Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Inspiration und Erziehung
Entfaltung und Ausbildung
Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten Nordamerikas im Jahre 1928 wurde mir zuerst vollkommen klar, inwiefern sich das, was gewöhnlich das erzieherische Ziel der Schule der Weisheit genannt wird, von dem, was sonst unter Erziehung verstanden wird, grundsätzlich unterscheidet. Zwar hatte ich schon einige Jahre früher (in den Kapiteln Jesus der Magier
von Menschen als Sinnbilder
und Geisteskindschaft
von Wiedergeburt
) zwischen befruchtenden und gebärenden und damit väterlichen und mütterlichen Geistern eine Grenzziehung versucht. Die einen sind dazu berufen und geschickt, durch zeugerischen Einfluss Entstehung und Entwicklung neuen bestimmten Lebens einzuleiten, was sie jedoch herausstellen, ist an sich Sperma (daher der Ausdruck Logos spermatikós), das keine vollendete Gestalt ist, noch je zu solcher wird; indem es sich mit Weiblichem vermählt, geht es, so wie es war, verloren, und die Endgestalten, deren Geburt es ermöglichte, zeigen wenig Ähnlichkeit mit dem Erzeuger. Man denke an den gewaltigen Bau der christlichen Theologie im Vergleich zu den wenigen authentischen Worten Jesu, an den der späteren abendländischen Wissenschaft gegenüber deren primus movens Sokrates, an die zahllosen Weltanschauungen des Werdens
gegenüber deren erstem Urheber Heraklit, endlich an die Tatsachen der Weltrevolution gegenüber Nietzsche. Und wie die einen berufen und geschickt sind, zu zeugen, so sind andere berufen zum Austragen, Gebären und Vollenden. Alle großen Vollender waren mütterlicher Art, wie in Deutschland in erster Linie Goethe. Darum sind von Goethe (wie von allen Geistern seiner Art) so gut wie keine Impulse, welche Neues ins Leben riefen, ausgegangen; aber was immer er gestaltete, stellte eine so vollständige Erfüllung der betreffenden Möglichkeit dar, dass jeder Deutsche, der sich mit Goethe verwandt fühlt, unwillkürlich dazu neigt, ihn zu zitieren, weil er sich dadurch bestätigt fühlt. Der gleiche Umstand erklärt die besondere Stellung Paul Valérys im Nach-Weltkriegs-Frankreich. Dieser ist kein origineller Geist, wohl aber ein vollkommener Abschluss.
Insofern ich persönlich von Jugend auf keinerlei Neigung zum Erziehen und sogar keinerlei sachliches Interesse für Erziehungsfragen spürte und trotzdem geistig steigernden Einfluss ausüben wollte, wusste ich früh schon, so wenig klar mir damals war, was dieses Wissen bedeutete, dass es eine andere Art des Wirkens von Geist auf Geist gibt, als die im weitesten Wortverstande bildende. Die erste mir einleuchtende Deutung ihrer war die meines ersten großen Gönners Houston Stewart Chamberlain, welcher im Anregen
einen höheren Wert sah als im Ausführen. Mich freute, in der Tat, von jeher allein, lebendige Impulse auszuteilen, deren Verarbeitung ich grundsätzlich denen überließ, welche sie empfingen, und jede Rückfrage, jede Bitte um Aufklärung bei mir empfand ich als beinahe taktlos, jedenfalls aber als Zeichen des Unverständnisses für das, was ich eigentlich meinte. Als ich dann später von der Tribüne der Schule der Weisheit her zu wirken begann, da merkte ich freilich bald, dass mein Impulse-Austeilen ein ganz anderes bedeutete als Anregen; ich merkte, dass es sich um richtiges Zeugen handelte, schon daran, dass ich von kaum einem, welcher mir viel verdankte, zitiert wurde, und dies zwar ohne dass Plagiat-Absicht vorlag: pater nunquam certus est. Wer wirklich befruchtet worden ist — nicht bloß einen Geistesinhalt aufgenommen und verdaut hat — und daraufhin Neues gebiert, kann gar keine unmittelbare Erinnerung dessen haben, was das Wachstum in ihm auslöste, denn behalten
im Gedächtnis-Verstande hat er ja nichts davon. Aber erst am genauen Gegenbilde meiner Geistesart, welches mir das erziehungswütige Amerika entgegenhielt, wurde ich mir über den Unterschied zwischen geistigem Zeugen und geistigem Austragen, Gebären und Bilden ganz klar. Denn dort fehlte jedes Verständnis für zeugerische Wirkung überhaupt. Die Allertörichtesten dort forderten, dabei nicht ohne Verstandesschärfe, welche ja oft auch notorische Irre auszeichnet, restlos klare Bestimmung dessen, was ich meinte, und diese Bestimmung behielten
sie dann, oder auch nicht; die bloße Möglichkeit schöpferischen Fortwirkens des von mir Ausgehenden in ihren eigenen Seelen sahen die Klügsten nicht ein. Alle wähnten, dass mit der Klärung eines Problems durch erschöpfende intellektuelle Auseinandersetzung alles getan sei, lebendig ergreifen ließen sie sich überhaupt nicht, jedes Gespräch, das keinem Boxmatch glich, kam auf ein Interview heraus, d. h. meine Zuhörer dachten nur an Aufnahme auf der Platte des erinnernden Verstandes zwecks späterer Wiedergabe, so dass ich öfters der Verzweiflung nahe war und schließlich meinem Amerika-Buch, damit dieses drüben nicht alle Wirkung verfehle, eine Betrachtung über die einzig förderliche Art der Diskussion
vorausschickte; in dieser unternahm ich zu zeigen, dass Diskutieren dann allein Sinn hat, wenn die Gegenredner sich wechselseitig wie Mann und Weib zueinander verhalten in der bewussten Absicht, einander nicht zu besiegen, sondern beide zusammen ein Neues in die Welt zu setzen, zu dem sich beide bekennen können. — Dieses selbe Land nun, das mich so wenig zu verstehen vermochte, ist das Erziehungs-beflissenste der Welt. Es ist zugleich das Land einseitigst weiblichen Geistes, von welchem ich in der Geschichte weiß. Es ist endlich, so groß es in Organisation und Exekutive sei, das unschöpferische Land par excellence. Dank dem allen gelangte ich drüben zur (soweit meine Fähigkeiten zulangen) endgültigen Klarheit über das gegenseitige Verhältnis von männlichen und weiblichen Geistern und damit von Inspiration und Erziehung.
