Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Gemeinsamkeit

Generosität

Jede Tiefere Religion oder Weltanschauung gebot dem Menschen in irgendeiner Form nicht wider den Stachel zu löcken, d. h. das, was ihm einmal das Geschick oder Schicksal auferlegt hat, willig anzunehmen. Auf die Willigkeit kommt hierbei alles an: daher nur das innerlich bejahte Opfer überhaupt als Opfer gelten kann. Die Begriffe der Überlieferung, die in unserem abendländischen Unbewussten fortlebt, welche dem, was ich hier meine, am besten entsprechen, und die es, zusammengeschaut, ziemlich vollständig bestimmen, sind der lateinische amor fati, das französische sacrifice consenti, das christliche Gottvertrauen und vor allem die deutsche schenkende Tugend. Wer Gottvertrauen kennt — ich benutze das Wort hier als reines Sinnbild —, setzt einen Zusammenhang zwischen dem metaphysischen Selbst und dem was hinter ihm steht, und äußerem Schicksal. Der rechnet unmittelbar zu sich, was ihm von außen zu-fällt. Nicht jedoch, weil er gegenüber der Naturgegebenheit nur reagieren könnte und schon gar nicht, weil materieller Erfolg die Richtigkeit seiner Einstellung bewiese, wie dies der zu Behaviorismus und Pragmatismus entartete Puritanismus lehrt, sondern weil er anerkennt, dass es von seiner persönlichen Sinngebung abhängt, was die Tatsachen bedeuten und dass die Ebene der Bedeutung die des eigentlichen Menschenlebens ist. Versteht er den Zusammenhang so, dass Gott von sich aus den ganzen Sinn gäbe — was tatsächlich keine Religion gelehrt hat, sonst spielten die Vorstellungen von Sünde und Schuld keine entscheidende Rolle —, dann wälzt er zwar die letzte Verantwortung auf ein Transsubjektives ab, aber dieses Geistige erscheint dann noch ausschlaggebender und das Naturnotwendige und Schicksalsmäßige als bloßes Ausdrucksmittel von Gottes Willen noch mehr dem Geiste zu- und untergeordnet, als wenn er selber die ganze Verantwortung übernähme, so dass das Schicksal durch solche Deutung entwuchtet und entwirklicht wird. Und gerade das darf nicht geschehen, wenn der Mensch sich selber im Zusammenhang richtig sehen will. Da nun Gott unter allen Umständen nur durch das Bewusstsein hindurch und nicht von außen her für oder wider den Menschen wirkt — denn Er kann ihn ja nur durch die Bilder seiner Seele erreichen, welche von innen her kommen —, so halte ich bei der Lösung des praktischen Problems für sinngemäßer, beim Selbste als letzter Instanz stehen zu bleiben. Tut man dies nun, dann erweist sich die schenkende Tugend als der dem Wesentlichen angemessenste Begriff. Was immer von außen auf ihn einstürme, von sich aus schenkt der also eingestellte Mensch, was immer ihn betrifft; er schenkt seine Initiative, sein Opfer, seine Hinnahme, seine Demut und seinen Verzicht. Also schenkend, d. h. rein gebend ohne wiedernehmen zu wollen, öffnet er sich aber zwangsläufig den tiefsten Quellen seines Wesens, was immer diese seien. Denn niemand kann ausströmen, der seine Schleusen nicht öffnet, und öffnet er sie überhaupt, dann besteht Offenheit nach innen wie nach außen zu. Jeder musste es ja fühlen, wie frei er jedesmal wurde, wenn er sich rein schenkend einstellte, wie dann auch jede Kleinlichkeit verging im Annehmen von Eingebungen. Hat einer sich nun also den tiefsten Quellen in sich geöffnet, dann gewinnt auch das scheinbar passivste Erleiden einen neuen Sinn, der es in schöpferisches Wirken umwandelt. Auf einmal erscheint es gleich-sinnig und -gültig, ob einer etwas tut oder ob ihm etwas geschieht, ob einer sich männlich oder weiblich verhält, denn auf seine Art ist das weibliche Prinzip genau so schöpferisch wie das männliche. Fortan herrscht das Schöpferische in allen Richtungen und Hinsichten vor in ihm, der Zustand des Schöpferischen ist aber der eine unbedingt beglückende Zustand. Weil dem also ist, darum ist für das Bewusstsein jedes Verinnerlichten Geben seliger als Nehmen, Verzeihenkönnen süßer als Rache, Liebe, die dem Verbrecher seine bessere Zukunft vorgibt und sie dadurch als Keim in ihn säet, ein unermeßlich Höheres als Gerechtigkeit. Ja, in der Tiefe seiner Abgeschiedenheit ist der Mensch nur der Gebende, Verzeihende, der Liebende und Opfernde. Darum ist den Göttern Opfer Darbringen, und sei das Geopferte an sich völlig wertlos, die prototypische Kulthandlung.

