Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Gemeinsamkeit

Eroberung des Schicksals

Doch nicht alle Völker und Kulturen gehen in ihrem Denken und Fühlen vom Ich aus, und bei allen stellt das Gemeinsamkeitsbewusstsein gegenüber dem Ichbewusstsein das Ursprüngliche dar. Daher der selbstverständliche Kollektivismus aller Primitiven. Daher der Primat des Schicksalsgefühls gegenüber dem Eigenwillen, den man bei so vielen Völkern findet. Einen solchen Zustand bei einem Negerstamm hat Tania Blixen besonders einleuchtend beschrieben. Diesem Stamme sind die Grundprobleme des Ichzentrierten, wie persönliches Wohlbefinden und Krankheit, Glück und Unglück, Leiden und Tod, überhaupt keine Probleme. Mit großartiger Selbstverständlichkeit ertragen sie, falls es sie heimsucht, das Allerfurchtbarste. Und sie planen überhaupt nicht: ihre Grundeinstellung ist die der Bereitschaft für das Unerwartete, welches dem Leben von Tag zu Tag seinen eigentlichen Inhalt gibt. Ein höheres Stadium auf der gleichen Entwicklungslinie verkörpert der Beduine: ihm ist die Welt kein Gefüge von Notwendigkeiten, sondern von gottgewollten Zufällen. Darum sitzt er meist passiv da, kaum aber geschieht Unvorausgesehenes, z. B. es zieht eine Karawane vorüber, so sieht er darin eine Aufforderung Gottes zum Handeln und greift blitzschnell zu oder ein. Noch die ursprüngliche Einstellung jeder naturhaften Europäerin, so gebildet sie im übrigen sei, ist ähnlich: sie nimmt das Leben, das ihr auferlegt ist, hin. Vom Ich aus denkt sie nur in der Zeit zwischen dem Mannbarwerden der Jungfrau und der Entscheidung für einen bestimmten Mann. Fortan rechnet sie mit dem unabhängig von ihrem Willen Bestehenden, und denkt nicht an schicksalschaffende oder -brechende Initiative. Das Schicksal als Tragödie haben zuerst die Griechen und in dieser bestimmten Form wohl überhaupt nur sie empfunden. Sie glaubten einerseits an eine selbständige übermächtige Moira, fühlten sich andererseits als freie verantwortliche Menschen, und dies ergab einen unlösbaren tragischen Konflikt. Der moderne Mensch hat den Schicksalsbegriff zu eskamotieren versucht, indem er seiner Eigeninitiative alles wenn nicht wirklich zutraute, so doch theoretisch zusprach — der letzte Ausdruck dessen ist die Unart der Psychoanalytiker, alle eintretenden Zufälle auf Beschwörungen des Unbewussten zurückzuführen —, oder ablehnte, das unabhängig von seinem Willen Geschehende zur Kenntnis zu nehmen, es sei denn als Material für seine Willensentschlüsse. Demgegenüber bedeutete die mittelalterliche Gepflogenheit, bei jeder persönlichen Entscheidung gleichzeitig so Gott will mitzudenken, die ungleich wissenschaftlichere Haltung. Wir nun haben im Vorhergehenden einen neuen Begriff begründet, der meiner Ansicht nach dem modernen Bewusstsein den besten Weg zu verstehender Betätigung weist: den der Gemeinsamkeit als Schicksal. Schicksal ist die bestimmte Geborenheit, Schicksal jede auferlegte Zugehörigkeit, Schicksal das selbsterschaffene Karma, sobald es einmal in die Welt gesetzt ist. Damit steht dem abgeschiedenen Selbste unmittelbar ein weltweites Nicht-Ich gegenüber, welches es zu sich zu rechnen hat.

Auf Einzelheiten des Schicksalsproblems will ich hier nicht eingehen. Es denke ein jeder von den gegebenen Stichworten her auf Grund seiner persönlichen Lebenserfahrung von sich aus weiter. Wer meine Auffassung genau kennenlernen will, der wird manche Behandlung des Schicksalsproblems von verschiedenen Gesichtspunkten her in vielen meiner Schriften finden. Der Rahmen der vorliegenden Betrachtung erfordert nur noch einige kurze Hinweise, und zwar auf folgendes. Der Mensch ist nicht nur ein vielschichtiges Wesen — die verschiedenen Schichten sind verschiedenen Ursprungs. Nur ein Teil seiner stammt von den leiblichen Eltern ab; andere Teile entstammen Umwelteinflüssen, das Selbst ist Kind des reinen Geists, und offenbar müssen auch die Sterne im Verstande der Astrologie als Eltern gelten; sonst stimmte nicht beinahe jedes richtiggestellte Horoskop, sonst käme es nicht sozusagen auf gleiches heraus, ob einer bei der Beschreibung der Elementarnatur eines Menschen zum Himmel aufschaut oder hinab in die Untergründe seiner Seele. Aber all dieses so oder anders Geborene kann das persönliche Selbst sich zu- und unterordnen; diesen Prozess heiße ich Eroberung des Schicksals. Die vorliegenden Betrachtungen sind allesamt vom abgeschiedenen Selbste her angestellt. Und von ihm aus geurteilt ist es einerlei, welches die Ursprünge der besonderen Gemeinsamkeit sind, welche es jeweils zu erobern hat. Da ich hier nun aber das Wort erobern benutzt habe, ohne mich näher darüber zu erklären, so sei schnell noch dies hinzugefügt: das fragliche Erobern ist kein Überwinden im Sinn der Entmachtung und Unterjochung, sondern der Erfüllung im Sinn des Ausspruchs Jesu, dass er gekommen sei, nicht aufzuheben, sondern zu erfüllen. Von hier aus erkennt man denn mit abschließender Klarheit, wie sinnwidrig es ist, um der Abgeschiedenheit willen die Gemeinsamkeit zu verleugnen. Man sieht aber auch, wie absurd jeder mechanische Schicksalsbegriff ist, sei es derjenige Spenglers oder derjenige der landläufigen Astrologie. Nichts ist vorherbestimmt im Sinn der Naturnotwendigkeit, wie sie das XIX. Jahrhundert vorstellte, noch auch im Sinn calvinisch-islamischer Prädestination. Denn indem der Geist erfüllt, kann er allem und jedem einen neuen, seinen Sinn geben, wodurch alles anders wird, als es nach Verstandesvoraussicht werden musste.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Gemeinsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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