Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Schweigen und Stillhalten

Polarisation

Hiermit wären wir einmal mehr beim Problem der Polarisation, dem Urprobleme aller Schöpfung, angelangt. Einmal ausgestaltetes Leben kann sich gewiss so lange allein für sich in einer Richtung fortpflanzen, bis dass die Möglichkeiten der lebendigen Voraussetzungen, aus denen alles spätere folgte, erschöpft sind — aber irgendeinmal sind sie mitsamt den Energien, die ihnen als Verwirklichungsmittel zu Gebote standen, erschöpft, und ob ihre Verkörperer noch so sehr an unbegrenzten Fortschritt glauben. Neue Voraussetzungen nun, aus denen allein neues Leben werden kann, kommen so allein zustande, dass ein Pol seinen Gegenpol konstelliert und als Ergebnis der Spannung zwischen beiden neues Leben geboren wird. Je schärfer nun ein Pol herausgearbeitet erscheint, desto schärfere Herausarbeitung erfährt korrelativ dazu der Gegenpol. Hier denn wurzeln die ungeheuren schöpferischen Möglichkeiten dieser Zeit. Je größer die Spannung, je mächtiger das Spannungsfeld, je stärker und steiler das psychische Gefälle, desto mehr Kraft steht zur Verfügung, ein desto gewaltigerer Umsatz findet statt, desto mehr Neues kann entstehen. Damit aber erweist sich die lebendige Einstellung, die sich an den Begriffen von Satz und Gegensatz und damit Position und Opposition orientiert, als von innen her erledigt und die der ergänzenden Korrelation in einem Spannungsfelde höchsten Potentials tritt ganz von selbst an deren Stelle. Und damit erledigt sich die Grundantithese dieser Zeit, welche — freilich auf sonderliche Art — Ludwig Klages am extremsten formuliert hat: diejenige zwischen Geist und Erde, und stellt sich auch nicht mehr die Frage, für einen dieser Pole zu optieren. An sich bedeutet Oppositionsstellung des Geistes zu den Erdkräften immer ein Missverständnis, denn beide gehören ursprünglich verschiedenen Seinsebenen und -dimensionen an. Aber dort, wo Geist- und Erdkräfte auf besonderer Ebene zusammenwirken, wie dies in allen Zeiten kultureller Vollendung der Fall war, kann es freilich vorkommen, dass eine bestimmte Art Opposition fruchtbar ist: da wird nur bestimmter verkörperter Geist als Geist verstanden, und dieser mag andere Verkörperungen mit Recht bekämpfen. Heute nun steht Geist direkt und unmittelbar in Spannung zur Erde. Es fehlen alle bedeutsamen Zwischen- und Zwitterbildungen. Da bedeutet Opposition gegen Geist oder gegen die Erde offenbar ein reines Missverständnis. Da besteht auch in der geschichtlichen Erscheinung durchaus die ursprüngliche Polarität zwischen beiden, die gegenseitige Befruchtung möglich macht. Wenn sich Geist daher heute ganz und ausschließlich auf sich selbst besinnt und sich zu sich selbst bekennt, dann und dann allein gründet er sich auf der Ebene, von der aus ein so fruchtbares Zusammenarbeiten mit den Erdkräften möglich wird, wie es solches vielleicht noch niemals gab.

