Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Inspiration und Erziehung

Spermatische Geister

Nun ist aber andererseits wahr, dass Erziehung nur zu leicht und zu oft entweder das Schöpferische an der Entfaltung hindert, oder es aber an jeder Anregung zu solcher fehlen lässt. Damit gelangen wir zum Gegenpole der Erziehung: zu dem, was ich in der Überschrift Inspiration hieß.

Dass es sich hier um den Gegenpol und nicht etwa das Ideal der Erziehung handelt, ergibt sich seinerseits unmittelbar aus der kurzen prinzipiellen Erwägung, welche wir anfangs anstellten. Erzogen, d. h. entfaltet, gebildet, dem allgemeinen Rhythmus des Lebens eingefügt werden kann nur Vorhandenes, bereits Geborenes. Inspirieren dagegen bedeutet, die Entstehung neuen Lebens anregen. Mit anderen Worten: wenn Erziehen dem Austragen des schon gekeimten Lebens entspricht, so entspricht das Inspirieren der Befruchtung. Und Befruchtung ist überall unentbehrlich, wo es Erneuerung gilt. Wo die Geschlechter einmal auseinandertraten, gibt es keine Parthenogenese mehr.

Hiermit hielten wir zunächst die psychologische Ursache des Phänomens, warum von jeher immer wieder im Namen des Schöpferischen gegen die Erziehung angerannt wird. Das weibliche Prinzip, als dasjenige des Beharrens, der Wiederholung und insofern der Routine, demgegenüber der ebenfalls urweibliche Hang zum caprice nicht mehr bedeutet wie ein capriccio innerhalb einer als Ganzes ernsten und getragenen Komposition, kann Gutes dort allein leisten, wo Befruchtung stattgefunden hat. Hat der schöpferische Impuls, der eine Gestaltung ins Leben rief, aus irgendeinem Grunde sein natürliches Ende erreicht, dann kann Erziehung nur im Sinn von toter Routine wirken. Und dies zwar steigend proportional der Länge der Zeit, die seit der höchsten Erfüllung einer Entwicklungsmöglichkeit verstrich, oder aber proportional dem erreichten Grade der Vollendung. Was den zweiten Fall betrifft, so erklärt das Letztgesagte, wie auf die italienische Renaissance ein so steiler Abfall folgen konnte, und zwar noch zu Lebzeiten Michelangelos. Was erstere Möglichkeit betrifft, so illustriert diese jeder starre Formalismus, jeder Klassizismus, welcher auf Klassik folgte; man denke an das Starre des späteren Byzanz und China, des Erstarrens des geistigen Frankreichs im XX. Jahrhundert und der Erstarrtheit der routinierten Beamten- und Juristentypen innerhalb jeder sehr alten Tradition. Kehren wir nun nach diesem kurzen Umwege zur Frage der Möglichkeit einer Förderung des Schöpferischen am Erzogenen durch den Erzieher zurück, so sehen wir jetzt ohne weiteres ein, warum nur begnadete Erzieher aus ihren Schülern mehr machen, als sie ursprünglich waren: das sind die im Sinne Platos vom Eros paidikós Begnadeten, denen das Zeugen in den Seelen Drang und Berufung ist. Aber eben hieraus erklärt sich vollends, warum Erziehung nie auf solches Zeugen einzustellen ist. Erstens ist allgemein-Erforderliches vernünftigerweise nie auf das Vorhandensein von Außerordentlichem zu gründen. Zweitens und vor allem ist gerade das, wozu es keines begnadeten Erziehers bedarf, also das Generelle, dasjenige, worauf bei der Erziehung alles ankommt. Der persönlich Schöpferische bildet sich unter allen Umständen selbst, ob er erzogen wurde oder nicht; da in ihm Neues zur Entstehung drängt, ist es grundsätzlich ausgeschlossen, dass hier Erziehung viel bedeuten und bewirken könnte. Hieraus aber ergibt sich, dass es sich bei dem, was Inspiration leistet, um ein von aller nur möglichen Erziehung Wesensverschiedenes handelt.

