Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Kritik und Offenbarung

Bilder

Nunmehr können wir genau bestimmen, in welcher Richtung der Prozess des Realisierens führt; er führt in völlig anderer Richtung als derjenige der wissenschaftlichen und philosophischen Kritik. Betrachtung von außen her, als welche auch die tiefstschürfende Introspektion bedeutet, nützt hier überhaupt nichts, denn das normale reflektierende Bewusstsein führt über seine eigene Ebene nie hinaus. Jede Introspektion im üblichen Verstande schadet sogar meist, insofern sie Blitze aus der Tiefe an der Oberfläche auffängt, in bekannte oberflächliche Zusammenhänge einordnet und das Bewusstsein damit unfähig macht, das an Offenbarung zu haben, was es sonst haben könnte. Und ebenso nützt Experimentieren der Art, für welche die Assoziationsexperimente der Tiefenpsychologie das beste Sinnbild abgeben, nichts, weil dieses im gleichen Sinn veräußerlicht wie die Introspektion: es projiziert hinaus, was ein-fallen und ein-gegeben werden muss, sofern es das Sein befruchten soll. Analyse erlöst nie, sie löst nur gelegentlich und nicht immer zum Vorteil des Betroffenen. Ja indem sie das Unbewusste, welches allemal auch Bilder, die aus größerer Tiefe stammen, enthält, an die Oberfläche zerrt und es für die Oberfläche geltenden Zusammenhängen einfügt, verhindert sie mehr noch als die übliche Introspektion die Selbstverwirklichung. Immer mehr analysierte Menschen behaupten, dass Psychoanalyse zerstörend, ja im Extremfalle teuflisch wirke: das liegt erstens an der Überschichtung möglichen metaphysischen Erlebens durch Kenntnis und durch Betonung des niederen Unbewussten, das zum großen Teile unterweltlich ist — und die Unterwelt spielt dann allein die ihr gemäße Rolle im Organismus, wenn sie unten bleibt. Zweitens und vor allem aber darum, dass sie Vorstellungen betont und vitalisiert, wo solche durchschaut und durchstoßen werden sollen.

Der wahre Weg des Realisierens ist nämlich kein anderer als der, welchen alle höheren Religionen so oder anders, mehr oder weniger glücklich, mehr oder weniger nah ans Ziel heran gewiesen haben. Zunächst negativ umschrieben, besteht er im Verzichten auf Introspektion, Verzichten auf Betrachtung und Erklärung von außen her und damit auf wissenschaftliche Behandlung, im Verzichten auf Nachdenken, im Verzichten vor allem auf Hingabe an das natürliche Gefälle unwillkürlicher, durch äußere Reize ausgelöster Vorstellungsfolgen. Ja im Verzichten des Verweilens bei Vorstellungen überhaupt. Alle Vorstellung, auf die sich Aufmerksamkeit heftet, überschichtet nämlich für das Bewusstsein andere Wirklichkeiten. Das Material aller Vorstellungen gehört der Sphäre des Empirischen an; nicht nur im Sinne dessen, wie sich äußere Eindrücke im Wachzustand zu Vorstellungen zusammenschließen, die jenen niemals ganz entsprechen; nicht nur wie Träume Erlebnisse willkürhaft verarbeiten, sondern auch im Sinne dessen, dass echte religiöse Offenbarung normalerweise jedermann, wie schon in unserer Betrachtung über die Abgeschiedenheit erklärt wurde, im Körper seiner intimen Vorurteile zuteil wird, weswegen keine konkrete religiöse Revelation in erster Instanz Glauben verdient. Selbst-Realisierung wird erst jenseits der Vorstellungen äußeren oder oberflächlichen Ursprungs möglich: also muss zum Zweck der Selbstverwirklichung zunächst auf Vorstellung überhaupt verzichtet werden. Solches Verzichten, welches Wort hier genau die gleiche Grundbedeutung hat wie das buddhistische Lassen, das christliche sacrificium intellectus, das taoistische sich Leermachen, legt die Tiefen des Geistes von der Überschichtung durch Oberflächengestaltungen frei und verschiebt damit den Mittelpunkt des Bewusstseins nach innen zu. Ein Weg dahin, welcher für alle, auch für solche gangbar ist, welche tieferer Selbsteinkehr noch nicht fähig sind, ein Weg, welcher unter allen Umständen weiterführt, kann folgendermaßen bestimmt werden: es ist der des Wartens mit jeder Erklärung und Bestimmung und vor allem des Wartens mit jeder Schlussfolgerung, bis dass die erforderlichen neuen Verstehensorgane an der Polarisation mit dem Gegenstande erwachsen sind. Das Auge erwuchs einmal am Licht: genau gleichsinnig erwachsen alle Organe des Verstehens so, dass sich der geöffnete Geist und die geöffnete Seele dem Gegenstande, welchen sie verstehen wollen, exponieren. Und je mehr einer also stillzuhalten und innerlich geöffnet zu verweilen lernt, auf Erklärungen und Schlussfolgerungen derweil verzichtend, desto schneller wird er in der Einsicht vorankommen.