Die Polarität zwischen Bewegtheit und Stillhalten ist uns unmerklich mit der von Erde und Geist verschmolzen. In der Tat ist die Bewegtheit dieser Zeit rein irdischen Geblüts. Zeit kennt ausschließlich das Erdhafte, auch das Denken als solches gehört der Erdsphäre an. Daher die moderne Überbetonung und -bewertung explizierenden und mechanischen Denkens. Daher die Sucht, alle Natur zu verkünstlichen oder in Künstlichkeiten einzufangen. Daher die unverhältnismäßige Bedeutung, welche Raumerweiterung und Zeitersparnis, welche Schnelligkeit und Größe des Formats für das Bewusstsein haben. Daher die wachsende Vorliebe für Statistik und korrelativ dazu die wachsende Konzentrationsunfähigkeit. Daher die proportional der Ausbreitung abnehmende Intensität, die proportional der Artikulierung schwindende Fähigkeit zur Zusammenschau. Der Geist der meisten gescheiten Leute lebt heute so außer sich, wie er es nie früher tat. Er hat sich mit dem Erdprozesse identifiziert, ob auf der Ebene des Organischen oder des Anorganischen, indem er sich in der Vorstellung in sie hineinprojizierte, und so ist eine einzigartig artikulierte Welt entstanden — der aber immer mehr, immer drohender, die Schöpferkraft, die Tiefe und die Innerlichkeit fehlen. Hier kann auf die Dauer einer Katastrophe kosmischen Ausmaßes dadurch allein vorgebeugt werden, dass sich der Geist zu sich selber zurückwendet und durch Einstellung auf das, was sein tiefster geistiger Ursprung ist, inmitten innerer Stille neue Schöpferkräfte sammelt.

So liegt denn die wichtigste geistige Aufgabe dieser Zeit nicht in weiterer Expansion und Weltbewältigung: der materielle Fortschritt geht fortan buchstäblich auf Rädern vonstatten; aufzuhalten ist er überhaupt nicht mehr. Die Aufgabe liegt in der Rückkehr zum Ursprung. Während der Jahre 1938 und 1939 stiegen immer wieder zwei Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Das erste war das des heimkehrenden verlorenen Sohnes. Dieser wohnte herrlich und in Freuden im Schlosse seines Vaters. Jedoch es trieb ihn unaufhaltsam hinaus in die Welt, von Erfahrung zu Erfahrung. Nachdem er aber den Erdkreis durchwandert und alle nur möglichen Erfahrungen gesammelt hatte, durch Erfolg und Niederlage hindurch, da erkannte er, dass er im Aus-Sich-Hinausgehen zutiefst nach Hause strebte. Aber jetzt erst war er fähig geworden, dem Vaterhause gerecht zu werden. Das zweite Bild, welches wieder und wieder vor meinem geistigen Auge erschien, ist das des Wiederaufstiegs Luzifers. Luzifer fiel nicht aus Bosheit oder Ungehorsam oder Hochmut, sondern aus grenzenlosem Interesse an dem, was unter ihm lag. Seine ungeheure Phantasie bedingte sofortige Verwirklichung alles dessen, was sie vorstellte. So fiel er in die Unterwelt hinab, wie ein Elefant, der vom Polarstern auf die Erde abstürzend in grundlosem Lehmboden einsänke. Nun vitalisierte sein überirdischer Geist die Kräfte der Unterwelt, durch die allein er wirken konnte. Er lebte alles das aus, was er als Engel nie hätte erleben können. Aber einmal war alles durchlebt, was ihm etwas bedeuten konnte. Da erinnerte er sich denn dessen, dass er weder Teufel noch Erdwesen war — und im selben Augenblicke stieg er aus dem grundlosen Lehm wieder auf, und kaum an die Oberfläche gelangt, ward er von Gottes silbernen Geistern zum Himmel hinaufgetragen.

Diese Sinnbilder sind die unserer ganzen Zeit. Der verlorene Sohn war kein Missetäter, sondern der wahre Mensch, der vollkommen welt-offene. Und Luzifer war nicht der böse Geist, sondern die Larve des Bodhisattva. Nur wer zuerst die Hölle in sich durchlebt hat, kann seinen Himmel jemals realisieren. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes sowohl als die Himmelfahrt des gefallenen Engels vollziehen sich aber in der Stille. Nur wer sich innerlich zurückzieht aus dem Leerlauf mechanischen Geschehens, gewinnt neuen Kontakt mit dem in sich, was dem Heraustreten ursprünglich die Richtung gab und ihm andererseits einen positiven Endsinn geben kann. Nur wer nach den Höchsterfolgen des Denkers das Denken lässt, nur wer sich öffnet der großen Stille der ewigen Leere seines Seelenraums, kann und wird der Eingebungen teilhaftig werden, welche ihn weiterführen können, als der Mensch je bis heute gelangt ist.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Schweigen und Stillhalten
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME