Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Schweigen und Stillhalten

Sammlung und Konzentration

Die Frage des Verhältnisses des Leistungs- zum Schaffensbegriff ist so grundlegend wichtig, dass wir uns ihr, ehe wir in der Behandlung des eigentlichen Gegenstandes dieser Betrachtung weitergehen, noch etwas eingehender zuwenden müssen. Implicite sagten wir es schon: auf der Ebene echten Geistes hat das Leistungsprinzip grundsätzlich keine Gültigkeit. Selbstverständlich ist jede Geistestat auch Leistung und kann als solche im Zusammenhang mit anderen gewertet werden. Aber nie kann sie aus Leistungsstreben hervorgehen, und nie vor allem wirkt sie Geist-gemäß als Leistung. Geist — gemäß wirkt sie ausschließlich als rein geistgegründetes Sein, durch unbefangene, absichtslose und unwillkürliche Ausstrahlung dieses. Eben darum ist jede echte Geistestat ohne Zweckbewusstsein entstanden. Dies gilt sogar von der Staatsschöpfung: keiner, dem die Verwirklichung seiner Idee nicht mehr galt als alle Nützlichkeitserwägung, hat jemals dauerhafte Staaten gegründet. So steht es denn mit der Verausgabung, auf welchem Gebiete immer, nicht anders wie mit der des Reichtums. Hiermit rede ich mitnichten dem Geize das Wort, und nicht einmal dem Sparen. Vorhandener Reichtum soll produktiv ausgegeben werden, hierin liegt sein ganzer Sinn und Zweck. Doch das ändert nichts daran, dass die Verausgabung anderes bedeutet als Wachstum; und dass dort, wo es kein stilles Wachstum gibt, wo dessen sonderliche Gesetze nicht anerkannt und berücksichtigt werden, das Ende nahe ist.

Vielleicht ist während der letzten Sätze einigen meiner Leser die Analogie der Polarität Verausgabung-Wachstum mit der Polarität Mann-Weib ein- und aufgefallen. Freilich besteht Analogie, nicht jedoch Identität. Auf der Ebene des körperlichen Lebens macht es nichts aus, wenn alle Männer kämpfen und die meisten fallen, wenn nur die Weiber am Leben bleiben, nachdem sie befruchtet wurden oder Frucht austragen konnten. Aber im Menschen als geistigem und seelischem Wesen sind immer beide Pole lebendig, und es ist nie so, dass sich einer rein als Mann oder rein als Weib spezialisieren könnte. Nur-weibliches Stillhalten und Aufnehmen und Austragen macht Weltmeisterung unmöglich; solches Menschentum kann nur geschützt gedeihen und ist allzu leicht überwältigt. Immerhin dauert es, denn, wie die chinesische Weisheit lehrt: das Weiche ist auf die Dauer immer stärker als das Harte. Nur-männlicher Aktivismus nun ist direkt lebensgefährlich, denn er sterilisiert. Es ist nicht so, dass auf ununterbrochene Verausgabung eingestelltes Leben, sei es in Form des Kampfes oder der Leistung oder der Arbeit oder des Sports oder ganz allgemein im Sinne dessen, dass keine Zeit verloren werden darf, einfach Ausdruck des ewig zeugungsfähigen männlichen Prinzipes sei. Das männliche Prinzip ist nämlich wesentlich nicht unbegrenzt zeugungsfähig; das Männliche ist in der ganzen Natur zugleich das Sterbliche und Todgeweihte. Eben darum ist Sterben und Töten im Kriege Sinn-gemäß. Jeder Zeugungsakt ist seinem Wesen nach ein Augenblickliches und Einmaliges, nicht unbegrenzt Wiederholbares, auch vom Standpunkt des Empfangenden nicht, denn nach erfolgter Empfängnis ist Weiterzeugung sinnlos. Ich will mich hier nicht in Einzelheiten verlieren, auf welche jeder von selber kommen wird. Das Grundsätzliche, auf welches es ankommt, ist dies: ein Leben des ununterbrochenen Einsatzes wird schicksalsmäßig, zwangsläufig, unabwendbar auf die Dauer zu vollkommenem Leerlauf, denn nur das Mitwirken des Stillhalte-Pols selbst im allermännlichsten Manne erhält diesen schöpferisch. Hier denn fassen wir den wahren Sinn dessen, warum Mechanisierung verhängnisvoll ist. Alle Aktivität, diejenige des Denkens inbegriffen, folgt, obschon sie organischen Ursprungs ist, in ihrer Auswirkung mechanischen Gesetzen. Beim eigentlichen Organischen nun liegt der ganze Nachdruck auf dem Aufbau und Wachstum; der hierzu korrelative Zerstörungsprozess macht nur die Bahn frei, indem er das Abfallende aus dem Wege räumt. Insofern durfte ich in den Meditationen schreiben, dass im Anfang nicht der Mann war, sondern das Weib. So ist ein Organismus genau nur insoweit lebendig, als das Wachsende in ihm das mechanisch Ablaufende überwiegt; was auf geistigem Gebiet bedeutet: wenn Inspiration und Einfall mehr bedeuten als Denken; und auf allen Gebieten: wenn Konzeption und Geborenwerden in der ganzen Lebensgestaltung mehr bedeuten als Ausführung. Die moderne Maschinen-Zivilisation nun, die ihren bisherigen Höhepunkt in den Vereinigten Staaten Nordamerikas gefunden hat, legt den ganzen Nachdruck auf das Mechanische im Leben, auf Planung, Ordnung, Standardisierung, Normalisierung und Tempo. Die Folgen treten schon nach kurzen fünfzig Jahren zutage: den Amerikanern fällt — wir wiesen schon in unserer Betrachtung über Leidenschaft und Tat darauf hin — von Jahr zu Jahr weniger ein, sie werden immer unvitaler, müder; ihr Körper wird unaufhaltsam ebenso steril wie ihr Geist; sie sammeln Wissen, wie Ameisen Fichtennadeln sammeln, verstehen immer weniger; für das Irrationale, das Dunkle, Tiefe, Wesenhafte fehlt ihnen immer mehr jedes Organ. Geht dieser Prozess im gleichen Tempo weiter und wandert kein frisches Blut mehr zu, dann wird die Schicht der Bewohner Nordamerikas, die das skizzierte Schicksal erlitten hat, in weniger als einem Jahrhundert ausgestorben sein, wenn nicht den Tatsachen, dann doch sicher der Bedeutung nach.