Als Mann besonders leidenschaftlichen Naturells und besonders mächtiger erdgeborener Vitalität bin ich mit Zuständen, in welchen der reine Machtanspruch des undurchgeistigten Lebens die Alleinherrschaft anstrebt, besonders vertraut; oft ist es mir monatelang kaum zu ertragen gewesen, dass einer, von dem ich mich verunglimpft fühlte, überhaupt unter den Lebenden weilte. Und dennoch: lauschte ich in mein tiefstes Inneres hinein, dann entdeckte ich darin nicht einen Rache-, nicht einen Vergeltungsgedanken, überhaupt kein einziges Phänomen, dessen Ursprung in Ur-Hunger und Ur-Angst läge. Gleiches kann bei genügender Übung in der Selbsteinkehr jeder, auch der, welcher von bösesten Trieben beherrscht wird, von und in sich erfahren, denn diese Triebe sind ja nicht er selbst, er verfällt ihnen wie fremden Gewalten, wie dem Alkohol und Morphium. Wer aber zu solcher persönlicher Erfahrung noch nicht reif ist, der wird, stellt man ihm die Frage, doch so viel zugeben müssen, dass er den Verzeihen-, Lieben- und Opfernkönnenden unwillkürlich mehr als jeden anderen Menschentypus verehrt. Solches Verehren eines Außer-Sich bedeutet aber ein Gleiches wie persönliches Innewerden, denn keiner verehrt außer sich, was nicht zutiefst der Sehnsucht in sich und damit als Keim einem zu Verwirklichenden entspricht. Man gedenke des Worts, welches Pascal Gott in den Mund legt:

tu ne me chercherais pas, si tu ne m’avais déjà trouvé.

Was ist es nun mit den genannten edelsten Eigenschaften? Sie sind allesamt ausstrahlend und ausschließlich ausstrahlend. Einmal in die Welt hinausgetreten, können sie überhaupt nicht mehr ins Ich zurückfinden. Wer sich nun für dieses Ausstrahlende und ohne Reziprozitätsanspruch Schenkende, Vergeudende in sich entschieden hat, der merkt allemal und desto mehr, je weiter er auf dem betretenen Wege kommt, dass er durch Verschenken nicht ärmer, sondern immer reicher und reicher wird. Das wissen Eingeweihte natürlich lange schon, aber die Wahrheit wurde bisher fast immer schief gefasst überliefert: nicht auf dem Verzichten, sondern auf dem Schenken ruht der Nachdruck, und nicht auf dem Ich und auch nicht auf dem Du, sondern auf dem Ausstrahlen aus einem Höheren, als es sowohl Ich als Du sind. Wer da nun also schenken kann, der lebt aus einer neuen Gemeinsamkeit heraus, die mit der natürlichen Gemeinschaft nichts zu tun hat, dieser jedoch im Sinn des mittelalterlichen Korrespondenzgedankens entspricht. Sie liegt dem ursprünglichen Gedanken der Kirche als einer Gemeinde der Heiligen zugrunde. Wer in dieser Gemeinsamkeit Wurzel gefasst hat, welche auch oberhalb von Ich und Du, nicht jedoch in der Dimension des Objektiven, sondern des Transsubjektiven ihren geistigen Ort hat, der und der allein kann die Forderungen der Selbstlosigkeit erfüllen, welche missverständlicherweise auf der Naturebene gestellt werden. In dem nämlich spielt das Ich keine andere Rolle mehr, als die des Regulationszentrums des individuierten psychophysischen Organismus; für den besteht zwischen einem Leben für sich und für alle überhaupt keine Spannung mehr, denn beides ist ihm gleichermaßen persönliches Ausdrucksmittel; dessen Selbstbewusstsein umfasst nicht nur den Zusammenhang aller Menschen, welche zu ihm gehören, es umfasst weit mehr. Es ist Kosmosbewusstsein geworden.