Auf diese Weise führt vorgeschrittene Kritik über Kant und seine europäischen Nachfolger und Nachfahren hinaus zu einer neuen Lehre von der Vorstellung überhaupt, welche im Wesentlichen die indische Maya-Lehre bestätigt. Dass das Spinnengewebe der Begriffe, mit welchem das Menschen-Tier die Außenwelt einfängt, um diese für seine Vitalzwecke zu meistern, durchstoßen werden muss, damit Realisierung des Eigen-Geistes möglich werde, liegt so sehr auf der Hand, dass es keiner weiteren Erörterung bedarf. Aber nicht anders steht es mit allen Vorstellungen, die im empirischen Ich, dem mind, ihren Ursprung haben. Die Welt der Vorstellungen spiegelt nicht, sie überschichtet mögliche echte Erfahrung; die Bilder, aus deren Zusammenhang und Ablösung sie besteht, mögen noch so sehr von wirklichem Innen her inspiriert oder von wirklichem Außen ausgelöst sein — so wie sie sind, bilden sie eine selbständige Schicht von Erscheinungen, die von der direkten Perzeption des Inneren sowohl als des Äußeren absperrt. Oder dasselbe anders und nach dem Sprachgebrauch der Meditationen ausgedrückt: der Mensch steht normalerweise nicht mit den verschiedenen Schichten seines Wesens mit den entsprechenden des außer-ihm-Existenten — also mit dem Mineralischen mittels seiner Mineralität, mit dem äußeren Kaltblut mittels seines eigenen Kaltbluts, mit dem allgemein-Fleischlichen durch das eigene Fleisch usw. — in direkter Korrespondenz, sondern seine eigene Vorstellung hindert ihn an der Erreichung jenes glücklichen Gleichgewichts im Zusammenhang der Welt, welches Pflanze und Tier kennzeichnet. Um gemäß dem Zeit gewinnenden Prinzip des pars pro toto nur ein Beispiel zu nennen: im Fall des Menschen will das Männchen nicht einerseits selbstverständlich, andererseits nur dann, wenn das Weibchen will, sondern die Vorstellung des Geschlechts besitzt Mann und Weib unabhängig von allem physiologischen Drang und oft im Gegensatz zu ihm; ja es weckt oft erst das seelische Zwischengebilde der Liebe physisches Begehren, oder aber der Umweg über die Phantasie allein führt zum Begehren. Hier liegt eine der Wurzeln des Lasters, welchem einzig das Menschen-Tier frönt.