Von hier aus erscheint ohne weitere Erörterung vollkommen klar, was und wieviel dem Täter Sammlung bedeutet. Jeder große Staatsmann oder Heerführer hat sich still für sich gesammelt, bevor er endgültige Entschlüsse fasste oder an deren Ausführung ging. In welcher Form er es tat, ob meditierend, betend, schlafend (man gedenke des Begriffs Überschlafen), ruhend oder einfach ausspannend, unter Umständen in Form größter Ausgelassenheit im Unterschiede von Gelassenheit, bleibt sich in diesem Zusammenhange gleich. Worauf es hier ankommt, ist die Akkumulierung, d. h. die Sammlung der Kräfte. Diese nun bedeutet Konzentration, Konzentration erzeugt von sich aus Spannung, und aus der Spannung entstehen neue Energien und werden neue Wunsch- und Geisteskinder geboren. Näheres über die letztberührten Problemkreise wird der Leser in unseren der Meditation und der Offenbarung gewidmeten Betrachtungen finden. Worauf es im vorliegenden Abschnitt ankommt, welcher mit einer Reflexion über die Tugend der Muße anhub, ist dies: das äußere Nichts-Tun, und dies zwar nicht allein in Form der Sammlung, sondern gerade auch der Entspannung, ja der Ausgelassenheit, schafft die beste Atmosphäre für das innere Wachstum des Menschen sowie für das Wachstum des Werkes in ihm. Das meint der Spruch der chinesischen Urweisheit: Beschäftige dich mit Nichtstun, dann werden alle Dinge zu dir kommen. Diese Erkenntnis erledigt denn ein für alle Male jeden Wert-Anspruch rastlos-ununterbrochener Beschäftigtheit. Beschäftigtheit als solche hat überhaupt keinen geistigen Wert, es halten es nur die meisten ohne sie nicht aus; sie sind zu oberflächlich, um stillhalten und in sich hinein lauschen zu können, wenn sie nicht sinnvoll tätig sind. Beschäftigung als solche ist — wenn man von möglichem äußeren Nutzen absieht — immer nur Zeitvertreib durch Leerlauf. Die Inder vergleichen das rastlose Spiel der unwillkürlich sich bildenden und einander ablösenden Vorstellungen mit dem Gebaren eines betrunkenen Affen und machen allen inneren Fortschritt davon abhängig, dass der Geist zunächst einmal diese Bewegtheit stillen lerne. Aber das unwillkürliche Spiel der Vorstellungen strengt wenigstens nicht an und mittels ihrer immer erneuten Assoziationen und Dissoziationen bilden sich im Geiste neue Gestaltungen. So hat der Dichter nichts Angelegentlicheres zu tun, als sich dem betrunkenen Affen hinzugeben. Was wirklich schädigt, ist sinnlose Beschäftigtheit, denn solche hindert das selbständige, vom Bewusstsein unabhängige Werden. Sie ist es, welche der Schöpfer, zumal vor großen Entscheidungen, vermeiden muss. Wie wir es schon sagten: jede wichtige Entscheidung fällt jenseits der bloßen Beschäftigungsmöglichkeit.