Wer nun vom Weltall her denkt und empfindet und fühlt, für den liegen alle Dinge und Probleme ganz anders als für enge Herzen, Seelen und Geister. Und überschauen wir von hier aus noch einmal den Weg, den wir bisher durchmessen haben, dann finden wir, dass das gesamte Problem der Gemeinsamkeit seinen Angelpunkt in der schenkenden Tugend hat. Als Kant das preußische Soll zum kategorischen Imperativ erhob, da äußerte Goethe dem Kantianer Schiller gegenüber Bedenken gegen die Antinomie Pflicht oder Neigung. Er hatte recht damit. Was immer als Sollen verstanden werden kann, beruht auf Intellekt- und Willensforderung und stammt damit aus dem abgeschnürten Ich, dem Ich des Egoisten, obgleich es gerade das Ich als Letztinstanzlichkeit verneint; denn nur der Egoist will vergewaltigen, anstatt durch Verhandlung eine den Existenzbedingungen aller Teile gemäße Lösung zu suchen. Darum sind alle konkreten Sollforderungen auf Erden von besonders Ichverhafteten durchgesetzt worden. Darum ist alle Soll-Kultur eine mechanische und damit lebensfeindliche. Umgekehrt kann es eine geistbestimmte Neigungskultur auch nicht geben, weil die Neigung der elementaren Naturebene angehört und gerade das als Wert verleugnet, womit menschliche Kultur allererst beginnt: die Selbstbeherrschung und -überwindung. Wird die Frage nun anders gestellt, so wie wir es getan haben, und sucht man unter Absehen von allen Soll-Begriffen die reale, in jedem vorgebildete schenkende Tugend zu entwickeln, dann entsteht auf die Dauer ganz von selbst eine Einstellung, welche den ganzen Reichtum des Lebens bejaht und ihm zugleich vom Geiste her einen neuen, rein positiven Sinn verleiht, welcher sich im Lauf der Durchdringung der Erscheinung immer selbstherrlicher offenbart. In dieser Einstellung haben alle höchsten Kräfte des Menschen ihren Urquell. Wer im Stande der Abgeschiedenheit steht, der beweist diesen gegenüber ganz selbstverständlich, ohne es überhaupt zu merken, höchste Geöffnetheit und Empfänglichkeit. Für sich und von sich aus strahlt er nur aus, und je reiner ausstrahlend er sich verhält, desto höhere Energien stehen ihm zur Verfügung und desto weiter wird das Reich dessen, was deren Strahlen erreichen und durchdringen. Diesen Zusammenhang haben bisher die Chinesen am tiefsten erfasst. Kaiser Shun habe nur dagesessen, sein Antlitz gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie; alles geschah genau so, wie er es wollte, und dennoch fühlten sich alle seine Untertanen selbständig. Oder: habe der Himmelssohn seine Person ganz in Ordnung gebracht, dann würden nicht nur die Völker von den vier Ecken der Welt zu ihm pilgern, um sich freiwillig seiner Herrschaft zu unterstellen, nein, dann würde es auch allemal rechtzeitig regnen. Der für diese Betrachtung an erster Stelle in Frage kommende Sinn dieser Bilder ist der, dass der Ent-Ichte unwillkürlich gemeinschaftsbildend wirkt. In unserer Überlieferung versinnbildlichen gleiches, nur in einem etwas anderen Aspekte, die Mythen vom Tierbezauberer Orpheus, vom heiligen Franz, welcher in allen Geschöpfen Brüder und Schwestern sah, vom Starez Sossima, der sich für alle Verbrechen auf Erden mitverantwortlich fühlte, und von Christus, welcher die Schuld aller Menschen auf sich nahm und sie damit alle erlöste. Gleiches bedeutet schließlich auch das indische Tat Twam Asi, das bist Du. Wer sich dergestalt in jeder Existenz selber wiederfindet, dem steht alles und jedes gleich nahe wie sein Ich. Indem er aber also alles ursprünglich bejaht, kann er nicht im üblichen Sinne richten, denn alles Richten, so unparteiisch es sein solle, besteht de facto in Parteinahme für bestimmte Gegebenheiten. Daher die Lehre des Zen-Buddhismus, dass, wer den Weg zum Höchsten Ziele antritt, als erstes verlernen müsse, zu unterscheiden. Daher das Christuswort: Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet. Kosmos-Bewusstsein geht notwendig mit vollkommener Generosität zusammen. Praktisch muss freilich jeder immer wieder diskriminieren, um sein Sonderdasein zu behaupten und im gleichen Verstande anderen gerecht zu werden. Doch nicht auf die Tatsachen, sondern auf die Gesinnung kommt es letztlich an. Wenn der Gott der Liebe züchtigt, so bedeutet das anderes, als wenn der Teufel straft.

