Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Eltern und Kinder
Die Rolle des Vaters
Von hier aus nun ermessen wir ohne weitere Erörterung, welche Rolle dem Vater in der Erziehung zukommt. Beim Kinde haben das eigene männliche und das eigene weibliche Prinzip ihre Bezugszentren außerhalb, in den Personen von Vater und Mutter. Soviel Distanz der Vater dem Kinde gegenüber zu halten weiß, soviel Überlegenheit gegenüber der Triebnatur entwickelt sich von selbst in diesem und gleichzeitig soviel Sinn für entsprechende Überlegenheit in anderen. In Korrelation dazu entwickelt sich das Wertgefühl. Andererseits erfordert die Distanziertheit des Vaters polar entsprechende Intimität von seiten der Mutter, sie fordert Liebe ihrerseits unabhängig vom Wert, ein ineinander Aufgehen, für einander Leben und mit einander Teilen unabhängig von allen geistgeborenen Erwägungen, denn die Mutter verkörpert im Sinnbild die eigene Kohäsion. Dies erklärt, warum Enttäuschung an der Mutter beinahe ausnahmslos allerernsteste innere Verbildungen nach sich zieht, weit schlimmere als das schwerste Vatererlebnis. Doch über die Bedeutung der Mutter, deren Rolle eigentlich niemand missversteht, will ich mich hier, noch einmal, nicht ausbreiten. Bleiben wir beim Vater. Wir sahen an den Beispielen des Analytikers und des österreichischen Aristokraten, wie verderblich die Folgen dessen sind, dass der Vater gleichsam Mutterstelle übernimmt. Umgekehrt haben die stärksten Männer der Geschichte typischerweise Zeiten angehört, wo der Vater wesentlich autoritär war, sind nahezu alle bedeutenden Männer aller Zeiten Familien entsprossen, in denen nicht österreichische Harmonie herrschte, sondern ein starkes Spannungsverhältnis in irgendeiner Form: sei es, dass der Vater hart war (Friedrich Wilhelm I. gegenüber dem späteren großen Friedrich) oder die Mutter das männliche Prinzip verkörperte (Laetitia gegenüber Napoleon I.) oder ein gespanntes Verhältnis zwischen den Eltern der Kinderseele eine entsprechende Spannung induzierte. Demgegenüber liegt freilich der Einwand nahe, dass unglückliche Familienverhältnisse noch häufiger pathologische Zustände zeitigen. Freilich rede ich jenen keineswegs das Wort; wirken sie auf große Begabungen in der Regel fruchtbar, so sind sie im Falle gewöhnlicher Kinder ebenso regelmäßig kontraindiziert. Ich führte den Extremfall der großen Begabung nur als extremes Beispiel an. Im Falle dieser bedeuten unglückliche Verhältnisse nämlich das gleiche, wie im Normalfall das Vorhandensein normaler Spannung.
Was nun unter dieser zu verstehen sei, machen die Beispiele Englands und Chinas vielleicht am schnellsten deutlich. Im modernen England, solange es auf der Höhe war, trat das patriarchalische Autoritätsprinzip kaum je in Erscheinung. Dort wurde der eigene Wille des Kindes und Jugendlichen selbstverständlich gelten gelassen im Rahmen der Sitte. Da diese jedoch Höflichkeit, Zurückhaltung, Selbstbeherrschung und Rücksichtnahme forderte, so hatte die tatsächliche Übermacht des Vaters vom Standpunkt des Kindes zur unwillkürlichen Folge, dass die Reserve des Vaters eine dem Sinne nach gleiche Wirkung erzielte, wie die Behauptung der Autorität, nur mit dem Vorzug, dass sich der Junge von Hause aus nicht gebunden fühlte, sondern frei. In sehr frühen Jahren wurde damit dort die Zurückhaltung und Selbstbeherrschung zur zweiten Natur, und dank dem vor allem, weit mehr als dank politischer Begabung, hat eine winzige Schicht Engländer das größte Imperium der bisherigen Geschichte so lange beherrschen können. — Im alten China fühlte sich der Sohn erst frei, nachdem sein Vater tot war; daher vor allem wohl die bisher bewiesene geringe Initiative des chinesischen Volkes. Aber andererseits hatte das patriarchalische Verhältnis auch dort keine der üblen Folgen, die der Westen aufwies (weshalb hier schließlich eine richtige Revolution der Jugend ausbrach), weil der chinesische Vater seine unbedingte Autorität im Rahmen einer sittegeforderten außerordentlichen Kindesliebe ausübte, welche mögliche Gegenbewegungen im Keim erstickte. Das Kind will ja ursprünglich gehorchen. Den typischen Widerständen, welche der Lernzwang wachruft, wurde aber in bezug auf den Vater dadurch weise vorgebeugt, dass dieser grundsätzlich nicht selber seinen Sohn unterrichtete, sondern ihn zu diesem Zwecke einem Freunde übergab. Immerhin hat keine Kindesliebe den Vater je im alten China verhindert, das im Kinde zu schaffen, worin seine eigentliche Aufgabe liegt: Selbstbeherrschung und Distanz gegenüber der eigenen Natur.