Erkennt man von hier aus nicht mit letzter Deutlichkeit, warum das missverstandene abendländische Arbeitsethos immer schlimmere, immer entsetzlichere Folgeerscheinungen für Geist und Seele zeitigt? Geht uns von hier aus nicht blitzartig auf, warum Amerika wesentlich unschöpferisch ist, warum die der dortigen Familien, die schon auf mehrere Generationen der Überbeschäftigung zurückblicken, unaufhaltsam aussterben, und warum die Geschlechter des Ostens unvergleichbar viel langlebiger sind als die des Westens? Denn bei uns gibt es nicht nur wenige über das Jahr Tausend zurückreichende Abstammungsurkunden, unsere Geschlechter sind wirklich viel jünger als die des Morgenlandes, weil bei uns alle männlichen Linien nicht nur früh, sondern vorzeitig ausstarben. Das galt für den Abendländer wegen seines ihm angeborenen Aktivismus schon lange vor der Zeit, da er sich zum rücksichtslosen Arbeitsethos bekannte. Was kann nun erst werden? Heute noch leben die Nachkommen des Konfuzius, der beinahe sagenhaften ersten Beherrscher Japans, diejenigen Dschingis Khans, von den zahlreichen Nachkommen des Propheten Mohammed zu schweigen, in ungeschwächter Lebenskraft fort. Auf der Halbinsel Asiens, welche wir bewohnen, kenne ich überhaupt nur eine dem Alter nach mit asiatischen Geschlechtern vergleichbare Dynastie: die der kaukasischen Fürsten Bagration, welche nachweislich in direkter Linie von König Mithridates von Pontus abstammen und bis in die Mitte des XIX. Jahrhunderts, wo der damalige russische Zar sie mediatisierte, weil ein Bagration, in welchen sich eine Kaiserstochter verliebt hatte, zu hochmütig war, um eine bloße Romanow zu heiraten, ununterbrochen irgendwo regiert hatten.