Wir führten dieses Beispiel darum an, weil es für den Menschen-Zustand überhaupt Normales aufzeigt: in den meisten Fällen indes, wo Vorstellung im gleichen Sinne zwischen Subjekt und Objekt tritt, handelt es sich um selbst vom Menschenstandpunkt Pathologisches. In den meisten Fällen verschleiert die Maya buchstäblich die Wirklichkeit, wie sie der Mensch erleben sollte. Jules de Gaultier definiert den Menschen als das eine Tier, welches sich anders vorzustellen vermag, als es ist. Die Bestimmung trifft zu, und insofern sind Lüge und Irrtum und allgemeiner falsch-Reagieren beim Menschen Urphänomene. Ja mehr noch: sogar dort, wo Urnatur zu walten scheint, mag die Auswirkung unbewusste schauspielerische Darstellung bedeuten: der Mensch erlebt und handelt nicht entsprechend dem, was ihn tatsächlich von innen her treibt oder von außen her beeindruckt, beeinflusst oder in Mit-Leidenschaft zieht, sondern aus dem Geist erfundener Vorstellung heraus, als deren Vollstrecker. So ist die Sorge, die ein einbildungskräftiger Mensch fühlt, selten Ausdruck elementarer Ur-Angst: er wird besorgt durch seine Vorstellung von Sorge. So mochte gar ein scharfsinniger Denker die Sorge als Grundlage des Geistlebens zu setzen, obschon sie tatsächlich der Unterwelt zugehört, als abgeschwächter Ausdruck der Ur-Angst. Gleiches wie von der Sorge gilt überaus häufig vom Hunger, vom Besitz- und Machttrieb. Der Mensch ist dergestalt organisiert, dass die Vorstellung suggestiv auf das Unbewusste und von dort her auf die Vitalkräfte einwirkt; so kann das Bild eines dem Vorstellenden ursprünglich und wesentlich Fernliegenden und Fremden unwillkürliche Reaktionen hervorrufen, welche gar nicht ihm, wohl aber der vorgestellten Persönlichkeit und Situation entsprechen; hier wurzelt die tiefste Möglichkeit des Komödiantentums sowie der Freude am Theater. Ja die Vorstellung kann Wirklichkeiten schaffen, die es von der Elementarnatur her überhaupt nicht gibt. So gibt es von dieser her überhaupt keine Todesfurcht, sondern einzig Furcht vor dem Verhungern. Eben deshalb äußert sich Vertiefung des Bewusstseins allemal in einer Abschwächung und zuletzt im Aufhören der Todesfurcht, denn diese ist Vorstellung-geboren. Je mehr Vorstellungskraft nun im Spiel ist, desto mehr bedeutet die Vorspiegelung gegenüber der ursprünglichen Wirklichkeit; desto mehr vitalisiert die Vorstellung alsdann das auf anderer Ebene freilich Vorhandene und übersteigert es ins Maß- und Sinnlose, oder aber es leitet es in dem eigenen Drang und Wunsche nicht entsprechende Bahnen.

Ist nun deutlich, warum die Maya durchschaut und durchstoßen werden muss, wobei sie gleich einem Spinngewebe zerreißt, wenn Realisierung möglich werden soll? Schon im Falle wissenschaftlicher Erkenntnis ist dies so: Aufgabe exakter Wissenschaft ist, das sicher und unabhängig vom jeweiligen Bewusstsein Statthabende aus den Hüllen von Vorstellungen, unter denen es sich verbirgt, herauszuschälen. Beim Innewerden geistigen Sinnes gilt dies in weit höherem Maß, weil es hier zunächst kein Mittel gibt, Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden: Falsches und Wahres fallen auf gleicher Ebene ein, und es fehlt jedes Korrektiv objektiver Art. Vollends nun gilt dieser Imperativ des Ent-Hüllens beim Realisieren. Hier muss der Mensch zunächst alle dem empirischen Plane zugehörigen Vorstellungen überhaupt lassen, damit sich das, was hinter ihnen liegt, offenbare, denn die metaphysische Wirklichkeit — hier kommen wir zum Letztentscheidenden — ist dem Bewusstsein mit Ausnahme seltener Inspirierter nicht unmittelbar gegeben. Normalerweise ist es vom Schleier der Maya verhüllt. Es muss die Bewusstseinslage verändert werden, damit jene unmittelbar erlebt werde. Das metaphysisch-Wirkliche nun äußert sich freilich auch in Form von Vorstellungen — aller Geist offenbart sich als Bild, weswegen die Johanneische Kosmologie dahin korrigiert werden konnte, dass es nicht heißen soll Im Anfang war das Wort, sondern Im Anfang war das Bild. Aber es gibt Bilder und Bilder; sie können verschiedensten Ursprungs sein und Verschiedenstes bedeuten. Dieser empirischen Welt sind die normal einfallenden Bilder des Oberbewusstseins die angemessensten. Um je tiefere (oder höhere) geistige Welten es sich handelt, desto weniger trifft dies zu. Da muss das naturgemäße Bild überwunden werden, bis dass geistgemäße einfallen können. Je weiter nun der Entschleierungsprozess fortschreitet, desto mehr erweisen sich die einfallenden Bilder als adäquate Ausdrücke des innerlich Wirklichen, desto weniger wirken Vorstellungen von Andersartigem oder Vorstellungen anderen Ursprungs verfälschend mit, desto geringer das Ausmaß dessen, was wir Überschichtung hießen. Im Höchstfalle wird das Vorstellen von einem Organe und Mittel der Selbst-Täuschung zu einem Organ ebenso unbefangener Aufnahme geistiger Wirklichkeit, wie dies das Auge in bezug auf die Sonne ist. Was einem in diesem Zustande einfällt, fällt ein aus der wahren Tiefe der Innenwelt, so wie der Sonnenstrahl aus der wahrhaftigen Sonne. Dazu aber bedarf es, als Vorstufe, noch einmal der Entleerung des Bewusstseins von den dasselbe bevölkernden Vorstellungen oberflächlichen Ursprungs.

