Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Vom Sterben

Jenseits von Geburt und Tod

Es ist möglich, auch den Prozess des Aufhörens und der Auflösung leiblichen Daseins, welcher einzig und allein der Ebene der Naturvorgänge anzugehören scheint, auf diejenige des Lebens als Kunst hinaufzuheben. Eine entsprechende Überlieferung gibt es freilich im Abendlande nicht. Wohl starben auch viele unserer Größten genau zur rechten Zeit, und dieses nicht zwar so, dass Vorsehung oder Schicksal ihren Lebensfaden im rechten Augenblick abgeschnitten hätte, sondern so, dass sie sich selbst aus freiem Wollen im rechten Augenblick zu sterben entschlossen und damit dem Kunstwerk ihres Lebens die Krone aufsetzten. Das war der Fall Jesu, des Sokrates und zahlloser Helden, nicht zuletzt unter unbekannten Soldaten. Denn nur im Sinn eines Lebens als Kunst, nicht in dem primitiver Völker, dass das Blut Geopferter den Acker fruchtbar mache, ist das nachweislich Zeugerische des Blutzeugentums richtig gedeutet. Goethe, der große Epiker, starb freilich ohne dramatische Notwendigkeit, aber gerade das war in seinem Falle sinnvoll, und dass er den wahren Zusammenhang ahnte, beweist sein Erstaunen wenige Jahre vor seinem Tode darüber, dass ein bedeutender Mensch, dessen Name mir entfallen ist, sich als bloßer Siebziger darauf eingelassen hätte, zu sterben; qu’il avait consenti à mourir, wie es in der französischen Übersetzung hieß, von welcher allein her ich den Ausspruch kenne. Aber die Meisten unter uns denken unbewusst nicht viel anders wie jene Wilden, die im natürlichen Tode ein schlechthin Unnatürliches sehen; nur für gewaltsamen Tod haben sie Verständnis. Eine ferne Annäherung von einer Seite her an die Wahrheit, dass auch das Sterben der Ebene des Lebens als Kunst angehört, verkörpert der Satz des XVIII. Jahrhunderts, in welchem, wie bei so vielen Auffassungen und Äußerungen des europäischen Geistes, seitdem die Hoch-Zeit der mittelalterlichen Glaubenskultur vorüber war, stoische Weisheit eine Wiedergeburt erlebte; vivre, c’est apprendre à mourir.

Eine Ahnung der gleichen Wahrheit verkörperte auch jene Konvention, welche gerade beim Sterben Haltung forderte und gewissermaßen die Befolgung eines vorgeschriebenen Zeremonials — vom Tode in der Schlacht oder durch Freitod der heidnisch-germanischen Recken über das Gebot, in steilem Lehnstuhl sitzend zu sterben, bis zum bewussten Abschied von allen Angehörigen nach Einnahme der Sterbesakramente und zur sittegerechten Bestellung des Hauses. Aber zur echten Kunst erscheint das Sterben in alledem nicht bewusst erhoben. Und doch tut gerade dieses not. Wenn es irgendwo die Souveränität des Geistes zu behaupten gilt, dann ist es in dem Augenblick, wo er sich anschickt, den Körper zu verlassen. Ganz offenbar gehört das Ausgehen aus dem Erdenleben im Sterben genau so zur Norm, wie das Eingehen in dasselbe mit der Geburt. Ganz sicher strebt das Leben von seiner Mitte ab, wie vor allem Jung einleuchtend gezeigt hat, ebenso zielstrebig seinem irdischen Abschluss zu, wie vorher seinem irdischen Höhepunkte; nur vom Tode als unbewusst anerkanntem Ziele her sind die Entwicklungen und Wandlungen des späteren Lebens zu verstehen. Aber während bei der Geburt das Wesenszentrum des Menschen noch außerhalb seines Bewusstseins liegt, liegt es seinem Ende zu so weit in ihm, als dem Betreffenden erreichbar war. Also kann es nicht sinnvoll sein, sich einfach sterben zu lassen wie ein Tier. Gerade hier gilt es, Selbstbeherrschung zu behalten. Nicht umsonst halten so viele Religionen die seelische Verfassung in der Todesstunde für letztentscheidend. Ich persönlich bin fest davon überzeugt: gerade das, was beim Sterben not tut, versinnbildlicht die schon in Abgeschiedenheit namhaft gemachte Insekt-Imago, deren ganzes späteres Lebenskapital die Frucht der persönlichen Anstrengungen ist, welche sie macht, um selbständig aus der Puppe auszukriechen. Werden ihr diese Anstrengungen abgenommen, dann steht sie später kraftlos da.

