Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Einführung

Brevier für Jedermann

Dieses Buch, welches ganz anderer Art ist, als alle meine früheren, entstand auf eigentümliche Weise. Ich hatte überhaupt nicht an Derartiges gedacht. Da bat mich gesprächsweise ein Mitarbeiter des XX. Jahrhundert, eine wirklich klare Grenzziehung zwischen Religion und Psychologie vorzunehmen, denn solche fehle bisher und es walteten vielerlei verderbliche Missverständnisse. Daraufhin schrieb ich die erbetene Betrachtung gleichen Titels, welche der Leser in diesem Bande wiederfindet. Da ich mich sehr kurz fassen musste, bestrebte ich mich, nur Quintessenzielles zu geben. Dann aber war ich dennoch besorgt: würde dermaßen Verdichtetes verstanden werden? — Zu meinem Erstaunen fand diese Arbeit, die ich für eine meiner schwerstzugänglichen hielt, ein weiteres verstehendes Echo, als irgendeine frühere. Das nun beglückte mich, denn meiner Natur liegt jetzt, nachdem ich mein sechzigstes Lebensjahr überschritten habe, viel mehr, Quintessenzielles als breit Ausgeführtes zu geben. So fasste ich denn den Plan eines Breviers für Jedermann, welches Richtlinien, aber auch nichts als Richtlinien enthielte für die selbständige Befassung mit den Lebensproblemen, welche sich dem Besinnlichen, der sich über sich selbst und seine Stellung in der Welt ganz klar werden will, gerade in dieser Zeit vor allen anderen stellen. Jede der Betrachtungen, welche dieses Brevier enthielte, sollte einerseits so dicht und knapp als nur möglich, andererseits aber gemeinverständlich sein im Sinne dessen, dass sie keine besonderen Vorkenntnisse, zumal nicht die meiner eigenen früheren Werke, voraussetzte, sondern nur echtes Interesse, den guten Willen zum Anhören eines Anderen und Denkfähigkeit.

Da erwies es sich denn, dass gerade dieser, vorher überhaupt nie bedachte Plan in meinem Unbewussten vollkommen ausgereift war. Nie früher sind mir Gedanken so leicht in die Feder geflossen, es schien buchstäblich alles dazusein. Natürlich habe ich später, so gut ich es vermochte, nachgefeilt, aber viel fand ich nach der ersten Formgebung nicht zu tun übrig.

Hoffentlich wirken alle diese Betrachtungen ebenso befruchtend auf das Eigene meiner Leser, wie es die getan hat, deren Veröffentlichung den Plan dieses Buches ausgelöst hat. Ich wiederhole: sein Verständnis setzt keine Kenntnis meiner früheren Schriften voraus. Aber einige unter denen meiner Leser, welche durch vorliegendes Brevier zum ersten Male zu mir fanden, werden vielleicht nach der Lektüre nähere Ausführungen dessen kennenlernen wollen, was ich hier nur kurz andeuten oder zusammenfassen konnte. Da ich viele Bücher geschrieben und mich mit den meisten Problemen irgendeinmal befasst habe, so kann ich hier keinen Rat geben, der nicht ob seiner Ausführlichkeit dem Stile dieses Buches widerspräche. Wissbegierigen sei darum nur soviel mitgeteilt. Die Grundeinsichten, von denen her ich alle Lebensprobleme behandele, finden sich als solche in meinem bisherigen Hauptwerk, den Südamerikanischen Meditationen, ausführlich bestimmt. Meine besondere Auffassung vom Geist und den Möglichkeiten der Vergeistigung des Erdenlebens aber enthalten in programmatischer Form die beiden zusammenhängenden Grundwerke der Lehre von der Sinneserfassung und Sinnesverwirklichung: Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt.

Schloss Schönhausen an der Elbe
Im Mai 1941
Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Einführung
© 1998- Schule des Rades
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