Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Schweigen und Stillhalten
Diskussion
Betrachten wir das gleiche Grundproblem ohne Übergang von einer ganz anderen Seite her. Alle Zivilisationen vor der allerjüngsten, welche vom Westen her den Erdball erobert, sahen in der Muße ein Höheres als in der Arbeit. Darin lag einerseits gewiss ein Bekenntnis zum Werte der Bequemlichkeit und ein völliges Verkennen des Segens der Beschäftigtheit; über alles das, was mit dem Sprichwort Müßiggang ist aller Laster Anfang
sowie der Tatsache, dass Sklaven oder sonst Unterdrückte alle eigentliche Arbeit verrichteten, zusammenhängt, braucht in unserer Zeit des frenetischen Schaffensdranges nichts weiter gesagt zu werden. Aber da alle Hochkulturen der bisherigen Geschichte edle Muße dauerndem in-Anspruch-genommen-Sein vorzogen, ja ohne diese Gesinnung in ihrem Sosein unvorstellbar sind, so muss der Sachverhalt doch auch eine sehr wesentliche andere Seite haben, welche neuerdings weniger als ehemals gewürdigt wird. Und diese richtig zu sehen, scheint mir gerade heute vonnöten, weil das ungeheure, ja ungeheuerliche Arbeitstempo dieser Zeit ganz offenbar von allen an ihm Beteiligten, so oder anders, als Vorstufe einer schöneren Zukunft empfunden wird, in welcher edle Muße wieder möglich würde. Darum sei hier die erforderliche Richtigstellung der Bezeichnungen versucht.
Da muss denn zugegeben werden: unsere Zeit lebt, wie wenige vorher, von falschen Antithesen. Seit je alternieren im geschichtlichen Leben, wie beim Herzschlag, Systole und Diastole, Ausweitung und Zusammenziehung. Insofern ist die Spannung zwischen weltweitem Katholizismus und Verengung-bedingendem Protestantismus normal und gesund und ebenso die zwischen imperialer und nationaler Gesinnung; die Alternanz in der Wertbetonung bedeutet ein fruchtbares Wechselspiel. Die gleiche Antithetik aber erscheint entartet, wenn der katholische Pol von engstem Dogmenglauben besetzt wird und der protestantische von der Abkehr von aller Spiritualität, und gleichsinnig der imperiale durch eine alle Lebensumrisse verwischende Internationale und der nationale durch ausschließliche Bewertung der empirischen Sonderart. Mit Arbeit und Muße nun verhält es sich zwar nicht genau analog, jedoch ähnlich. Richtig besetzt, vertritt nämlich der erste Pol nicht die an äußerem Zweck beurteilte Leistung, sondern die zum inneren Umsatz erforderliche Bewegtheit und Verausgabung, und der Gegenpol nicht Faulenzerei und Zerstreuung, sondern inneres Wachstum, welches in Neuschöpfung ausmündet. Aus dieser einen Richtigstellung leuchtet ohne weiteres ein, warum allen großen Kulturen das persönliche Sein und damit schöpferisches Leben mehr bedeutet hat als sachliches Können und damit Ausführung (im Verstande der beiden zusammenhängenden amerikanischen Begriffe promotion und executive) und warum sie alle die Muße für lebenswichtiger hielten als die Arbeit.
Bei jedem schöpferischen Menschen ist das noch heute so. Warum? Weil jede geistige Entscheidung jenseits der bloßen Beschäftigungsmöglichkeit liegt. Eine Idee fällt einem ein; ein Buch reift im unbewussten Innern, ein Plan gestaltet sich in der Stille aus. Sogar wer wichtigste praktische Entschlüsse zu fassen hat, muss sich vor Überbeschäftigung hüten: in allzu angespannte und bewegte Außenschichten des Bewusstseins kann nichts einfallen
und inmitten von Hast und Übermüdung kann nichts reifen. So werden gewiss alle großen Universitätsprofessoren Deutschlands mit denen, welche ich danach fragte, einer Meinung sein, dass das Wichtigste am Lehrjahr für sie die Ferien sind. Und so sind sie’s auch, wenn auch nicht im gleichen Maße und Grade, für die begabten Studenten. Gerade in den Monaten, in welchen Gedächtnis, Aufmerksamkeit auf Äußeres und Zeit keine Rolle spielen, wirkt sich das inzwischen Gelernte und Erarbeitete als innerer Aufbau aus. Und auf diesen kommt es in erster Linie an. Nun sind nicht viele Menschen im höchsten Sinne schöpferisch, die meisten sind wirklich in erster Linie Arbeiter und nur als solche nicht allein für das Gemeinwohl nützlich, sondern auch glücklich. Doch die auf gezeigte entartete Antithese Arbeit-Faulheit (zu der auch die Art des Ausruhens gehört, die ein ebenso Mechanisches ist wie Routine-Arbeit) verdirbt alle, welche sie unbewusst für gültig halten, weil dieses Vorurteil sogar das bisschen Schöpferkraft, über das sie verfügen, unterminiert.