In diesem Sinne kennen und verstehen die Notwendigkeit einer Kunst des Sterbens und deren tiefen Sinn heute nur zwei Völker (wie es mit früheren stand, lasse ich hier ganz dahingestellt): die Japaner und die Tibetaner, und deren Fall möchte ich hier kurz beleuchten, weil sie die besterhältlichen Sinnbilder darstellen für jedermann und Bilder und Gleichnisse immer mehr lehren als beste Erklärungen. Auch kann ich dieses ohne weitere Vorbereitung tun, da ich die Grundaspekte des Japaner- und Tibetanertums, welche hier in Frage kommen, schon im Kapitel Selbstverwirklichung beleuchtet habe. Damals handelten wir vom Zen-Buddhismus nur im Zusammenhang mit China. Dort verhalf Zen dem Künstler- und Heiligentum zu nie früher erreichter Höhe und Vollendung. In Japan nun erwuchs der gleiche Buddhismus zu einer das ganze Leben beherrschenden Macht. Dort wurde er zur hohen Schule des Samuraitums, der Grundlage alles höheren Japanertums. Die Japaner waren nie Metaphysiker und Theoretiker. Aber wie bei keinem anderen Volk der mir bekannten Geschichte beruhte die spezifische Kultur seines Kriegeradels auf der zur Lebensform gewordenen Bereitschaft, jeden Augenblick selbstverständlich zu sterben. Als nun der Zen nach Japan drang und von ihm rezipiert wurde, da erhielt die alte Bereitschaft einen neuen Sinn: nun galt es solche Haltung, dass damit der Tod vom Geist her überwunden war. Indem er nun Durchstoßen aller intellektualistischen, moralistischen und sonstigen Überbauten des Lebens forderte, verlieh der Zen der nationalen Willigkeit zum Tode eine Tiefendimension, welche sie buchstäblich transfigurierte. Bereitschaft zum Sterben findet sich bei den meisten Tieren und bei den Menschen desto häufiger, je mehr sie im Animalischen aufgehen oder von ihm besessen sind: das Menschen-Tier fürchtet sich, wie jedes andere Tier, außer im Augenblick des tatsächlich empfundenen Schwindens der Vitalkräfte, ursprünglich nur vor dem Verhungern und dem Verlust der Sicherheit, welche als rechtlich anerkannter Besitz bietet, nicht jedoch vor dem Tode, von dem die blinde Gana ja nichts wissen kann; denn Angst vor und in der Gefahr ist ein ganz anderes als Todesfurcht. Eben darum gehen junge Menschen, in welchen die Vitalkräfte über die Geisteskräfte vorherrschen, viel leichter in den Tod als ältere. Es hätte sich wohl auch schwerlich ein Kriegerstand als nicht nur angesehener, sondern begehrter Stand irgendwo gehalten, wenn die Bereitschaft zum Sterben nicht naturgemäß wäre.