Greifen wir jetzt auf das Beispiel Amerikas zurück. Amerika ist das erziehungsbeflissenste, das geistig weiblichst geartete und unschöpferischste Land der heutigen Erde. Diese drei Charakteristika hängen zusammen: insofern drüben das weibliche Prinzip absolut vorherrscht, muss das männlich-Schöpferische, wo vorhanden, verkümmern oder unentdeckt oder sonstwie unwirksam bleiben. Insgleichen hängt das leblos-Routinemäßige der einen Seite des deutschen Lebens, die man die Schulmeister-hafte heißen mag, mit der Weiblichkeit des gleich Fausts Wagner alles-Wissen-wollenden deutschen Durchschnittstyps unter Gebildeten oder Bildungsbeflissenen zusammen.

Gibt es nun eine praktische Lösung? Und wenn ja, wo liegt sie? Sie liegt augenscheinlich darin, dass das männliche und das weibliche Prinzip, jedes in seiner Sphäre, einerseits gesondert zur Geltung kommen und andererseits angemessen zusammenwirken. Und das heißt zunächst: die Schule als solche muss grundsätzlich bleiben, was sie immer war. Dafür muss das Schöpferische an und für sich gepflegt werden. Hierbei aber ist von Hause aus anzuerkennen, dass hier nicht Erziehung in Frage steht, sondern ein qualitativ anderes. Dass dieses so selten geschehen ist, liegt daran, dass es als seltene Ausnahmen mann-weibliche Typen gibt, welche sowohl befruchten wie erziehen. Diesen gehörten die ganz großen Pädagogen an, an welche jeder unwillkürlich denkt, wenn die Frage aufgeworfen wird, aber solche sind eben so selten, dass hier die Ausnahme die Regel bestätigt. Die eigentlichen Inspiratoren, die Träger des Logos spermatikós, waren nie Erzieher, sondern ausschließlich Zeuger. Dementsprechend waren sie nie Gemeinschaftsmenschen, sondern Einsame, welche Zusammenleben mit anderen scheuten, außer allenfalls mit denen, die gewissermaßen zu ihrem geistigen Harem gehörten. Sie suchten nicht nur nicht, sie scheuten langewährenden Kontakt — kein Zeugungsakt währt lang. Eben darum waren sie vorzugsweise Wanderer, sie redeten an immer neuen Orten, wo es gerade empfängliche Seelen gab, und verließen immer wieder die, welche empfangen hatten. Nie meinten solche einen bestimmten Kreis, auch wo sie sich an einen bestimmten hielten. In ihren Jüngern sahen sie ursprünglich ihre späteren Apostel und meinten damit ursprünglich, wenn sie zu wenigen redeten, die ganze Welt. Als väterliche Geister hielten sie sich an das Gesetz der Distanz und nicht der Intimität, welchen Satz die nächste Betrachtung erläutern wird. Vom Standpunkt des Normalmenschen waren sie allesamt wunderliche Heilige. Man gedenke des Buddha, welcher besonders gern in Courtisanen gehörigen Gärten predigte, an Jesu Vorliebe für Zöllner und Sünder, und dann wieder an die Tatsache, dass ein Einsiedler, Bernhard von Clairvaux, der Urheber der Kreuzzüge war und dass weltabgewandte Asketen in zahllosen Fällen die Verantwortung für blutigste Verfolgungen trugen. Aus alle diesem folgt, dass spermatische Geister recht eigentlich das Gegenteil eines guten Pädagogen darstellen. Die Athener hatten nicht so unrecht, wenn sie in Sokrates mehr einen Verführer als einen Erzieher sahen. Plato, der weiblicher Geartete, bewies andererseits nicht nur sein hohes Ethos, sondern auch seine tiefe Einsicht dadurch, dass er überall im Namen seines geistigen Vaters lehrte. Gleichsinnig taten die Gründer des Christentums recht, sich in allem und jedem auf Jesus zu berufen. Auch dieser war absolut kein Erzieher. Auch er war bewusst und willentlich nichts als Zeuger. Der Fisch wurde zum Symbol des Christus gewählt, weil dies das eine und einzige Tier sei, welches ohne Berührung des weiblichen Geschlechtes zeugte. Letzteres Symbol hat einen noch tieferen Sinn zum Hintergrund: jeder echte geistige Zeuger hat von Natur aus nur die eine und einzige Neigung, seinen Samen auszustreuen; was aus diesem wird, ist Angelegenheit derer, die ihn empfingen.

