Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Eltern und Kinder
Nähe und Distanz
Die Betrachtungen dieses Buches gehen allesamt von der Abgeschiedenheit als letzter Instanz aus. Da jedoch zum Abgeschiedensten eine Gemeinsamkeit hinzugehört, in welche er, je abgeschiedener er ist, desto mächtiger ausstrahlt, so musste in einigen von ihnen auch das wenigstens berührt werden, was dem Allgemeinbegriff der Polarisation untersteht. Gleich wie nun das gegenseitige Verhältnis von Inspiration und Erziehung zur spezifischen Problematik der Abgeschiedenheit in Hinsicht auf die Gemeinsamkeit gehört, so tut es auch das Verhältnis von Eltern und Kindern, denn jeder erwächst und altert einerseits, bleibt andererseits, solange er lebendig ist, zeitlebens Kind, und darum wirkt diese besondere Polarität in irgendeiner Form von der Geburt an bis zum Tode fort. Ja sie wirkt über den Tod hinaus, denn verstorbene Eltern üben nicht selten einen weit größeren Einfluss aus als lebende. Man gedenke endlich des ewigen Kindes
im Menschen, mit dessen Idee sich der erste Teil unserer Betrachtung über Selbstverwirklichung befasste. Dagegen brauche ich das Problem der Ehe, so entscheidend wichtig es ist, an dieser Stelle gar nicht zu berühren. Nicht allein, weil ich dieses besonders oft schon getan habe — was Bücher betrifft, im Buch vom persönlichen Leben
, in La Vie Intime
und im Ehe-Buch
, überdies aber in vielen Aufsätzen in mehreren Sprachen —, sondern weil die sonderliche und einzigartige Beziehung, welche die Ehe verkörpert, das Abgeschiedene im Menschen überhaupt nicht in Mitleidenschaft zieht. Tut sie es doch, dann ist der Betreffende kein Ehekünstler, sondern ein Ehepfuscher, und er verdirbt daran. Diese eine Richtigstellung der Bezeichnungen
erledigt, nebenbei bemerkt, die Idee der Notwendigkeit oder auch nur Erwünschtheit des Zölibats für den geistig-geistlich Strebenden.
Dagegen gehört, wie gesagt, eine kurze Betrachtung über das rechte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in den Zusammenhang dieses Breviers notwendig hinein. Und die hat bei Folgendem anzuheben. Ganz allgemein gelangt der Mensch über die Herausstellung zu sich selbst, also auf einem Umwege. Erst projiziert er das innerlich Wirkende, ihm selber jedoch Unbewusste hinaus, draußen erst wird er seiner gewahr; dann zieht er die Projektion wieder in sich zurück. Daher — wohlgemerkt: vom rein psychologischen Gesichtspunkt, den ich in diesen letzten Sätzen einnehme — die Notwendigkeit und Förderlichkeit der Götter und Ideale und Bilder überhaupt; daher der Umweg über das Werk, welchen die meisten machen müssen, um sich selbst zu finden. Beim Kinde nun liegen die Dinge so, dass die bestimmenden Zentren seines geistigseelischen Wesens nicht von innen nach außen projiziert werden, sondern ursprünglich außer ihm liegen. Dass dies beim Kind im Mutterleibe, und hier sogar auf der Ebene des Körperlichen, der Fall ist, und lange nachher im Sinn der Betreuungs- und Führungsbedürftigkeit, liegt auf der Hand. Aber das gleiche ist in dem schwerer verständlichen Sinn der Fall, dass Vater und Mutter für das Kind recht eigentlich das sind, was später persönliche Geist- und Seelenfunktionen leisten. Die kindliche Individualität ist aus dem Zusammenhange mit den Eltern ohne gewaltsame Abstraktion überhaupt nicht loszulösen. Es lebt nicht aus dem Ich, sondern einem letztbestimmenden, freilich sehr engen, auf seinen allernächsten Kreis beschränkten Ur-Wir heraus. Hierauf beruht die ausschlaggebende Bedeutung der frühesten Kindheitserlebnisse, hierauf die Gefahr den Sinn entstellender oder zerstörender Elterneindrücke: was äußeres Erleben zu sein scheint, bedeutet in Wahrheit einen Prozess im eigenen Innern des Kindes.