In der gesamten Natur erscheint das männliche Geschlecht in dieser oder jener Form todgeweiht, ihr kommt es lediglich darauf an, dass befruchtete Weibchen leben bleiben. Geistentsprossene und geistgemäße Bereitschaft zum Tode ist hingegen selten. Und sie ist es, welche der Zen in den Japanern hochgezüchtet hat. Darunter verstehe ich anderes als die japanische Neigung zum Freitod, dessen sittegemäßer Ausdruck das Harakiri ist — der Freitod an sich liegt dem Menschen, welcher sich ursprünglich als Geist fühlt, näher, als das Ertragen übergroßen Leids. So stürzten sich in Mexiko nach dessen Eroberung durch die Spanier ganze Indianerstämme mit ruhiger Würde von Berggipfeln in Abgründe hinab, weil dieses Ende ihnen erträglicher schien als die ihnen auferlegte Fron. Wenn das Harakiri bei einem so todesverachtenden Volke, wie es das extrem explosive japanische ist — dort grassieren manchmal wahre Epidemien des Sich-Hinabstürzens in den Krater des Fuji-Yama —, einen besonderen Sinn hat, so ist es der, dass das besonders Schmerzhafte der Prozedur und das Einhalten einer bestimmten sakralen Etikette in voller Öffentlichkeit, deren Durchführung oder Nichtdurchführung die ganze Sippe ehrt oder beschämt, den Entschluss zum Selbstmord besonders schwer macht. Was ich hier meine, ist die Haltung eines Oberhalb von Leben und Tod. Sie macht es möglich, scheinbar gänzlich Unvereinbares zu vereinen und eben damit eine Daseinsebene höherer Ordnung zu begründen. In diesem Sinne lebt noch heute in Japans höchstgezüchteten Kreisen die Sitte fort, in den letzten Minuten vor dem Tode ein chinesisches oder japanisches Gedicht zu schreiben, den sogenannten vom-Leben-Abschied-nehmenden-Vers.

Die Japaner sind gelehrt und dazu trainiert worden, schreibt Suzuki in seinem Buch über Zen und die japanische Kultur, einen Augenblick der Muße zu finden, um sich von den erregendsten Lebensansprüchen, die an sie herantreten, abzuwenden. Der Tod ist die ernsteste Angelegenheit, welche alle Aufmerksamkeit bannt. Die gebildeten Japaner jedoch meinen, dass sie über ihn hinaus sehen, ihn objektiv betrachten können sollten.

Hier handelt es sich um ein sehr anderes als jenes Spiel, auf welches Huizinga beinahe alle Äußerungen der Geistbestimmtheit im Menschen im Verstande eines Freuds-artigen nichts als zurückzuführen unternommen hat; wohl handelt es sich um Schau-Spiel im Sinn des besonderen Begriffs, der in den Meditationen aufgestellt wurde, aber dieses Schau-Spiel ist kein weniger Reales als das Natürliche und Todernste, sondern der eigentliche Weg der Geistverwirklichung auf der Ebene materiellen Daseins. Den metaphysischen Sinn der japanischen Einstellung zum Sterben geben die folgenden Aussprüche des japanischen Zen-Meisters Yekiwo trotz aller Kürze hinreichend erschöpfend wieder:

Wenn Sie wirklich den Wunsch haben, Zen zu meistern, dann müssen Sie einmal Ihr Leben aufgeben und direkt in den Abgrund des Todes tauchen — welchen Satz dann die folgende Ermahnung weiter erläutert: Die, welche an ihrem Leben haften, sterben, und die, welche sich dem Tode wie im Duell stellen (defy death), leben. Das Wesentliche ist der Geist. Blicken Sie in diesen Geist hinein und halten Sie ihn fest: dann werden Sie einsehen, dass es etwas in Ihnen gibt, welches jenseits von Geburt und Tod west und welches weder in Wasser ertränkt noch durch Feuer verbrannt werden kann. Ich habe persönlich Einsicht in dieses Samadhi gewonnen und weiß, was ich sage. Die, welche Gegenbewegungen dagegen spüren, ihr Leben hinzugeben und den Tod zu umarmen, sind keine echten Krieger.

Dieses Jenseits von Geburt und Tod ist nun tatsächlich der Urgrund und Ursprung des Menschen. Wer dieses Jenseits in sich realisiert hat, der steht damit über dem Empirischen des Sterbeprozesses und kann es als Künstler formen. Und erst wer so weit ist, stirbt in wahrhaft menschenwürdiger Haltung.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Vom Sterben
© 1998- Schule des Rades
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