Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Vom Sterben

Richtigstellung der Bezeichnungen

Was haben wir in allen bisherigen Betrachtungen, welche ich absichtlich so eng und knapp und kurz als irgend möglich fasste, getan? Wir haben die uns jeweils vorliegende Lebensgleichung so anzusetzen versucht, dass sie aufgehen und gelöst werden kann. Ich benutzte mehrfach den alt-chinesischen Ausdruck Richtigstellung der Bezeichnungen: Kung Fu Tse hatte diese als erstgebotene und wichtigste Leistung des Herrschers hingestellt, welcher ein Reich in Unordnung vorfindet. Sind die Bezeichnungen falsch, dann stimme nichts im Leben von Volk, Staat, Familie und Einzelnem zugleich; kaum seien sie jedoch richtiggestellt, dann ordne sich alles ganz von selbst. Dies bedeutet eben das, was ich richtiges Ansetzen der Lebensgleichung heiße; aus richtigem Ansatz allein kann sich rechte Lösung ergeben. Ist es nun nicht ein Wunderbares darum, dass durch rein geistige Formung auf der Ebene des Geistes im realen Leben alles anders werden kann? Dass dem so ist, darüber besteht kein Zweifel. Kaiser Marcus Aurelius schrieb aus der Erfahrung nicht allein des stoischen Weisen, sondern auch des Herrschers heraus:

Sieh die Dinge nur von einer neuen Seite an, denn das bedeutet eben, ein neues Leben beginnen.

Die indische Lehre, dass Erkenntnis Erlösung sei, behauptet in Leben und Tod, Diesseits und Jenseits umfassendem Zusammenhang nichts anderes, als was auf allen handgreiflichen Sondergebieten erwiesen ist. Nachdem der Mensch die Eigenart der Elektrizität begriffen hatte, war ihm damit die Urgewalt des Blitzes geworden. Stellt der experimentierende Forscher seine Fragen richtig, dann muss die Natur ihm die rechte Antwort geben. Hat ein Mensch sich selber und seine Möglichkeiten ganz verstanden und erhebt er sein Verstehen zur Dominante seines Lebens, welches von ihm allein abhängt, dann erfolgt zwangsläufig Selbstverwirklichung und Schicksalseroberung. Zwangsläufig oder unwillkürlich oder ganz von selbst: das kommt hier auf das Gleiche heraus, denn alle drei Ausdrücke meinen in diesem Zusammenhange Gleiches, und kein Verstandesbegriff entspricht je ganz der Wirklichkeit. Der mechanischsten Seite des Vorgangs wird das von Coué entdeckte psychodynamische Grundgesetz — was immer man gegen Coués Simplismus vorbringe — gerecht. Gemäß diesem Gesetze genüge es, eine wirklich klare Vorstellung meditativ festzuhalten, alsdann führe das Unbewusste das Gemeinte und Gewünschte auf dem Bewusstsein unbekannten Wegen von selber aus, ohne jede Mitwirkung des Willens. Dass es auf diesen nicht ankommt, ja dass seine Mitarbeit schadet, beweist das vom gleichen Heiler entdeckte Gesetz des effort converti; je mehr man etwas absichtlich will, desto sicherer erfolgt das Gegenteil des Beabsichtigten.