Ich glaube auf dem ganzen Gebiete dieser Fragen besonders gut Bescheid zu wissen, da die Paradoxie meiner Anlage es so will, dass mein Temperament mich zu rastloser und intensivster Betätigung drängt und alles Wesentliche in mir in solchen Zeiten geworden ist, in denen ich, oft zum größten eigenen Unbehagen, gar nichts tat. Denn da ich über kein bestimmtes Können verfüge, dem ich mich routinemäßig widmen könnte, keine Liebhabereien, keine Steckenpferde habe und Gesellschaftsspiele jeder Art verabscheue, so kann ich mich überhaupt nicht beschäftigen. Entweder also ich arbeite schöpferisch, wozu ich auch meine Sonderart zu lesen rechne, oder aber ich halte vollkommen still. Bin ich nun aus äußeren Gründen nicht in der Lage, lange Zeit hindurch vorhandenen Tatendrang zu befriedigen, dann sammeln und ballen sich nicht allein alle Energien in mir, es finden psychochemische Umsätze so tiefgreifender Art in mir statt, dass ich durch Verhindertsein am Schaffen mehrfach schneller und besser erreicht habe, was ich durch rastloses Arbeiten bestenfalls hätte erreichen können. Dies gilt bei mir sogar in technischer Hinsicht: mir hat Üben nie viel genützt. War etwas noch unreif in mir, so konnte es sich gar nicht ausdrücken; versuchte ich es zu erzwingen, so wurde ich krank daran. Kaum war indes das bisher nur Geahnte und Erhoffte reif, dann ging auch das zum Ausdruck erforderliche Technische spielend leicht vonstatten, sogar wenn, wie beim Klavierspiel, Fingerfertigkeit in Frage stand. In der Zwischenzeit zwischen Konzeption und erster Antizipation (vgl. den zweiten Teil unserer Betrachtung über Selbstverwirklichung) habe ich an Arbeit allenfalls dieses eine getan, dass ich mich wieder und wieder in der Stimmung von Erwartung und Bereitschaft in mich oder in das Außer-Mir, das ich verstehen wollte, versenkte und durch Akzentuierung und Betonung die mit dem Werdenden in mir zusammenhängenden geistigseelischen Vorgänge vitalisierte. In rhythmischen Abständen aber setzte ich längere Zeit über mit aller Anstrengung und Konzentration ganz aus. Und wenn ich mich dem, was mich im Unbewussten bewegte, dann wieder zuwandte, erlebte ich es jedesmal, dass gerade während des Aussetzens mit aller Arbeit ganz von selbst mehr geschehen war, als irgendein Üben je bewirkt hätte. Von Jugend auf habe ich zu wenig geschlafen, und das machte natürlich meinen Körper öfters müde. Später lernte ich, Schlaf durch vollständiges Stillhalten, Ausschalten aller Bilder und bewusste Entspannung in hohem Grade zu ersetzen. Kaum aber hatte ich dieses gelernt, da entdeckte ich, dass die gleiche Technik wie keine andere mein inneres Wachstum und das Wachsen in mir begünstigte und beschleunigte. Ich brauche also nicht einmal Bestimmtes zu meditieren, auf dass es reife! Seither bin ich für meine Person beinahe ganz zur Meditationsart der Taoisten, welche vor allem die Leere in sich herstellen, bekehrt und mehr noch zu derjenigen des Zen, welche Realisierung des Nichts fordert als Weg zum Ziel, der Fülle des Lebens teilhaftig zu werden.

Doch kehren wir, ehe wir diese Sonderbetrachtung abschließen, noch einmal zur Gefahr der modernen Übertreibung im Arbeiten zurück. Die übermechanisierte Menschenwelt rast allen Ernstes dem Tode entgegen. Und lediglich die Tatsache, dass in Wahrheit nur ein kleiner Teil des Menschengeschlechtes übermechanisiert ist und dass innerhalb dieses der biologische Naturismus mit seinem Verständnis für die Gesetze des Organischen dem mechanistischen Naturismus, welcher alles Leben an aus dem Leblosen abgezogenen Normen misst, die Waage zu halten beginnt, lässt ein wirkliches Ende der Karriere des weißen Mannes trotz allem unwahrscheinlich erscheinen. Nichtsdestoweniger kann es auf dem ganzen Erdball noch sehr schlimm werden, da Intellektualisierung und Mechanisierung nun einmal Planetenschicksal sind, wenn nicht das Schöpferische in seinem Höchstausdruck als solches bald besser verstanden und gepflegt wird. Das aber setzt voraus, dass die echten, von innen her berufenen Verkörperer echten Geistes zunächst für sich einsehen — was bisher leider die allerwenigsten tun —, dass das Leben ein polarer Vorgang ist, dass alle Einseitigkeit verderblich ist und dass das Heil einzig und allein in einem rechten Verhältnis zwischen Bewegtheit und Stillhalten, zwischen Verhalten und Aussprechen zu suchen und zu finden ist. Was auch nur ausgesprochen, nicht einmal ausgearbeitet ist, ist damit aus dem Umkreis des im Inneren Wirkenden entlassen. Im gleichen Menschen kann es in dieses nie mehr zurückbezogen werden. Es ist, wie man sagt, verredet. Es bedeutet eben eines der ungeheuerlichsten Missverständnisse aller Zeiten zu glauben, dass nur Dynamik Wert hätte und nur das Aussprechen Geist verwirkliche. Und dieses gilt nicht allein von der Verwirklichung in sich, sondern auch von seiner Übermittelung an andere. Schweigen — wir sahen es am Anfang dieser Betrachtung — kann genau so gut und unter Umständen besser und mehr Geist vermitteln als Reden. Was jeweils mehr bedeutet, das Tun oder das Lassen, das Reden oder das Schweigen, hängt von der jeweiligen Besetzung der Pole im Menscheninnern ab.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Schweigen und Stillhalten
© 1998- Schule des Rades
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