Wie sollen wir nun die hierauf erfolgende Füllung des entleerten Bewusstseins durch Bilder aus größerer Tiefe als Ausdruck der Tiefenkräfte verstehen? — Wollen wir die Frage kausal beantworten, was natürlich nicht angeht, so wäre die mittelalterliche Deutung des Geschehens auf Grund eines horror vacui die wenigst irreführende Antwort: sind die verschüttenden Zwischenschichten abgebaut, dann brechen wirklich vorher unbekannte Tiefenkräfte ins Bewusstsein ein, zuerst in Form Blitz-artiger, allmählich in solcher dauernd besessener Einsicht, und im Höchstfall in Form totalen Neu-Werdens. Alles Leben strebt darnach, sich auszuwirken, aller lebendige Sinn drängt nach Ausdruck. Sind die geistigen Tiefen freigelegt, dann drängen sie ebenso selbstverständlich in die Erscheinung, wie früher die Oberflächenkräfte. Dieser Selbst-Ausdruck des Wesens aber bedeutet ein Hineinwachsen in den vorherbestehenden Organismus, was organische Verwandlung dieses nach sich zieht, welche im Höchstfall so weit geht wie bei der sich zum Schmetterling metamorphosierenden Raupe: alle alten Organe werden eingeschmolzen, neue entstehen, und das organische Ganze bezieht sich auf ein neues Subjekt. Erfolgt diese Wandlung in der Sphäre des verstehenden Geists allein, dann äußert sich dies in weltanschaulichem Wandel oder im von-innen-heraus-Wirken spontaner Eingebungen, die ebenso selbstverständlich als Wahrheiten erlebt werden, wie äußere Erfahrungen eines gesunden Menschen als Richtigkeiten. Aber Erlösung bringen solche Eingebungen nur mittelbar: insofern sie anderen (darunter auch dem, welchen sie betrafen!) so tief und stark ein-leuchten, dass ein Prozess des Anderswerdens, sonach der Veränderung sämtlicher Schichten des Menschenwesens vom zunächst bloß Eingesehenen oder Geglaubten ausgelöst wird. Hier liegt die Bedeutung aller in Worten und Lehren festgelegten Religionen. Offenbar nun aber ist vollkommene Realisierung dann erst erreicht, wenn das Wort buchstäblich Fleisch ward; wenn sich also das metaphysisch-Wirkliche in allen Schichten des Menschen und durch sie alle hindurch ausdrückt, so wie sich die Inspiration des Dichters in den an sich sinnlosen und in ihrer äußeren Erscheinung ganz anderen Gesetzen unterworfenen Lauten und Buchstaben vollkommen materialisiert.

