Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Geist und Persönlichkeit

Soziale Logik

Im XIX. Jahrhundert hat Frankreich eine Reihe außerordentlicher Geister hervorgebracht, deren Originalität, Schärfe und Fülle der Intelligenz hoch über derjenigen derer stand, deren Ruhm männiglich bekannt ist — und die trotzdem nicht einmal im Bewusstsein der Zunft auch nur annähernd die Rolle gespielt haben, die ihrem geistigen Range zukommt: ich nenne Tarde, Cournot, Tocqueville, Gobineau, Tannery, Renouvier, Ravaisson; ich nenne auch Renan und Taine, obgleich beide zeitweilig sehr berühmt waren. Denn so viel diese zitiert und nicht nur seitens der Wissenschaft, sondern auch im Schrifttum überhaupt berücksichtigt werden —, von ihnen Besessene, so wie jeder Kantianer oder Hegelianer als von seinem Meister besessen gelten kann, vom echten Christen in seinem Verhältnis zu Christus zu schweigen, hat es keine gegeben. Kürzlich nun las ich denjenigen unter den aufgezählten französischen Geistern — ich könnte noch mehrere nennen, welche der gleichen Gruppe angehören — wieder, der meiner fernen Erinnerung nach der originellste und geistvollste von ihnen allen war: Gabriel Tarde. Seine Lois de l’imitation blendeten mich geradezu. Jede Seite, ja beinahe jeder Satz dieses Werkes beeindruckte mich als einer geistigen Dichte und Prägnanz teilhaftig, dass ich schon darum der Bewunderung voll war. Doch es besitzt viele andere Tugenden und Vorzüge. Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Tarde, ohne im mindesten prophetisch veranlagt zu sein, nur dank seiner unheimlichen intellektuellen Luzidität, seiner vollkommenen Kenntnis der Menschennatur sowie der sozialen Logik, unter welchem Begriffe er alles Gesetzmäßige in der Völkerentwicklung zusammenfasste, im ganzen genau so kommen, wie es gekommen ist, was sich von etwa 1920 an ereignet. Unter anderem sagte er auch das unvermeidliche Ende der Demokratie und der liberalistisch verstandenen Freiheit voraus; die gleiche unprophetische Prophetengabe — ich nenne sie unprophetisch, weil solche kaum überhaupt aus dem Unbewussten gespeist wird — hat in neuerer Zeit sonst nur Tocqueville bewiesen, der in seinem zwischen 1830 und 1850 geschriebenen Werk De la Démocratie en Amérique die ungeheure Langsamkeit der Verwirklichung dessen, was der Verstand als nächste Zukunft vorausplant (weil freilich jedes mögliche Folgende logisch unmittelbar aus dem Vorhergehenden folgt), feststellte und daraufhin hundert Jahre im voraus unheimlich genau voraussagte, wie weit die Idee der Volksherrschaft von den Voraussetzungen des XVIII. Jahrhunderts her um 1930 verwirklicht sein könnte. Doch wichtiger als jede besondere Prophetie ist bei Tarde die Aufdeckung der allgemeinen Gesetze, dank welchen Voraussage aus Verstandes- und Vernunfterkenntnis überhaupt möglich ist, und hier steht Tarde beinahe unvergleichlich da. Wie keiner vor ihm noch nach ihm hat Tarde deutlich gemacht, wie große weltanschauliche Wenden zustande kommen und warum sie fast immer blitzartig schnell verlaufen und ganze Völker in Mitleidenschaft ziehen. Deutlicher als irgendeiner vor und nach ihm hat Tarde gezeigt, dass alle Wandlung, auch wo es sich um scheinbar Äußerlichstes handelt, von innen nach außen zu verläuft, sogar im Falle der Mode. Tiefer als irgendeiner vor und nach ihm hat Tarde eingesehen, und überzeugender als alle zum Ausdruck gebracht, dass es nur einen Weg breite Schichten ergreifender soziologischer Veränderung gibt: denjenigen reiner Nachahmung, die zuerst zur Mode, alsdann zur verankerten Gewohnheit führt. So wurde die Folter nach Neuentdeckung des römischen Rechts durch Bologneser Gelehrte von beinahe ganz Europa so übernommen, wie Damenhutmoden übernommen werden; genau gleiches galt einige Jahrhunderte später von der an sich absurden englischen Einrichtung des Geschworenengerichts, von der Ausstrahlung der Französischen Revolution (und späterer) zu schweigen. Dass es sich hier tatsächlich um die Fortpflanzung bestimmter Ansteckung von einem Herde aus handelt, beweist vielleicht schlagender als alles andere die gleichfalls von Tarde zuerst hervorgehobene Sonderheit der romanischen Sprachen, als welche sämtlich die gleichen Abweichungen vom Lateinischen in Grammatik, Syntax und Wortumbildung aufweisen, was unmöglich selbständig von verschiedenen Zentren her erfolgt sein kann und nur durch einer Herdinfektion Vergleichbares erklärlich ist. Was beim Bazillus die Virulenz ist, bedeutet hier das irrationale Prestige. Gerade die Grundphänomene unserer Zeit, insonderheit die Werbekraft des Bolschewismus, sind allein von Tardes Voraussetzungen her zu verstehen, denn die sogenannten Erklärungen der Tiefenpsychologie machen nichts wirklich verständlich, sie stellen nur die relative Gesetzmäßigkeit bestimmter Abläufe und Umsätze im Unbewussten fest, welche, eben weil es sich um Geschehnisse im Unbewussten handelt, für welche das Bewusstsein sozusagen keine Organe hat, keiner intellektuellen Assimilierung fähig sind. Und trotzdem: zu keiner Zeit hat Tarde einen großen Namen gehabt. Viele seiner frühesten Einsichten segeln heute unter fremder Flagge, am häufigsten unter derjenigen des geistig viel unbedeutenderen Gustave Le Bon, und die vielleicht wichtigsten sind bisher überhaupt kaum aufgegriffen worden.

Nachdem ich Tarde wiedergelesen hatte, packte mich zuerst tiefer Unmut über die große Ungerechtigkeit, die ihm seitens der Mit- und Nachwelt widerfahren ist. Dann aber fiel mir ein und auf, dass kein mir bekannter Franzose, welcher noch persönliche Eindrücke von Tarde gewonnen hatte — und ich kannte deren in meiner Jugend mehrere —, von ihm als einem großen oder auch nur bedeutenden Mann gesprochen hatte. Und bald war ich in der Lage, in bezug auf die Kategorie von Geistern, die ich hier meine, zu verallgemeinern. Tarde und seinesgleichen waren nicht als personale Substanzen bedeutend. Dagegen war Gustave Le Bon zwar ein ordinärer Kerl ohne metaphysische Tiefe und ohne jeden ästhetischen Charme, eine im ganzen lächerliche Figur in der Art des Tartarin de Tarascon, trotzdem jedoch eine geistige Persönlichkeit, an welcher vorbeizugehen unmöglich war und an welcher auch kein europäisches Volk, welches mit der sozialen Frage rang, vorbeigegangen ist. (Ich erinnere mich, wie der ehemalige Kaiserlich russische Außenminister Iswolski, damals Botschafter in Paris, mir erzählte, die antisozialistische Politik seiner Regierung sei ganz von Le Bons Schriften inspiriert gewesen.) Wie mir dieses klar wurde, da ahnte ich deutlicher als jemals früher die ausschlaggebende Bedeutung der Persönlichkeit.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Geist und Persönlichkeit
© 1998- Schule des Rades
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