Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Leidenschaft und Tat
Arbeitsethos
Alles dieses schreibe ich natürlich von den Voraussetzungen des einsamen Selbstes als letzter Instanz des persönlichen Menschen und von der Abgeschiedenheit her als dem eigentlichen Orte seiner Existenz. Wer seines einsamen Selbstes noch gar nicht bewusst geworden ist, dem kann ich unter keinen Umständen raten, denn alle Problemlösungen, zu denen ich verhelfen kann, liegen jenseits eines Zustandes, in welchem der Mensch nur das Interferenzprodukt mannigfaltiger unter- und unpersönlicher Kräfte verschiedensten Ursprungs darstellt. Wenden wir uns nun zum Schluss dem Allgemeinzustand des modernen Abendländers zu. Dessen Prototyp ist der nordamerikanische. Der Amerikaner hält sich selber für den energischen Menschen par excellence. Das war er einmal auch. Heute jedoch: begegnet einer einem Menschen langsamster geistiger Reaktion, geringster Konzentrationsfähigkeit und größter Ermüdbarkeit, welcher im ganzen einer von einem Gewitterregen tags überraschten und zu Boden geschlagenen Fledermaus gleicht, so besteht neunzig Prozent Wahrscheinlichkeit dafür, dass es ein Amerikaner ist, dessen Großeltern urwüchsig-kraftvolle Pioniere und dessen Eltern an der frenetischen Industrialisierung aktiv beteiligt waren. Ein extremes Arbeitsethos, welches unter Elementartrieben nur das Gewinnstreben bejaht, hat, wie die Tatsachen eindeutig beweisen, sterilisierend gewirkt.
Was hier in Erscheinung getreten ist, ist Ausdruck nicht des Gesetzes, dass der Muskel durch Übung wächst, sondern des anderen, dass geschlechtliche Überverausgabung die Vitalität schwächt und schließlich zerstört. Diesen unglücklichen Endprodukten eines exklusiven Arbeitsethos fällt im Grenzfall gar nichts mehr ein, sie verstehen auch nichts, kennen keinerlei Leidenschaft, kriegen keine Kinder mehr und erstarren greisenhaft in einem infantilen Zustand. Damit nun ist Amerika nur um einige Schrittlängen voraus in einer Entwicklung, welche der Mensch des technischen Zeitalters überhaupt auf Erden angetreten hat. Das ganze moderne Arbeitsethos ist Intellekt-, und nicht Leidenschaftgeboren; es ist überhaupt nicht vom Radschas-Prinzip inspiriert; darum ist es überhaupt kein Ausdruck des Tätertums, welches allein wir im Verlauf dieser Betrachtung meinten. Vom Standpunkt des Amerikaners, aber immer mehr auch des Europäers, gehört Leidenschaft zu den inordinate affections, in der ursprünglichen Bedeutung des Ausdrucks dem Unordentlichen
der Seele, das durch disziplinierten Fleiß ersetzt werden soll. Verstand plus Wille plus Zwang von außen plus diesem entsprechender Gehorsam sollen besser leisten, was in aller bisherigen Geschichte nur höchstem Schöpfertum gelang. Die Leistungen, welche diese Auffassung gezeitigt hat, sind freilich gewaltig. Aber ebenso gewiss ist, dass damit eine Entvitalisierung begonnen hat, die, wie wir zeigten, der Entropie vergleichbar ist. Geht es noch lange so weiter, so wird es keine großen Taten, keine echten Schöpfungen mehr geben. Die Mehrheit der Menschen wird, soweit dies ursprünglichen Warmblütern möglich ist, in einen dem der geschlechtslosen Arbeiterinnen unter Ameisen und Bienen vergleichbaren Zustand einmünden. Immer gewaltigere Leistungen werden von einem immer dürftiger und trockener gewordenen Menschengeschlecht vollbracht werden. Dann wird Tamas über Radschas und Sattwa gesiegt haben. Die Welt der Exekutive, d. h. der nicht-schöpferischen Arbeit, gehört nämlich durchaus dem Reich der Tamas und damit der Trägheit an.