich machten, dem Schächer am Kreuz, der sich vor ihm verschloss, die Tore des Himmels zu öffnen. Überall hier ist das Freiwillige, nicht das Wahre oder das Richtige, das Entscheidende. Geistig Richtiges oder Gutes gezwungenermaßen tun, fördert das Geistwesen weniger, als freiwillig zu irren und zu sündigen. Deswegen ist es schon schwer, feste geistige Richtlinien allgemeinster Art zu geben. Seien diese noch so richtig gezogen: wirken sie im allermindesten zwingend, dann verführen und versklaven sie. Grundsätzlich kann man überhaupt nur auf eine Weise in positivem Sinne Richtung geben: auf die gleiche Weise, wie der Dichter seinen Sinn durch Rhythmus und Versmaß gleichsam kanalisiert, so dass nun auch andere Wasser ihrem freien Gefälle folgend in der gleichen Richtung strömen können. Nun besteht aber alles dichterische Fassen mehr im Auslassen und Ausschließen als im Sagen. Insofern entspricht alle echte Geistwirkung mehr dem Sinn des Schweigens als dem Sinn der Rede. Insofern wirkt jeder Sagende am meisten durch das, was er nicht sagt — wovon die Anregung, zwischen den Zeilen zu lesen, nur einen geringen Sonderaspekt bedeutet. Insofern gibt es auf geistigem Gebiete überhaupt nichts geistig Höheres als Anregung — sobald vollständig ausgeführt wird, hat die Möglichkeit freien Fortphantasierens und damit -schaffens aufgehört und Mechanisierung und damit Geisttötung eingesetzt.

Hier meinte ich durchaus positives Schweigen, also ein wesentlich anderes als das, dessen Sinn sich in der Negation erschöpft und dessen Urbild das Vergessen darstellt. Es ist das beredte Schweigen, das eine Absicht besser ausdrückt, als dies Worte vermöchten. Wenn Frauen, deren Kunst im rechten Warten-Lassen so groß ist, zu einem Stelldichein verspätet erscheinen oder gerade auf die Stellen eines Briefes nicht eingehen, welche Beantwortung heischten, so tun sie es nicht zwecks Entmutigung ihres Partners, sondern im Gegenteil, um bestimmte Gefühle zu wecken oder zu steigern. Wenn Buddha und Konfuzius auf bestimmte Fragen keine Antwort gaben, dann taten sie es, um in ihren Schülern in genau vorhergesehener Richtung eine Konzentrierung aller Kräfte auf Selbstverstehen hervorzurufen, die eine positive Antwort nicht bewirkt hätte. Wenn ein indischer Guru einem Chela, der auf baldige Erleuchtung rechnete, noch fünfzig Jahre ununterbrochener Askese als Mindestwartezeit in Aussicht stellte, so war dies, um jenen Zustand gespannter Geduld in seiner Seele einzuleiten, deren es bedarf, auf dass organische Prozesse normal und dabei so schnell als irgend möglich ausreifen; eben darum berichten einige Varianten dieser Legende, dass die Erleuchtung augenblicklich eintrat, wenn einmal die bloße Bereitschaft zu langem Warten da war. Die erwiesene Wirksamkeit solcher Methoden, von denen es unzählige Abarten gibt, beruht nun darauf, dass es sich hier um kein amorphes Schweigen, kein Schweigen im Rohstoff-Zustand gleichsam handelt, sondern um eben das, was wir oben skandiertes und rhythmisches Schweigen hießen; formal geurteilt, handelt es sich wirklich um Gleiches wie beim Vers, wo Stillstand, Aufhören, Intervall und Nicht-Gesagt-Sein rein positive Bedeutung haben und im Zusammenhang eine notwendige bestimmte Rolle spielen. Um Gleiches handelt es sich noch bei der Interpunktion: ein wie großer Schriftsteller Frankreichs berühmtester Philosoph der letzten Zeit war, wurde mir nie deutlicher als an dem Tag, da er auf meine Frage, ob er seine ersten Niederschriften