Die einzig richtige Antithese oder genauer Polarität, die man auf- und feststellen kann und auch soll, ist die zwischen Reden und Schweigen, Tun und Stillhalten. Die Muße als solche bedeutet nur eine Gelegenheit, keinen Selbstzweck; eine Gelegenheit zum Inne-Werden und Ausreifen-Lassen. Da können wir nun gleich, über das bisher Erkannte hinausgehend, die folgende These aufstellen: was immer dem Pole der Bewegung nach außen zu angehört, gehört eben damit dem Pol des Sich-Aus-Lebens, des Sich-Ausgebens an, denn alle organische Entwicklung und Entfaltung führt dem Ende zu, und alle Vollendung bedeutet eben damit ein Ende. Was immer jedoch dem Pol des Stillhaltens zugehört, dient dem Prozess des inneren Aufbaus und Wachstums. Umgekehrt gedeiht alles Wachstum nur in der Stille. So bedeutet es einen uneigentlichen Ausdruck, wenn man sagt, man kämpfe mit sich oder in sich, um vorwärts zu kommen. Beim richtigen Kämpfen mit sich oder mit dem Bösen
in sich kommt nämlich zuerst — gemäß dem von Coué entdeckten Gesetz des effort converti — das genaue Gegenteil dessen heraus, was man bezweckt, und erst stille Aufsichnahme (im Sinn der von Hause aus akzeptierten Tragik alles Lebens oder des Schuldbewusstseins) des also konstellierten und in seiner Macht gesteigerten Bösen bewirkt als zweites Stadium das, was dem Kampfe an sich zugeschrieben wird. Aber während des Kampfes ist stilles Wachstum unmöglich. Wachsen kann man nur, sofern man auf der Ebene, auf welcher das Wachstum statthat, nicht kämpft, sondern sich öffnet und mit sich geschehen lässt. Dieser Behauptung widerstreitet mitnichten die Erfahrungstatsache, dass jeder bedeutende Mensch an der Widerwärtigkeit gewachsen ist: er wächst nämlich dann allein, wenn er zwar äußerlich kämpft und damit seinen Mut und seinen Glauben — des Geistes Primärausdrücke — betätigt, zugleich aber innerlich sein Kreuz auf sich nimmt, im ursprünglich-christlichen Sinn, also nicht dem Übel widerstrebt, sondern es durch Gutes zu überwinden, das heißt zu überwachsen trachtet. Von der Kämpfereinstellung aus ist immer nur eines möglich, immer nur eins Ergebnis: Krieg. Dessen elementarster Ausdruck ist dabei der positivste. Auf dieser Ebene äußert sich der Machtanspruch des Ur-Hungers rein, es wird ehrlich Vernichtung des Gegners angestrebt. Und der Einsatz des eigenen Lebens und die Bereitschaft zum Sterben konstellieren wirklich all den Geist, der sich auf so elementarer Ebene überhaupt äußern kann. Doch sobald der Krieg auf geistige Ebenen übertragen wird, wirkt er Unheil, und dies zwar fortschreitend mehr proportional der Höhe der Geistigkeit. Noch keiner wurde je durch Diskussion erkenntnistiefer: wer diskutiert, will einen Standpunkt behaupten oder einen anderen erledigen, er will also wesentlich als der beharren, der er ist. Alles Wachstum im Geist hingegen erfolgt in der Bereitschaft zur Veränderung, zur Verwandlung, zum Mehr-Werden und damit zur Aufgabe des bisherigen Standpunkts. Gleichsinnig bedeuten Glaubenskämpfe ein antireligiöses Geschehen; nur die Unterwelt des Menschen hat Vorteil von solchen, nie der Geist. Und nicht besser steht es vom Standpunkt der Innerlichkeit und damit des Geistes mit dem Wettkampf. Die Behauptung, dass je ein großes Werk aus dem Geist des Wettbewerbs erwachsen sei, führt irre. Freilich mag letzterer den Ehrgeiz beschwingen, die Vitalkräfte steigern, mag der Sieg zu weiteren Leistungen anspornen.
Doch hier handelt es sich eben um Leistung als solche, und gerade eine Leistung
ist eine Geistesschöpfung wesentlich nie. Ich glaube wohl, dass der Agon den Griechen viel bedeutet hat: doch das lag an deren schier beispiellos gewinnsüchtigem, neidischem und grausamem Charakter. Die hellenische Wettkampfidee schloss keinerlei fairness, keinerlei Großmut dem Schwächeren gegenüber ein. Bei den Griechen allein galten ja auch Hass und Rache als berechtigte, ja als berechtigterweise letztentscheidende Motive bei einer Handlung. Bei den großen griechischen Geistesschöpfern lagen die Dinge wohl so, dass sie die Einstellung auf Sieg bemerkenswert gut vertragen haben, was wohl darauf beruht, dass diese ihnen als Griechen so selbstverständlich war, dass sich daraus keinerlei besondere Problematik für sie ergab. Die meisten heutigen Schöpfer verlören jede Unbefangenheit und auf die Dauer jeden Kontakt mit ihren eigenen Tiefenkräften, wenn sie beim Schaffen an Sieg dächten. Wie sehr das wahr ist, beweisen die Hunderte von Talenten, die in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts auf Grund eines erzielten großen Erfolges krampfhaft weiterschufen, auch wo nichts Neues in ihnen herangereift war, und daran vollkommen verdarben. Auf der Ebene des Geistes gibt es nämlich keinen Ehrgeiz. Bei der komplexen Vielschichtigkeit des Menschenwesens sind zwar recht viele Schöpfer auch ehrgeizig, und vielen schadet das nicht, es regt sie vielmehr an; nie jedoch kann Ehrgeiz Motiv des Geistes selber sein. Letzterer ist in jedem persönlichen Falle schlechthin einsam, unvergleichbar, ohne bewusste Beziehung auf irgendeine Gemeinsamkeit, ausschließlich auf Selbstverwirklichung bedacht.