Doch zum Abbau überschichtender und fälschender Vorstellungen zum Zweck der Selbstverwirklichung (im Unterschied von der Einsicht ins Nicht-Ich) kann selbstverständlich keiner der Wege führen, welcher zur wissenschaftlichen Erkenntnis führt: keine Beobachtung, keine Introspektion, keine Reflexion, kein diskursives Denken, schon gar kein Phantasieren. Zu ihr führen am sichersten die von alters her bekannten Wege der Meditation einerseits, und des sich Aussetzens aller Erfahrung andererseits, des metaphysischen Abenteurertums. Der Sinn alles Meditierens liegt in der Herstellung vollkommener Offenheit nach innen zu, also christlich ausgedrückt der Gott-Offenheit. Der Sinn metaphysischen Abenteurertums liegt, umgekehrt, im sich-Stellen jedem Lebensanspruch von außen her, also in der Haltung vollkommener Welt-Offenheit. Die Tiefe des Menschen wird desto mehr angesprochen und angerührt, evoziert und vitalisiert, je größeren Widerständen gegenüber er sein Gleichgewicht behaupten muss. Alles Bewusstsein von Dingen und Zuständen erwacht am Widerstand. So macht erlebtes Unglück allein den Sinn des Glücks bewusst, Krankheit allererst Gesundheit zum erkannten Wert, so weckt Nicht-Wissen den Erkenntnistrieb. Nicht anders liebt der Mensch überhaupt das Risiko und die Gefahr, ja den Hasardeur im Sinn des Überantwortetseins dem blinden Zufall, weil er sich also voller und stärker leben fühlt. Dieser allgemeine Sachverhalt findet seinen Höchstausdruck im Prozess der Selbstverwirklichung als der Durchdringung und Erfüllung der Oberfläche durch Tiefenkräfte. Das ganze Ganawesen, alles Kalt- und Warmblut im Menschen, ja noch seine der emotionalen Ordnung entsprechenden Schichten widerstreben mit allen Kräften dem Durchbruch neuer Mächte, denn diese gefährden wenn nicht ihr Dasein, so doch ihre Macht. Und sie schaffen und bedingen die Bilder, die der Realisierung entgegenwirken. Diese loszuwerden ist sehr viel schwieriger und mühsamer als Bändigung des Denkens, weil die Bilder nicht nur einer Schicht entspringen wie jenes, sondern das Wirkungsmittel vieler Schichten sind. Die meisten zwingenden Vorstellungen sind Wunschbilder, hervorgetrieben und genährt von der erdgebundenen Urnatur. Wie sollten Erdkräfte Überwindung des Erdhaften kampflos dulden! Sie wehren sich denn auch mit Erfolg — da das Menschenwesen zu weit über zwei Dritteln erdhaft ist —, bis dass der Drang von innen her, aus der Tiefe des Geistes, so groß wird, dass es die Kraft gewinnt, die eigene Trägheit zu überwinden. Dieser Drang nun antwortet normalerweise nur sehr starkem Druck von außen, nur einem dermaßen starken Druck, dass es des Eingreifens neuer Kräfte aus seinem Inneren bedarf, damit sich das Gleichgewicht des Menschen überhaupt behaupten kann. Daher der von jeher äußerst geringfügige Erfolg asketischer Übungen bei allen, welche der Selbstverwirklichung nicht ohnehin nahe waren: Meditation und Kasteiung als solche gefährden das bestehende Gleichgewicht nicht genügend, um die Tiefenkräfte an die Oberfläche zu beschwören. Daher der völlige Misserfolg der Psychoanalyse als Mittel der Selbststeigerung: nur lösen kann tiefenpsychologische Behandlung, nur entspannen. So kann sie grundsätzlich nicht den Druck schweren Schicksals ersetzen. Noch einmal: nur unerhörter Druck, sei es von außen, sei es von innen, führt zum Durchbruch des Tiefstgeistigen. Dies besagt der wahre Satz wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Ohne Notgefühl, ja ohne vollständige Verzweiflung bringt es der Mensch sehr selten über sich, die nötige Anstrengung im Tun und vor allem im Lassen zu machen, deren es bedarf, um den Höheren Mächten das Tor ins eigene Bewusstsein zu öffnen. So spricht auch das Wort Jesu Christi wahr, dass nur der seine Seele gewinnt, der sie verliert. Der Weg der Selbstverwirklichung führt nicht nur über die Überwindung aller Maya, sondern im Höchstfall buchstäblich über den Tod des Ich.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Kritik und Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
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