Als kürzester und sicherster Weg zum Gemeinsamkeitsbewusstsein erweist sich damit nicht die Abtötung oder Herabwürdigung des Ich, sondern die Generosität. Absichtlich ersetze ich an dieser Stelle das Wort schenkende Tugend durch ein Wort von um eine Nuance abweichender Bedeutung: Wer generös ist, ist nämlich par définition frei von sich, indem er ebenso selbstverständlich, je nach der Situation, vor- und nachgibt, verzichtet, vergibt und vergisst, wie er aus seiner Fülle schenkt, während der Schenkende sich selber nicht leicht anders denn als Reicheren und damit überlegenen vorstellt. Wer nun Generosität lernen will, der muss erst recht nicht bei den andern, sondern bei seinem eigenen Ich ansetzen, also bei der Generosität gegenüber sich selbst. Es ist nämlich sehr viel schwerer, gegen sich als gegen andere generös (im Unterschied von self-indulgent, aus Schwäche nachgebend) zu sein. Selbstliebe, Eitelkeit und geistiger oder geistlicher Hochmut schaffen nämlich in jedem unwillkürlich ein idealisiertes Bild seiner, an welches er sich unwillkürlich klammert. Auf dieses Bild bezieht sich seine Selbstachtung. Darum fällt es vielen schwerer, dieses Bild preiszugeben, indem sie sich ihr Versagen eingestehen, als sich durch Eigensinn und Lüge ins Verderben zu stürzen. Wie sollte es da nicht sehr viel schwerer sein, sich selber als anderen zu verzeihen! Es prüfe doch ein jeder seine persönlichste Erfahrung nach: mit der Schuld jedes Anderen, welcher ihn schädigte, wird er leichter fertig als mit der eigenen; die meisten vergessen nach nicht sehr langer Zeit, was ihnen angetan wurde, nie jedoch, was sie anderen antaten; Rachedurst ist ein millionenfach Selteneres als Selbstquälerei. Diese aber ist von den beiden das Schlimmere, denn sie zersetzt die Seele und vergiftet vom Unbewussten her die ganze Atmosphäre um sie herum. Darum hat jede Kultur der schenkenden Tugend bei der Generosität sich selbst gegenüber anzusetzen. Genau wie Gott den Sünder dem Gerechten vorzieht, so soll es auch der Mensch mit beiden in sich selber halten, denn nur der Gerechte steht der Höherentwicklung ernstlich im Weg. Dass der Geist des Protestantismus der Generosität so sehr entbehrt, dass dadurch der Selbsthass zu einer Macht auf Erden erwuchs wie nie zuvor — das ist der tiefste Grund der Greuel, in welche das optimistische Fortschrittszeitalter ausgeklungen ist.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Gemeinsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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