erheblich ändere, erwiderte: Ja, manchmal ändere ich die Worte, nie jedoch die Kommas. Betrachten wir nunmehr den gleichen Tatbestand nicht in seinem formellen, sondern in seinem substantiellen Aspekt, so gelangen wir zur folgenden Einsicht. Das wirksame Schweigen ist dasjenige, welches höchste Empfänglichkeit einerseits fordert, andererseits schafft. Die Stimme des Schweigens, so lehren alle großen Mystiker, vernimmt nur, wer auf das, was äußerlich beurteilt, vollkommen leer ist, dauerhaft seine höchstgespannte Aufmerksamkeit richtet. Andererseits ist die Schaffung der Leere im Oberflächen-Bewusstsein unerlässlich, wenn sich die Kräfte der Tiefe offenbaren sollen. Die hiermit kurz begründete Notwendigkeit schweigender Einkehr ist von den großen Technikern der Meditation in eine richtige Kunstpraxis transponiert worden. Das diskursive Denken wird gestillt, rhythmische Wiederholungen, skandierte Invokationen, Kontraste in der inneren Einstellung, welche Kontrapunkten in der Musik gleichen, erhalten die Aufmerksamkeit wach und weisen ihr die Richtung. Letztendlich verkörpert sich in der weit offenen Seele des Meditanden ein neues Subjekt.

Von letzterem Satze aus finden wir ohne weiteres den Übergang zum allgemeinen Problem. Betrachten wir dieses zunächst in der Verkörperung eines besonders eindringlich einleuchtenden historischen Geschehens. Zur Zeit der lärmendsten und schaufreudigsten Epoche der Antike übte die unterirdische Heimlichkeit der Katakomben auf die Kollektivität eine ähnliche Evokationskraft aus, wie die innere Leere und Stille auf den einzelnen Meditanden. Auch damals fand die Urspannung ihre Lösung darin, dass sich ein neues Subjekt dem Geschichtsprozesse einverleibte: dasjenige des Christus. Die vorhandene Spannung erwies sich damit als eine produktive Spannung, gleich der zwischen den Geschlechtern. In der Tat war das Wesentliche der Beziehung zwischen dem jubelnd vergreisenden Heidentum und dem sein Leben bekümmerten Antlitzes beginnenden Christentum — der Gesichtsausdruck alles Neugeborenen ist ernst und gramvoll — nicht die Ablehnung des Römerlebens seitens der ersten Christen und nicht die gelegentliche, im ganzen seltene, sporadische Christenverfolgung durch den heidnischen Staat. Die Dinge lagen vielmehr so: in der dunklen Stille der Katakomben wuchs eben das heran, was die Caesaren von weiteren Triumphen am hellen lichten Tag des öffentlich-imperialen Geists erwarteten. Und indem der Staat nur unsichtbares Christenleben duldete, förderte er es. Alles keimende Leben bedarf der dunklen Stille zur Entfaltung. So wuchs der Christengeist, gerade weil seine Auswirkung aufgehalten wurde, unaufhaltsam. Zuletzt war er es, der das Imperium Romanum zusammenhielt. Doch dieses musste schließlich zerfallen, denn der frühchristliche Geist war mit dem spätantiken gar zu inkompatibel. Dafür blühten die europäischen Völker nach gebührender Inkubationszeit im Rahmen der christlich-mittelalterlichen Kultur zu neuer Herrlichkeit auf. So erfolgte vom ursprünglichen Katakomben-Pole her eine Wiedergeburt dessen, was in der antiken Welt vom Forum ausgegangen war. Nunmehr lebte das heidnisch-Weltgewaltige in der Verdrängung fort, um erst mit der Renaissance zu erwachen und erst nahe der Mitte des XX. Jahrhunderts in der Tageshelle neubestimmend zu werden.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Schweigen und Stillhalten
© 1998- Schule des Rades
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