Die unbezweifelbare Tatsache, dar es bei rechter Ansetzung einer Lebensgleichung auf Willensanstrengung nicht ankommt, beweist allein schon, dass es sich hier um rein Geistiges handelt. Unter Wille mag freilich Verschiedenes verstanden werden. Aber das, was sich anstrengt, ist jedenfalls nicht das Geistige im Menschen, sondern, sagen wir, das Innervierende oder Motorisierende in ihm. Wille zwingt den psychophysischen Organismus mittels bewusst vollzogener Akte in den Dienst einer Einsicht oder auch Narrheit. Aber als solcher ist er überhaupt nicht schöpferisch; er kann nur ausführen, was Einbildungskraft schaute. Auf diese kommt alles an; steht das Bild nur da und schafft inniger Wunsch nur ein Verbindungsglied zwischen Vorstellung und Organismus, dann erfolgt das Weitere von selbst, so wie es genügt, sich das Heben des Armes vorzustellen, damit es wirklich stattfinde. Das Vorstellen nun ist überhaupt nicht mit Anstrengung verknüpft; Einfälle belasten nicht, sie kommen von selber und gehen befreiend durch einen hindurch, wo sie nicht absichtlich festgehalten werden. Darum, weil es sich beim Festhalten um ein dem natürlichen Gefälle nicht Entsprechendes handelt, fällt das Fixieren von inneren Bildern so schwer. Erinnern wir uns von hier aus des Schöpfungsmythos unserer Überlieferung. Der biblische Gott wollte offenbar gar nichts, da er die Welt erschuf. Wohl aber müssen ihm äußerst klare Bilder gekommen sein, und die Entwicklungslinien, welche das Jetzt mit dem Später verknüpften, muss er sehr scharf gezogen vorgestellt haben: damit war die Schöpfung von vornherein artikuliert und soweit prädeterminiert, als mit dem ursprünglich schöpferisch indifferent und damit labil gemeinten Lebensprozess vereinbar war. Wären Gottes Urbilder nur ein ganz klein wenig anders gewesen, jedes einzelne Geschöpf hätte anders ausgesehen. Wir Menschen nun verfügen über eben die Gottesgabe, welche den Weltschöpfer auszeichnete, in unserer Fähigkeit, vom Geiste her Leben und Welt zu fassen, zu erobern und zu formen. Freilich sind wir nicht wie jener befähigt, Materielles aus dem Nichts zu schaffen, aber alle Gegebenheit, und sei sie noch so dicht und übermächtig, bedeutet dem Geiste andererseits das Gleiche, wie dem Bildhauer der Ton. Hat er Talent, hat er gar Genie, dann schafft er aus dem, was er hinnehmen musste, rein Persönliches, so Niedagewesenes und ihm und nur ihm vollkommen Entsprechendes.

Die Ebene des vom Geist her Schöpferischen ist nun offenbar die des eigentlichen Menschenlebens, im Unterschied vom tierischen und pflanzlichen, welche jenem zur Grundlage dienen. Und insofern haben wir das Recht, als Ebene jenes nicht die des Biologischen, sondern der Kunst zu bestimmen, der Kunst im allerweitesten Verstand, und doch andererseits der Kunst allein. Zunächst auf den Sinn hin. Schafft auf dem Gebiet des Menschenlebens die Bedeutung allererst den Tatbestand, auf welchen es für uns ankommt, so ist der Sinn des Lebens offenbar der eigentliche Ort unseres Lebens überhaupt (was ja dadurch allein erwiesen wird, dass dem Menschen die Lust am Leben sofort vergeht, wenn er keinen Sinn mehr in ihm findet): eben dies gilt vom Kunstwerk; der vom Geist gegebene neue und einzige Sinn ist es, welcher überall vorkommende Formelemente zu einmaliger Gestalt formt. Was nun in bezug auf den Sinn gilt, gilt nicht weniger auf die Technik hin. Es gehört Kunst dazu, Lebensgleichungen richtig anzusetzen, Bezeichnungen richtigzustellen, unter hundert möglichen solche klare Vorstellungen zu wählen, dass deren Meditieren zu Gutem führen muss, sich selber, so wie man ist, im Kosmos richtig einzustellen, das Orchester der verschiedenen Fähigkeiten und Zielsetzungen in sich, und im Fall von Führerstellung auch außer sich, so zu dirigieren, dass aus allem zusammen eine schöne Symphonie entsteht. Insofern bedeuteten auch die Versuche vorliegenden Breviers, für die wichtigsten Lebensgleichungen gleichsam algebraische Lösungen zu finden, in welche jeder die ihm entsprechenden Zahlenwerte einsetzen möge, und unser Bestreben, diese Lösungen möglichst knapp zu formulieren, in erster Linie künstlerische Versuche. Mehr brauche ich hierüber nicht zu sagen, alles Vorhergehende ist ein einziger Kommentar des hier zuletzt auf seinen Sinn hin Zusammen gefassten. Im übrigen habe ich in dem Kapitel Das Leben als Kunst des Buchs vom persönlichen Leben die wichtigsten Erläuterungen gegeben, welche der Leser wünschen könnte, insonderheit in bezug auf die Künste der Staatsführung, der Diplomatie, der Liebe und Ehe, der Glückschaffung und des religiösen Kults. Hier möchte ich, zum sinnvollen Abschluss eines Buches der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit, im gleichen Zusammenhang ein bisher nicht behandeltes Problem, welches jedermann am allernächsten angeht, nämlich dasjenige des Sterbens behandeln.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Vom Sterben
© 1998- Schule des Rades
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