Wenden wir uns jetzt dem modernen revolutionierten Westen zu. (Bei der Revolution der Jugend an sich brauchen wir uns überhaupt nicht aufzuhalten: dergleichen ist immer kurzlebig, schon weil die Revolutionäre von gestern typischerweise in irgendeinem Verstand als Konservative enden.) Welche Haltung muss der moderne Vater einnehmen, um in der Seele des Kindes das einzuleiten, was seine Rolle eines Sinnbildes verlangt? Ich weiß keine bessere Antwort als die folgende: seine ursprüngliche Einstellung zum Kinde muss der zu einem étranger de distinction gleichen. Was der heute bewusst individualisierte junge keinesfalls verträgt, ist die Elternauffassung, dass die Kinder den Eltern gleichen und ihnen gehören. Diese ist ja jetzt als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen. Man vererbt nie sich selbst, sondern als unpersönliche und selbständige Elemente durch ungezählte Generationen fortlebende Gene, und diese zwar als Träger ganz bestimmter Eigenschaften. Vermittels dieses Überkommenen drücken sich eine jedesmal einzige, aus anderer Region stammende rein persönliche Seele und ein überpersönlicher Geist aus, gleich wie ein neuer Gedanke mittels des alten Alphabetes. Die Ähnlichkeit mit den Eltern beruht allemal nur auf Einzelheiten und Sondereigenschaften; dass Vater und Mutter als solche in den Kindern fortlebten, ist reiner Aberglaube. Diesen Aberglauben teilt heute nun, ob er um die Vererbungsgesetze weiß oder nicht, kein Junger mehr; und dass viele Eltern an ihm noch festhalten, ist die tiefste Ursache der extremen Oppositionsstellung der Jugend, wo solche festzustellen ist. Deswegen ist es heute unbedingt erforderlich, dass die Eltern in den Kindern grundsätzlich und von Hause aus völlig selbständige Wesen sehen; und dazu wählte ich die extreme Formel étranger de distinction aus der Zeit größter europäischer Höflichkeitskultur, weil in Anbetracht der ererbten Vorstellung der Identität der Kinder mit den Eltern nur extreme Akzentlegung auf die Einzigartigkeit die Eltern dazu bringen kann, sich zu ihren Kindern richtig zu verhalten. In diesem Zusammenhange habe ich vielen den Rat erteilt, zumal ihre Söhne nie nach
jemand zu taufen. Der Name bedeutet Kindern ungeheuer viel, kaum weniger als Primitiven. Werden sie nach einem Verwandten benannt, welcher sehr hoch über ihnen steht, so bedrückt sie das, unter allen Umständen aber biegt es sie von ihrer persönlichen Lebenslinie ab, denn in ihrem Unbewussten entstehen auf Grund der Namensgleichheit allein Versuche des Vergleichens und der Nachahmung, welche nur im Falle wirklicher Gleichheit der Anlagen der Selbstverwirklichung dienlich sind. Versucht ein Junger sich auf einer von einem bedeutenden Vorfahren verfolgten Bahn, welche ihm nicht gemäß ist, so entstehen dadurch leicht verderbliche Minderwertigkeitskomplexe. Es hat einen tiefen Sinn, dass im Heldenzeitalter alle Träger eines Namens einmalig waren. Es hat nur einen Agamemnon, Achilleus, Siegfried usw. gegeben.
Wie ist nun unter den neuen Umständen der ewig sinngemäße Einfluss der Eltern auf die Kinder auszuüben? Die Rolle der Mutter verlangt kaum eine Neuverkörperung, sie hat bloß mehr bewussten Nachdruck auf die Einzigartigkeit der Kinder zu legen als bisher. Der Vater hingegen hat sich allerdings wesentlich umzustellen. Der moderne Vater soll dem Sinne nach, ähnlich wie im nun mehr untergegangenen alten England und im alten China, doch in der Erscheinung natürlich zeitgemäß-anders, gerade jetzt mehr denn je seine erzieherische Aufgabe in der Distanzeinhaltung sehen, denn der emanzipierte Junge läuft mehr als irgendein traditionell Gebundener Gefahr, das Element der Distanz in der eigenen Seele unausgebildet zu lassen. Der Vater soll streng jede Eigenart respektieren, unter keinen Umständen darf er den Willen zu brechen trachten. Desto unbedingter aber sollte er die Distanz wahren und durch Niederlegung unüberschreitbarer Grenzen, welche als Sitten zu Fleisch werden können, die Selbstbeherrschung dem Kinde selbstverständlich werden lassen. Dabei sollte er besonders streng vermeiden, durch Alles-Erklären und -Begründen den Fatumcharakter der Distanz zu schwächen. Die menschliche Freiheit ist nun einmal ein winziges Rädchen im Uhrwerk der Welt; auch der Freieste hat neunzig Prozent des Geschehens als Schicksal hinzunehmen. Aber andererseits kann nur der Autonome, der innerlich Souveräne das Schicksal meistern. Souveränität-schaffend nun wirkt allein das Beispiel eines, von dem sich die allemal einmalige Persönlichkeit in ihrer Einzigkeit bejaht fühlt. Ein solches Beispiel kann freilich auch ein anderer als der Vater verkörpern. Aber beim Vater allein ist die dazu erforderliche polare Spannung in der Natur vorgebildet. Jeder nicht revolutionäre Sohn sieht sich ursprünglich und unwillkürlich als Vertreter des Göttertums und der Schicksalsüberlegenheit seines Vaters in der Folgezeit. Und zwar tut er dies normalerweise im Geist des pietätvollen Thronfolgers, nicht in dem des sogenannten Ödipuskomplexes (selten gab es eine ungegenständlichere Theorie als die, welche eine Beziehung des Neides und des Tötenwollens zwischen Sohn und Vater als ursprüngliche und normale setzte!). Schon darum allein ist es Aufgabe des Vaters, auch gerade den Schicksalscharakter seiner Überlegenheit unabgeschwächt zur Geltung zu bringen. Gerade indem er ihm die Übermacht des Unabänderlichen entgegenhält, evoziert er im Sohne den Drang, Unmögliches möglich zu machen. Und so allein verhilft er ihm überhaupt, soweit solche Hilfe möglich ist, zur vollkommen richtigen Einstellung im Kosmos und damit zur wahren Freiheit.