Erziehen kann man nur bereits Geborenes; Erziehung gilt der Entfaltung und Ausbildung von schon Vorhandenem. Deswegen trieb ebenso elementarer Instinkt, wie derjenige zum Gebären, die Frauen von jeher zum Erziehen an. Darum hatten alle geborenen Erzieher unter anderen weibliche Züge. Eben daher die Vorliebe für Wiederholung und Routine jedes Erziehertyps. Es ist psychologisch ohne solche Vorliebe ausgeschlossen, und sei das Interesse für das Einzige jedes Falles noch so groß, an dem unvermeidlich Routinemäßigen und Wiederholungshaften aller Erzieherarbeit Freude zu finden. Das Routinemäßige ist nämlich das Wesentliche an jeder Erziehung. Repetitio est mater studiorum. Genau so, wie das Herz routinemäßig arbeitet, so ist alles Leben als Natur- sowohl wie als Kulturform zunächst ein typischer Prozess. Und insofern Erziehung beim Menschen das herbeizuführen oder wenigstens zu vollenden hat, was die Natur beim Tiere leistet, ist jede Erziehung, welche nicht auf das nicht-Einzige den Hauptnachdruck legt, ein Unding. Diese einfachen Erwägungen genügen, wie mich bedünkt, zur Erklärung des regelmäßigen Versagens jeder allzu individuellen Erziehung und zugleich des Umstands, warum gerade eine Erziehung, welche grundsätzlich nur das Typische beachtet, ohne jedoch das Einzige an der Entfaltung zu hindern, die meisten und besten Persönlichkeiten entstehen lässt. Sie begründen zugleich die Notwendigkeit der Erziehung. Auf irgendeine Weise muss jedes besondere junge Leben dem Rhythmus des allgemeinen Lebens eingegliedert werden, und dazu ist eben die Erziehung da.
Betrachten wir die Frage jetzt von einer anderen Seite. Es ist männiglich bekannt, dass kaum ein origineller Geist seinerzeit ein Musterschüler war. Es ist bekannt, dass das Routinemäßige der Erziehung vorhandene schöpferische Kraft oft bricht. Daraus folgern Erziehungsreformer, die Schule, wie sie ist, sei vom übel; sie müsse dahin gelangen, gerade das Schöpferische zu pflegen. Aber jeder Versuch solcher Art endete bisher katastrophal. Handelte es sich um kleine Kinder, deren Genialität erhalten werden sollte, so liegt die Ursache auf der Hand. Jedes Kind darf bis etwa zum siebenten Jahr genial geheißen werden. Dann setzt eine Involutionsperiode ein, die Originalität verliert sich, das Generelle, d. h. Routinemäßige, tritt in den Vordergrund. Wer diesen Prozess aufhalten oder durchkreuzen will, verübt darum geradezu ein Verbrechen am keimenden Leben. Denn da es sich um einen natürlichen Rhythmus handelt, so wird das künstlich genial
erhaltene Kind, wenn es erwächst, in irgendeinem Sinne impotent. Umgekehrt ist gerade diese Periode natürlicher Unoriginalität dazu geeignet, das Kind mit einem Minimum von Gefahr für seine Ursprünglichkeit dem allgemeinen Rhythmus des Lebens einzugliedern. Darum hat hier die traditionelle Schule gegenüber allen Reformbestrebungen recht. Ja, sie hat mehr recht, als sie es selber weiß. Nur in dieser Zeit, der von jeher als solcher vorgesehenen Schulzeit, kann das Typische gelernt und mit dem Individuellen harmonisiert werden. Und da aller spätere Erfolg im Leben in allen Fällen, außer der ganz außerordentlicher Individualität, von dem Einklang mit der Gesellschaft abhängt, so ist es einfach grausam, einem Kinde die Erziehung zu solchem Einklang vorzuenthalten, denn hier vermag, aus elementar-physiologischen Gründen, spätere Selbsterziehung Versäumtes schwer, wenn überhaupt, nachzuholen. Insofern sie dies verkennen, kann Schulreformern nur ein Wehe, wehe! zugerufen werden.