Nun stellt sich die Frage: wenn dem also ist, wie sollen sich Vater und Mutter grundsätzlich zum Kinde verhalten? Die Antwort kann nur folgendermaßen lauten: die Mutter hat das Prinzip der Intimität, der Vater dasjenige der Distanz zu verkörpern. Diese Grundsätze gelten unbedingt. Alles andere, was man sagen kann, bedeutet demgegenüber Zutat.
Über die Aufgabe der Mutter brauche ich kaum etwas zu sagen, denn deren Sinn liegt auf der Hand. Dagegen bedarf die den Vater betreffende These eingehender Erläuterung, denn neuerdings heißt es ja gerade, die autoritäre Einstellung des Vaters hätte sich ad absurdum geführt. Das hat sie allerdings. Nicht jedoch weil ihr Sinn falsch wäre — sie hat sich ja durch Jahrtausende bewährt —, sondern weil die traditionelle Verkörperung dieses Sinnes den heutigen psychologischen Verhältnissen nicht mehr entspricht. Dass die Dinge so und nicht anders liegen, beweist das Gegenbeispiel derer, welche ihr Vaterschaftsverhältnis in Funktion der Intimität verstehen. Es gibt Analytiker, die ihre Kinder von Hause aus analysieren und sich, umgekehrt, nahezu von Hause aus von ihnen analysieren lassen: der Erfolg ist der, dass diese, erwachsend, auf beispiellose Weise haltlos werden, ohne jede Distanz irgendwem oder irgend etwas gegenüber, ohne Fähigkeit zur Eigenführung und ihrerseits nur als Fortsetzer des Berufes ihrer Eltern, d. h. als mögliche Psychoanalytiker nicht zukunftslos. Ein anderes Beispiel bietet die alte österreichische Aristokratie, innerhalb derer die meines Wissens glücklichsten
Familienverhältnisse herrschten, insofern die geringsten Spannungen bestanden. Das ging hauptsächlich darauf zurück, dass die Väter nahezu wie Mütter zu ihren Kindern standen. Die Ergebnisse dieser Erziehung zeigten nun in der Regel mehr Frauen- als Männertugenden; selten waren sie fähig, ihr Schicksal initiatorisch zu gestalten. Daher vor allem die merkwürdig geringe Anzahl durch Leistung bekannt gewordener großer Namen aus diesen Kreisen im Verhältnis zur Begabung, denn wohlgemerkt, der österreichische Aristokrat der Artung, welche ich meine, war durchaus nicht typischerweise unbegabt, er war vielmehr feinsinnig und oft sehr talentiert, aber es gebrach ihm an Initiative und Mark. In etwas anderer Richtung beweist die Richtigkeit unserer These die neuerdings modern gewordene Kameradschaftsvaterschaft
, welchen Begriff ich dem der Kameradschaftsehe nachbilde. Die natürliche Neigung jedes Massenzeitgeists, mit möglichst wenigen und einfachen Begriffen auszukommen, hat es dahin gebracht, dass nahezu alle Gefühle auf den Generalnenner der Kameradschaftlichkeit zurückbezogen werden, wenn nicht als Ursprung, dann als Ideal. Dass dies nicht angeht, liegt so sehr auf der Hand, dass ich dies meinem Leserkreis überhaupt nicht erst auseinanderzusetzen brauche; es gibt überhaupt keinen Generalnenner für Gefühle, jedes ist einzig in seiner Art, und wird die Eigenheit irgendeines unter ihnen nicht anerkannt, so führt dies zu Verdürftigung und Verderbnis. Darum allein schon hat sich die Kameradschaftsehe als unbedingtes Fiasko erwiesen. Im Falle der Kameradschaftsvaterschaft aber scheint das Entsprechende sehr vielen noch gar nicht klargeworden zu sein; wahrscheinlich wegen des herrschenden Vorurteils zugunsten des Jugendzustands als solchen und wegen