Analytiker haben neuerdings festgestellt, dass der Vater im Unbewussten der Jungen auch nicht annähernd mehr die gleiche Rolle spielt wie ehedem; die ihm zukommende Rolle spiele jetzt immer häufiger der Führer oder der Held. Das geht meiner Überzeugung nach nur zu einem sehr geringen Teil auf die neue Organisation der Gemeinschaft auf der Grundlage des Führerprinzips zurück und hängt auch nur oberflächlich mit der Veröffentlichung und Vergemeinschaftung des Lebens und der gesteigerten Bedeutung von Verbänden und Körperschaften gegenüber der Familie zusammen. So lange ist es zur Zeit, da ich dieses schreibe, noch nicht her, dass diese Veränderungen eintraten, dass sie das Unbewusste dermaßen tiefgreifend hätten verändern können. Meiner Ansicht nach hat die erfolgte Veränderung zwei Hauptursachen: erstens die lange schon begonnene und unmerklich sehr weit vorgeschrittene Verselbständigung des Individuums, die eben darum das freierwählte Vorbild des durch Verdienst zu seiner Stellung aufgerückten Führers leichter anerkennt als angeborene Autorität, zweitens und vor allem aber die geschilderte Entartung des seine Rolle verkennenden, entweder die eines nicht mehr akzeptablen Patriarchen spielenden oder aber sich selber zum nur gleichberechtigten Kameraden degradierenden Vaters. Man vergesse nicht: der Vater versinnbildlicht dem Sohne vorzüglich das beherrschende Selbst und damit die persönliche Autorität. Wird dieses Sinnbild zerstört, dann nimmt die Seele unermeßlichen Schaden. Dies erklärt, warum die Sohnesliebe unter Distanzhaltung des Vaters so gut wie nie gelitten hat. Das Kind will im Vater den allmächtigen Gott
verehren, denn durch Polarisierung mit diesem allein wird er selber auf die Dauer selbstbeherrscht. Darum liebt das Kind den allzu intimen Vater nicht mehr als den gestrengen — instinktiv verachtet es ihn. Kein Kind mag es wirklich, wenn der Vater die Funktion der Mutter ausübt. Der Autoritätsverlust der heutigen Väter beruht darum zu einem nicht geringen Teil darauf, dass die Söhne ihnen ihren Distanzmangel während der entscheidenden Wachstumsjahre nachtragen. Kein Wunder: was damals versäumt wurde, ist organisch schwer, wenn je mehr einzuholen. Söhne, die ihre Väter liebten, waren zu den Zeiten am häufigsten, wo sich die Frage der Kameradschaft beider und einer Beziehung von gleich zu gleich nicht stellte. Umgekehrt ist Sohnesliebe dort am seltensten, wo Väter sich revolutionären Söhnen anzupassen trachten. Denn Sohnesliebe besteht der Natur der Dinge nach zum allergrößten Teile als Verehrung, und kann nur so bestehen. Und kein Bedürfnis wurzelt im entwicklungsfähigen jungen Menschen tiefer als das Verehrungsbedürfnis. Dies ist so sehr der Fall, da es ehrfurchtslose Jugend innerhalb der ganzen Geschichte nur in Zwischen- und Wendezeiten gegeben hat, welche im besten Falle Wachstumskrisen im individuellen Organismus entsprechen und jedenfalls ein Pathologisches bedeuten. Es ist absolut nicht wahr, dass die Ehrfurcht vor dem Alter der Jugend künstlich aufgezwungen sei. Im Gegenteil: eher kann man behaupten, dass die Ehrfurchtslosigkeit ein künstliches Produkt sei, bewirkt durch den Verlust an innerer Sicherheit der Eltern. Je naturnäher ein Zustand, desto unwillkürlicher und selbstverständlicher sehen die Kinder in Ehrerbietung zu den Eltern auf.