Nun gehen alle Neuschöpfungen auf Erden auf das männliche Prinzip zurück. Dass dem gar nicht anders sein kann, erhellt — auf der Grundlage der bisher angestellten Erwägungen — endgültig aus der folgenden: geistigen Neuschöpfungen entsprechen auf der biologischen Ebene neue Gattungen und Arten. Solche treten allemal plötzlich in die Erscheinung, welches immer die jeweilige Ursache der Wandlung sei. Und plötzlich müssen sie auftreten, weil es sich hier um eine Änderung in den Voraussetzungen der Sondergestaltung handelt. Jeder spermatische Impuls, der von einem entsprechenden weiblichen Geist empfangen wurde (wie derjenige des Sokrates durch Plato), macht durch diesen hindurch sofort Schule, aber dann handelt es sich um eine der früheren gegenüber neue Schule. Oder in einem anderen Bilde: spermatische Impulse entsprechen Neu-Einfällen oder epochemachenden Erfindungen, zu deren Wesen gehört, dass sie nicht aus früher schon Dagewesenem folgen (zwischen dem Alten und dem Neuen liegt allemal ein Unstetigkeitsmoment). Unter diesen Umständen bedeutet es offenbar ein grundsätzliches Missverständnis, im Falle schöpferischer Impulse überhaupt die Frage des Erziehens zu stellen. Dies gilt zumal in unserer so hoch differenzierten Welt. Heute muss die Schule mehr und ausschließlicher weiblichen Geistes sein als je vorher, denn nie noch war generelle Ausbildung so unentbehrlich. Eben deshalb läuft der Einzelne mehr als je früher Gefahr, durch zuviel Beeinflussung und Bildung verbogen zu werden. Das Menschenleben als Ganzes aber läuft die noch sehr viel ernstere Gefahr, zu etwas Ameisenartigem zu verderben, indem es sich in der Arbeitsteilung so scharf differenziert, dass nichts Undifferenziertes übrigbleibt. Alle Fortlebensfähigkeit liegt im Undifferenzierten. Ein einmal erreichter Entfaltungszustand ist niemals rückgängig zu machen. Darum starben alle überdifferenzierten Tierarten irgendeinmal aus, begann aller Neuanfang von Undifferenziertem aus. Eben darum sind bei jeder Wende junge Völker die Träger des Fortschritts. Noch ist, gottlob, ein ameisenartiger Allgemeinzustand nicht erreicht. Darum ist unwiderruflichem Unheil noch vorzubeugen und Besserem der Weg zu bereiten. Dazu aber ist erforderlich, das Zeugerische, wo vorhanden, ebenso eindeutig und einseitig zu betonen, wie das Ausgestaltete. Nur muss dies eben sinngemäß geschehen. Das dem weiblichen Prinzipe Zugehörige ist einer sachlichen Behandlung fähig, weil es ausgestaltet; das männliche ist grundsätzlich nie versachlichbar, denn es steht und fällt mit vorhandener persönlicher Potenz. Wozu also hier organisieren wollen? Ein Fischmännchen genügt, um Millionen neuer Fische zu zeugen. Es gilt nur zu erkennen, wer geistig zeugen kann, und sowohl für mögliches Zeugen wie für mögliches Empfangen und Austragen die richtige Einstellung und den entsprechenden Rahmen zu schaffen. Wo nun das Zeugerische gefördert werden soll, da besteht das Schaffen eines entsprechenden Rahmens vor allem darin, dass nicht versucht wird, seine Vertreter irgendwie einzuspannen. Was den Künstlernaturen schon lange mehr oder weniger zugestanden wird, die doch zumeist eigentlich Weiber sind, sollte in weit höherem Grade noch den Inspiratoren zuerkannt werden. Sie sollten ähnlich behandelt werden, wie in tiefer im Geist verwurzelten und tieferblickenden Zeitaltern Seher, Auguren und Propheten und in Indien heute noch Yogis und Heilige selbstverständlich behandelt werden. Die Öffentlichkeit soll anerkennen, auch und gerade wo sie nicht versteht, dass es Typen dieser Art gibt, deren Gesetz ein anderes ist als dasjenige anderer Menschen, und dass es sich bei dergestalt aus allen Rahmen Fallenden wohl um sonderliche, nicht aber um unnütze, zu besserer Zeitausfüllung und zu kräftigerem Einsatz zu erziehende Typen handelt.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Inspiration und Erziehung
© 1998- Schule des Rades
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