der relativen Leichtigkeit, wenigstens Kameradschaftlichkeit zu beweisen, wenn andere Bindungen fehlen. Nichtsdestoweniger wirkt der als Kamerad angesehene Vater noch verbildender auf die Seele des Jugendlichen, wie der als Kamerad aufgefasste Ehepartner auf beide wirkt, und gleiches gilt in der Umkehrung. So oft ich die Entwicklung von Vätern und Kindern, deren Beziehung auf Kameradschaft beruhte, verfolgen konnte, hat sich regelmäßig das Folgende herausgestellt. In den Söhnen — ich rede in dieser Betrachtung, obgleich ich es nicht ausdrücklich sage, hauptsächlich von Söhnen, meine aber auch die Töchter, so oft diese Übertragung möglich ist — blieb das Gefühl der Ehrfurcht unentwickelt, nach Goethe sowohl als nach Konfuzius die unentbehrliche Grundlage alles Höherstrebens und alles Mehrwerdens, in den Vätern aber das Verantwortungsbewusstsein, welches den Jungen allererst zum Manne macht. Darum vor allem redet man in angelsächsischen Ländern, wo das betrachtete Missverständnis und -verhältnis schon am längsten waltet, von reifen Männern und Frauen als boys und girls — die Männer sind keine richtigen Männer, was immer von den Frauen gälte. Darum suchen die Reifen und Greisen eine nun einmal vergangene Jugend krampfhaft künstlich festzuhalten. Darum fehlt es den meisten Männern, welche diese Erziehung genossen — ich meine hier die Erziehung durch die Kinder, die wichtigste von allen — so sehr an spezifischem Gewicht, von dem zu schweigen, was die alten Römer unter gravitas verstanden. Sie sind überalterte Jungen geblieben. Und aus den Söhnen, welche Beispiele echter und gewichtiger Männlichkeit nie gesehen haben, werden so leicht keine starken, d. h. innerlich unabhängigen und letzte Verantwortung übernehmenden und zu tragen fähigen Männer erwachsen.
Hängt nun solche Entartung — denn das ist sie — tatsächlich mit sinnwidriger Erziehung zusammen? Gewiss nicht ausschließlich, wohl aber in so hohem Grad, dass wir im hier betrachteten Zusammenhang ohne Gewaltsamkeit von den anderen bestimmenden Ursachen absehen können. Untersuchen wir zunächst genauer den Einfluss falsch eingestellter Eltern auf ihre Kinder. Hier liegen die Dinge grundsätzlich folgendermaßen. Die Prinzipien der Intimität und der Distanz, welche alles psychische Geschehen regieren, haben den Eigen-Sinn, dass auf ersterem die organische Kohäsion beruht, und auf letzterem die Spannung, dank welcher kinetische Energie und im Fall von deren Zurückhaltung und Ballung Spannkraft und Tragfähigkeit der Seele entstehen. Ohne Spannung nicht allein keine Produktivität, sondern auch keine Beherrschung des allgemeinen Gefüges von einem bestimmenden Zentrum her. Der Mensch ist genau insoweit geistbestimmter Mann im Gegensatz zur naturhaften Frau, als in seiner Psyche die demokratische Republik der Kohäsion einer Hierarchie regierender Geisteskräfte unterworfen ist. Er ist weiter genau insoweit Mensch im Unterschied vom Tier: Mann und Weib verkörpern in diesem Zusammenhange nicht polare Gegensätze, sondern die Verhältnisse liegen hier so, dass das, was ursprünglich als männlicher Geschlechtscharakter auftritt, sich im Verfolg der Entwicklung zum geistigen Prinzipe überhaupt sublimiert, weshalb es durchaus in der Ordnung ist, dass die sich entwickelnde Frau sich in dieser einen Hinsicht vermännlicht.